War das Wilhelminische Kaiserreich ein demokratischer Rechtsstaat?

@ Michaell

Alles richtig, was du schreibst, aber war das damals nicht in allen Großmächten in etwa so? Waren nicht alle damals "militaristisch", "nationalistisch" und "imperialistisch"? Kann man Deutschland da negativ herausheben? Das war meine Frage.
 
Allerdings formierte sich auch auf der Rechten ein Milieu politisch neu. Schon mit dem Alldeutschen Verband hatte es vor 1914 eine quasi präfaschistische Organisation gegeben. Dessen Vorsitzender Heinrich Claß hatte 1912 mit seinem unter dem Pseudonym 'Daniel Frymann' veröffentlichten Buch "Wenn ich der Kaiser wär'" eine Kampfschrift vorgelegt, die ein reaktionär-autoritäres Programm gegen Juden und Sozialdemokraten formulierte.

Nicht nur das, er plädiert darin auch für Landerwerb durch Krieg; und schlägt als "Lösung" für die Frage, was mit der bisherigen Bevölkerung denn geschehen solle, "Evakuierung" vor, also "ethnische Säuberung".
 
Aber zurück zum eigentlichen Threadthema. ich finde Frank-Lothar Krolls Buch Geburt der Moderne, Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg spannend. Vielleicht idyllisiert er das kaiserreich etwas zu stark, aber seine Grundthese - offene Gesellschaft, Entwicklungspotenzial war vorhanden - sehe ich auch so. gerade deswegen ist das selbstverschuldete Scheitern ja so wenig nachvollziehbar.
 
Der Rüstungsetat des Deutschen Reichs verdoppelte sich von 1900 bis 1914 auf mehr als 2,4 Milliarden Reichsmark. Die Verflechtung von Militär und Schwerindustrie- allein Krupp beschäftigte Hunderte von ehemaligen Militärs als Lobbyisten.
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Entschuldigt bitte das meine Frage jetzt OT ist.
Wie hat sich die Geldmenge/Inflation in der Zeit entwickelt? Und wie sah es in Frankreich und im Vereinigten Königreich aus mit der Geldmenge in der Zeit und dem Rüstungsetat?

Apvar
 
Entschuldigt bitte das meine Frage jetzt OT ist.
Wie hat sich die Geldmenge/Inflation in der Zeit entwickelt? Und wie sah es in Frankreich und im Vereinigten Königreich aus mit der Geldmenge in der Zeit und dem Rüstungsetat?

Apvar

Auf die Schnelle konnte ich keine Unterlagen zur Geldmenge/Inflation im Kaiserreich finden. Jedoch war die Geldmenge goldgedeckt. Die Inflationsrate hat sich vermutlich in engen Grenzen geraten. Ansonsten müßte man die statistischen Jahrbücher des Kaiserreiches prüfen.
 
Der Hauptmann von Köpenick führte 1906 vor, wie einfach es war, einen Bürgermeister ohne Legitimation zu verhaften.

Das hatte aber nichts mit dem Rechtsstaat zu tun. Wenn Du Dir heute eine ausrangierte Polizeiuniform kaufst, vielleicht noch eine Dienstmarke fälscht und mit einem entsprechend sicheren und professionellen Auftreten andere Bürger "festnimmt", würde das in sehr vielen Fällen wahrscheinlich auch ziemlich widerstandslos gelingen.

Entscheidend für den Rechtsstaat ist doch, daß die ganze Sache sich eben sehr schnell aufgeklärt hat, daß niemand ohne ordentlichen Gerichtsprozeß verurteilt wurde, daß strikt nach Recht und Gesetz verfahren würde. Der Gewohnheitsverbrecher Vogt wurde anschließend auch nach Recht und Gesetz zu einer Haftstrafe verurteilt.

Das Kaiserreich war eindeutig ein Rechtsstaat.
 
Schon mal den Hintergrund des Schuhmachergesellen Voigt angeguckt?
Vor allem warum er endgültig in die Illegalität abrutschte?
Die Verfahren vorher waren gerechtfertigt, keine Frage. Dann die wiederholten Aufenthaltsverbote, obwohl er eine Stelle als Schuhmacher hatte, wegen seiner Vorstrafen. Er hatte also nach seiner Entlassung 1906, aus dem Knast, wieder Fuss zu fassen.
Die Gerichtsverfahren liefen nach festen Procedere, nur tut sich mir gerade im Fall des Schuhmachers Voigt der Eindruck auf, das sehr stark nach dem Stand des Beschuldigten gehandelt wurde. Und auch nach der Verbüssung der Strafe.

