Wenn du dir mal ansiehst, wann sich in anderen Staaten Westeuropas eine zentrale Regierung gebildet hat, wird das das Problem des "verspäteten Deutschlands" schnell klar:
Sowohl in Frankreich, als auch in England entstand im Laufe des Mittelalters ein starkes Königtum, dem sich die Fürsten des Reiches unterordneten.
Anders in Deutschland: Der Kaiser wurde von den sieben Kurfürsten gewählt (ab 1359 eindeutig in der Goldenen Bulle festgelegt.) Da mit dem Kaisertitel aber kein Landbesitz verbunden war, war ein Fürst, der zum Kaiser gewählt wurde, auf das Land angewiesen, das er bereits besaß, z.B. die österreichischen Erblande im Falle der Habsburger. Oft wählten die Kurfürsten schwache Fürsten (also solche mit geringem Besitz) zum Kaiser, da sich dieser dann kaum in die Angelegenheiten der Kurfürsten einmischen konnte.
Der 30jährige Krieg (1618-1648) wird unter einigen Historikern als der Versuch Habsburgs gesehen, ein zentralistisches deutsches Kaiserreich zu schaffen unter der Ausschaltung aller anderen Kurfürsten. Dieses Vorhaben scheiterte. Im Frieden von Osnabrück wurden die Rechte der Landesfürsten gestärkt, z.B. in der Religionsausübung (die Protestanten wurden als gleichberechtigt neben den Katholiken anerkannt).
Dennoch waren die deutschen Staaten gesellschaftlich teilweise weiter entwickelt, als z.B. das absolutistische Frankreich (Stichworte: aufgeklärter Absolutismus in Preussen, Städtische Republiken in den freien Reichsstädten). Die gemeinsame Kultur (Sprache, Geschichte - besonders das Mittelalter, und auch die Figur des Kaisers) stellte eine einende Klammer dar.
Mit der französischen Revolution änderte sich dies jedoch grundlegend: In Frankreich entstand der erste bürgerliche Zentralstaat (Bürger als Träger der nationalen Identität) und 1806 löste Napoleon das Heilige Römische Reich deutscher Nation auf. In dieser Stunde größter nationaler Zersplitterung wurde die Kultur und gemeinsame Werte zum Bindemittel eines deutschen Nationalgefühls. Das Lied "
Was ist des Deutschen Vaterland" bringt diese deutschen Eigenschaften auf den Punkt.
Zwar gelang es in den Befreiungskriegen Napoleon aus Deutschland zu vertreiben, das Versprechen auf einen Deutschen Nationalstaat wurde auf dem Wiener Kongress jedoch nicht eingelöst. Ein Grund dafür war der beginnende Konflikt zwischen Preussen und Österreich. In einem Großdeutschen Kaiserreich hätte einer der beiden Staaten den kürzeren ziehen müssen. Zudem war den Fürsten die liberale und bürgerliche Bewegung suspekt. In der Folge entstand ein loser Staatenbund, jedoch kein Deutsches Kaiserreich.
Zwischen 1830 und 1848 gewann die bürgerliche Bewegung zur Einigung Deutschlands wieder an Fahrt. Sie gipfelte in der (mißlungenen) Revolution von 1848. Die Gründe für das Scheitern der Revolution sind vielfältig. Daher will ich erneut nur kurz die Deutsche Frage anschneiden. Diese beschäftigte sich mit der Integration Österreichs in ein zukünftiges Kaiserreich. Zu Österreich gehörten in dieser Zeit zwar wichtige Teile des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (Böhmen, Tirol, Ober- und Niederösterreich, Steiermark), aber eben auch große Teile des Balkan. Die Frage stellte sich nun ob und wenn ja, welche Teile von Österreich teil eines Deutschen Reiches werden sollten. Aufstände der Ungarn und in Norditalien ließen eine Zeit lang die Hoffnung auf ein Lösung mit Österreich aufkommen. Würden die Aufständischen ihre Freiheit von Wien erkämpfen, könnte das, was von Österreich übrig blieb, leicht in ein Deutsches Reich integriert werden. Doch die Aufstände wurden niedergeschlagen und die Deutsche Frage blieb ungelöst.
Er Fürst Bismark gelang es, die Deutsche Frage mit "Eisen und Blut", wie er es ausdrückte, zu lösen. Österreich wurde im Krieg von 1866 geschlagen. Die kleindeutschen Staaten wurden in ein Schutzbündnis mit Preussen gepresst. Mit dem Sieg über Frankreich 1871 wurde schließlich auch ein Gründungsmythos für das neue Reich geschaffen. In diesem Kaiserreich wurden die Figur des Kaisers, der preussische Militarismus und der Hass auf Frankreich zum Bindemittel der Deutschen Gesellschaft. Eine Konstellation die 1945 ihr Ende fand.