Apvar
 
Anders als im Roman von Zuckmeyer dargestellt hat der Herr Voigt sich nach seiner Aktion in Köpenick nicht selbst bei der Polizei gestellt, sondern wurde nach einem Hinweis aus dem Volk festgenommen. Anders als von Voigt behauptet ging es ihm in Köpenick auch nicht darum einen Paß zu erlangen, sondern um eine reiche Beute in der Stadtkasse.

Das Gericht hat es im anschließenden Prozeß aber auch als strafmildernd für Voigt berücksichtigt, daß er nach seinem letzten Gefängnisaufenthalt auf ehrlichem Wege versucht hatte in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen und sein erneutes Abrutschen in die Kriminalität auch dadurch bedingt war, daß ihm die Polizeibehörden kaum eine Chance zu einem Neuanfang gegeben haben.

Das ist doch gerade ein Beweis dafür, daß das Kaiserreich eben ein Rechtsstaat war, in dem alles seine Ordnung hatte und streng nach Recht und Gesetz verfahren wurde. ;)
 
Wie gesagt, die Wiedereingliederung war das Problem. Er hatte nach der Entlassung schon feste Stellen. Nur die wurden ihm dank Aufenthaltsverbote wieder genommen. Er durfte sich in der Stadt, in der er bisher tätig war nicht mehr sehen lassen, damit war die Arbeitsstelle futsch. Und auch die Möglichkeit wieder ein normales Leben zu führen.

Apvar
 
Wie gesagt, die Wiedereingliederung war das Problem. Er hatte nach der Entlassung schon feste Stellen. Nur die wurden ihm dank Aufenthaltsverbote wieder genommen. Er durfte sich in der Stadt, in der er bisher tätig war nicht mehr sehen lassen, damit war die Arbeitsstelle futsch. Und auch die Möglichkeit wieder ein normales Leben zu führen.

Ja und genau das wurde im Gerichtsprozeß strafmildernd für Voigt berücksichtigt. Deshalb kann ich nicht erkennen, inwiefern der "Fall Voigt" ein Beleg dafür sein sollte, daß das Kaiserreich angeblich kein Rechtsstaat gewesen sei.

Auch verstehe ich nicht, weshalb der "Militarismus" im Kaiserreich immer so negativ beurteilt wird. Das Kaiserreich war mit Abstand der am wenigsten kriegerischen Staat unter den damaligen Großmächten.
 
Ja und genau das wurde im Gerichtsprozeß strafmildernd für Voigt berücksichtigt. Deshalb kann ich nicht erkennen, inwiefern der "Fall Voigt" ein Beleg dafür sein sollte, daß das Kaiserreich angeblich kein Rechtsstaat gewesen sei.

Nominal war das Deutsche Reich ein Rechtsstaat. Nur am Beispiel des 2notorischen" Verbrechers Voigt beginnt das unrecht nach Verbüßung der Haft. Er hat seine Haft verbüßt, eine Stelle bekommen und seine Haft war dem Arbeitgeber bekannt. Nun kommt die Verwaltung daher und sagt einfach: Voigt, dich wollen wir hier nicht mehr sehen. Folge: Wohnung weg, der Ort durfte nicht mehr betreten werden und die Arbeit war weg. Er stand so vor den Scherben seiner Existenz. Und das ist ihm 2-mal passiert. Nach der Haftentlassung 1906.

verstehe ich nicht, weshalb der "Militarismus" im Kaiserreich immer so negativ beurteilt wird. Das Kaiserreich war mit Abstand der am wenigsten kriegerischen Staat unter den damaligen Großmächten.

Alles was Uniform trug war was besseres. Und je höher der Dienstgrad der Uniform, desto mehr konnte er sich erlauben. Oder wie kannst Du Dir gerade beim Hauptmann von Köpenik vorstellen, das ein hast 60-jähriger einfach einen Zug Soldaten übernehmen kann. Und damit einen Überfall auf ein Rathaus durchführen kann? Das Kaiserreich war sozusagen ein Marionettenstaat, der einen Uniformfetisch hatte. Zumindest in der Zeit von Wilhelm II.

Apvar
 
Nominal war das Deutsche Reich ein Rechtsstaat. Nur am Beispiel des 2notorischen" Verbrechers Voigt beginnt das unrecht nach Verbüßung der Haft.

Es war sicher nicht sehr sinnvoll seitens der Behörden, dem Voigt die Aufenthaltserlaubnis zu entziehen, obwohl er beruflich gerade wieder Fuß gefaßt hatte. Die Ausweisung war aber kein Willkürakt des Staates, sondern erfolgte ordnungsgemäß auf der Grundlage der geltenden Gesetze. Man hätte natürlich in diesem Einzelfall mehr Fingerspitzengefühl und Vernunft walten lassen können. Das hat auch das Gericht in Voigts' Strafprozeß so gesehen und ihm strafmildern zugute gehalten.

Alles was Uniform trug war was besseres. Und je höher der Dienstgrad der Uniform, desto mehr konnte er sich erlauben.Oder wie kannst Du Dir gerade beim Hauptmann von Köpenik vorstellen, das ein hast 60-jähriger einfach einen Zug Soldaten übernehmen kann. Und damit einen Überfall auf ein Rathaus durchführen kann? Das Kaiserreich war sozusagen ein Marionettenstaat, der einen Uniformfetisch hatte. Zumindest in der Zeit von Wilhelm II.

Recht und Gesetz waren für alle Bürger gleich, egal ob Offizier oder Stahlarbeiter.

Der tugendhafte Soldat war vielleicht ein Idealbild in der damaligen Gesellschaft. Ein Soldat in Uniform verkörpert gewisse Tugenden, die damals eben hochgeschätzt wurden. Ordnung, Pflichtbewußtsein, Disziplin, Selbstbeherrschung, Tapferkeit, Treue, Dienst am Vaterland.

Was meinst du mit "Marionettenstaat"?
 
Auch verstehe ich nicht, weshalb der "Militarismus" im Kaiserreich immer so negativ beurteilt wird. Das Kaiserreich war mit Abstand der am wenigsten kriegerischen Staat unter den damaligen Großmächten.
Militarismus ist nicht mit einem kriegerischen Staat gleichzusetzen. Militarismus ist eine gesellschaftliche Sichtweise und kann daher auf die Außenpolitik ausstrahlen, aber es gibt keinen Automatismus.

Für die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit ist das Beispiel Voigt ungeeignet, denn das Vorgehen der Behörden ist keine Rechtsfrage. Der Wiedereingliederung von Straftätern nach der Verbüßung der Strafe wurde früher kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Es wurde von der ganzen Gesellschaft erwartet, dass der Straftäter sich wohlverhalten muss und ein Versagen wurde ihm angelastet. Kam es aufgrund der gesellschaftlichen Umstände zu einem Rückfall, so wurde dies zwar strafmindernd gewertet, mehr aber auch nicht. Die Verantwortung der Gesellschaft wurde damals nur teilweise anerkannt.
 
Anders als im Roman von Zuckmeyer dargestellt hat der Herr Voigt sich nach seiner Aktion in Köpenick nicht selbst bei der Polizei gestellt, sondern wurde nach einem Hinweis aus dem Volk festgenommen. Anders als von Voigt behauptet ging es ihm in Köpenick auch nicht darum einen Paß zu erlangen, sondern um eine reiche Beute in der Stadtkasse.

Das Gericht hat es im anschließenden Prozeß aber auch als strafmildernd für Voigt berücksichtigt, daß er nach seinem letzten Gefängnisaufenthalt auf ehrlichem Wege versucht hatte in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen und sein erneutes Abrutschen in die Kriminalität auch dadurch bedingt war, daß ihm die Polizeibehörden kaum eine Chance zu einem Neuanfang gegeben haben.

Das ist doch gerade ein Beweis dafür, daß das Kaiserreich eben ein Rechtsstaat war, in dem alles seine Ordnung hatte und streng nach Recht und Gesetz verfahren wurde. ;)

Der Hauptmann von Köpenick" von Carl Zuckmayer ist kein Roman, sondern ein Drama das der Autor "ein deutsches Märchen" nannte.

Seine Ordnung mag der Justizapparat im wilhelminischen Deutschland gehabt haben, und es wurde auch streng verfahren, vor allem bei denen, die in Opposition zum Kaiserreich standen, vor allem gegen die Sozialdemokratie. Anders ausgedrückt, es wurde Recht und Gesetz instrumentalisiert, um z. B. streikende Arbeiter ins Zuchthaus bringen zu können, auch nach der Aufhebung der Sozialistengesetze.
http://de.wikipedia.org/Wiki/Zuchthausvorlage
 
Erst ein mal zum Militarismus. Was hältst Du von einer Gesellschaft die nur auf Unteroffiziere und Offiziere starrt. Sowohl der Berufssoldaten als auch der Reservisten. Und ein Offizierspatent mehr gilt als eine Meisterausbildung oder Universitäre Ausbildung. Das höchste der Gefühle für viele war dann Sonntags in Uniform in der Stadt auszureiten, wenn ich meiner Großmutter und meinem Großonkel glauben darf.
Und um als einfacher Bürger zu Ansehen zu kommen war der Weg meist über die Marine, da hier Personal benötigt wurde, welches eine technische Ausbildung hatte. Bestes Beispiel währe hier ein Ingenieur, der über die Marine ein Offizierspatent bekommen konnte.
Im Heer, besonders bei der Kavallerie waren die Offiziersstellen meist mit altem Preussischem Militäradel besetzt. Und dieser war zu der Zeit von Wilhelm II wohl mit einigem Standesdünkel behaftet.
Und gerade im Preussischen Landtag sassen auch die alten Militäradligen und hatten hier wegen dem 3. Klassenwahlrecht ein sehr gewichtiges Wort mitzureden. Ach ja, der Reichskanzler war dies in seiner Funktion nur in Teilzeit. Eigentlich war er Preussischer Ministerpräsident. Und der wurde alleine vom Kaiser ernannt und auch entlassen.

Zu Deiner anderen Frage. Marionettenstaat deshalb, weil der letzte Kaiser die Regierung alleine mit seinen Günstlingen besetzt hatte, und sich im Grunde nur vom Militär, insbesondere Tirpitz, wegen seinem Marinefimmel, beraten lies. Und wie eine Marionette geführt wurde. Ist vielleicht etwas überspitzt.

Zu Tirpitz und seinem Risikoflottengedanke wurde hier in diesem Forum schon ausgiebig diskutiert.
Was würdest Du sagen, wenn Dein Nachbar an Deiner hinteren Grundstücksgrenze eine Schlägertruppe dauernd paradieren liesse. Und dann nicht mit sich reden lässt das man den Status Quo festschreibt? So kann man sich das Verhalten der Reichsregierung unter Wilhelm II in weiten teilen vorstellen.

Apvar
 
Und warum wird der Militarismus im Kaiserreich dann oft so negativ beurteilt?

Weil er die zivile Gesellschaft mehr als überlagerte, z.B. ...

Das gab es in der DDR auch und die militärische Drohung oder Bedrohung zu den Nachbarstaaten, hier im Zusammenhang des Kalten Krieges nicht minder derer angesehen wurden, wie zur Zeit des Kaiserreiches. Nur war die Erfahrung von 2 Weltkriegen und der Macht der atomaren Vernichtung ein wichtiger Punkt, die Hemmschwelle eines Krieges sehr hoch zu halten. Diese Erfahrungen gab es im Kaiserreich nicht, im Gegenteil, der deutsche Militarismus prägte mit dem 1. Weltkrieg die späteren Auswirkung, wenn die Gesellschaft in der Innen- wie Außenpolitik nur noch vom Militär getragen oder beeinflusst wird.
 
Erst ein mal zum Militarismus. Was hältst Du von einer Gesellschaft die nur auf Unteroffiziere und Offiziere starrt. Sowohl der Berufssoldaten als auch der Reservisten. Und ein Offizierspatent mehr gilt als eine Meisterausbildung oder Universitäre Ausbildung.

Ich kann daran nichts negatives erkennen. Der tugendhafte Soldat war eben ein Idealbild in der Gesellschaft und wurde deshalb besonders hoch geachtet. Was findest du daran so schlimm?
Es waren doch auch Wissenschaftler, Ärzte, Professoren, Ingeneure, Polizisten und andere Beamte gesellschaftlich anerkannte und geschätzte Personen.

Vor dem Gesetz waren ohnehin alle Bürger gleich.

Zu Deiner anderen Frage. Marionettenstaat deshalb, weil der letzte Kaiser die Regierung alleine mit seinen Günstlingen besetzt hatte, und sich im Grunde nur vom Militär, insbesondere Tirpitz, wegen seinem Marinefimmel, beraten lies. Und wie eine Marionette geführt wurde. Ist vielleicht etwas überspitzt.

Im Kaiserreich wurde doch im Großen und Ganzen eine sehr ordentlich Politik betrieben. Es war den anderen großen Staaten damals auf den meisten Gebieten überlegen. Der Kaiser hat die Tagespolitik sowieso seinem Kanzler und dessen Regierung überlassen. Natürlich mag Wilhelm II. gewisse Vorstellungen davon gehabt haben, in welche Richtung und auf welchen Weg das Reich politisch geführt werden sollte. Aber daß er eine Marionette von Tirpitz oder wem auch immer war, kann ich nicht erkennen.


Was würdest Du sagen, wenn Dein Nachbar an Deiner hinteren Grundstücksgrenze eine Schlägertruppe dauernd paradieren liesse. Und dann nicht mit sich reden lässt das man den Status Quo festschreibt? So kann man sich das Verhalten der Reichsregierung unter Wilhelm II in weiten teilen vorstellen.

Könntest Du das bitte etwas konkretisieren? Ich weiß leider überhaupt nicht worauf Du mit Deinem "Schlägertruppen"-Beispiel hinaus willst.
 
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