Warum entstanden Naturwissenschaften im Westen?

PostmodernAtheist

Aktives Mitglied
Habe bei Quora einen interessanten, aber für mich irgendwie auch verstörenden Artikel gefunden in dem eine Erklärung gesucht wird wieso die Naturwissenschaften im "Westen" entstanden sind.

(2) Why did modern science arise in the Judeo-Christian West rather than other world cultures? - Quora

Tim O´ Neill, den ich als Blogger schätze, argumentiert da in Bezug auf den Autor Toby E. Huff, der eine These dazu hat. Habt ihr euch damit schonmal auseinandergesetzt? Er bemüht da den Begriff der "Political Correctness" um die Kritik an dem Autor zu erklären. Finde ich problematisch, immerhin liefert Huff einen Grund für westliche Chauvinisten sich als Überlegen zu sehen. Die Idee dahinter ist anscheinend, dass Christen die Kausalität für sich entdeckten und das das sie islamischen Gelehrten überlegen macht. Das klingt schon ein bisschen nach Orientalismus...oder??
 
In Sapiens bzw. Eine kurze Geschichte der Menschheit vertritt Harari die Meinung, dass die Wissenschaft eng mit dem Kapitalismus verbunden sei, beide trieben sich gegenseitig an. In Homo Deus vertritt er die These, dass gerade zu dem Zeipunkt, wo Europa in seiner Geschichte am Intolerantesten war (Spanische Inquisition, Religionskriege) die wissenschaftliche Revolution erlebte. Während in Kairo Juden, Christen und Muslime und sogar vereinzelte Buddhisten und Hindus miteinander Handel trieben, habe in Europa, in einer Zeit, in der jeden Monat ein neuer Konfessionskrieg vom Zaun gebrochen worden sei, die wissenschaftliche Revolution ihren Anfang genommen. Dabei habe in Paris kein Hugenotte und in London kein Katholik seinen Fuß auf den Boden bekommen.
Die Thesen in Sapiens und Homo Deus mögen auf den ersten Blick im Widerspruch zueinander stehen, aber wenn man den Calvinismus als Ursprung des kapitalistischen Denkens begreift, sieht man, dass das nicht zwingend der Fall ist.

Von einem jüdisch-christlichen Westen kann man wohl kaum sprechen. In Spanien wurden sie 1492 vertrieben, in Frankreich - etwas weniger bekannt, bereits früher und als die Provence 1498 eingegliedert wurde, auch dort. In England gab es zwischen 1290 und 1655 zumindest offiziell keine Juden.

Sicherlich hat die Entdeckung Amerikas viel zum neuen Denken beigetragen, ich persönlich tue mich allerdings schwer, vor dem 19. Jhdt. überhaupt von Wissenschaft in unserem Sinne zu sprechen.
 
Warum entstanden Naturwissenschaften im Westen?

sind sie das?
Das ist eine unterstellende Fragestellung.
Was würdest Du sagen: sind sie "im Westen" entstanden?

Pythagoras entstammte einer Insel vor der Küste der heutigen Türkei. Noch "Westen"?
Eratosthenes war Nordafrikaner. Ebenso wie Ptolemäus. Auch noch Westen?
Unsere Mathematik stammt wahrscheinlich aus Indien und wurde als "al gebra" (die Rechenkunst) von der arabischen Welt übernommen, die sie an uns weitergab.
Kann man noch viele Beispiele nennen.

Hebt man aber auf die moderne Naturwissenschaft ab, so spielte diese sich stets global ab.


 
Das ist eine interessante Theorie. Zeigen denn grade Calvinistische Länder besonders wissenschaftliche Erkentnisee?

Ja, ein jüdisch-christlichen Westen gab es nicht. Das ist eine moderne Erfindung der Leute die den Westen als bedroht sehen, um es vorsichtig auszdrücken.

Und grade in der Zeit erlebt man ja eine ziemliche Ausbeutung des Rests der Welt, zum Beispiel Indien...

Hebt man aber auf die moderne Naturwissenschaft ab, so spielte diese sich stets global ab.

--- Verstehe ich nicht ganz, meinst du im hier und jetzt? Da ist die Wissenschaft sicherlich global. Aber im 16-17. Jh, wo die "westliche" Wissenschaft enstand? Deine Beispiele stammen ja anscheinend alle von lange vorher, nicht böse gemeint.
 
Bei so einer Fragestellung fällt mir immer der ein der sagt, besser fragt: Westen? Kommt auf den Standort an, könnte auch Osten sein..
 
...da verblüfft mich doch, dass die klassische griechische Antike die Kausalität nicht gekannt haben soll ;)

Naja, anscheinend hat man die unter Muslimen durch "occasionalism" ersetzt...

Bisher scheint mir das beste Argument gegen eine "westliche" Überlegenheit die Idee, dass viele Kulturen viel früher auf Ideen gekommen sind, die wichtig für den Westen waren...
 
Zeigen denn grade calvinistische Länder besonders wissenschaftliche Erkentnisse?
Ich würde schon sagen, dass z.B. Glasgow und Edinburgh in der Frühphase wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung eine wichtige Rolle spielten. Glasgow mehr als Industrie-, Edinburgh mehr als Universitätsstandort. Weitere Zentren des Calvinismus außer Schottland: Schweiz, Niederlande, USA.
 
Gab es denn noch eine andere Wissenschaft? Einen vergleichbaren rationalen Prozess Erkenntnisse über die Natur zu erhalten?


Das geht mMn in die falsche Richtung, weil die ganze Überlegung a priori als Prämisse annimmt, dass die westliche/europäische Wissenschaft methodisch allem anderen überlegen gewesen wäre.

Was Rationalität angeht, damit zu argumentieren, wäre ich sehr vorsichtig. Bis mindestens ins 20. Jahrhundert hinein, war die westliche Wissenschaftspraxis in vielen Bereichen nur teilrational.

Was in der Neuzeit zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert im Westen unter "rationaler Wissenschaft" läuft, sind mitunter Dinge, wie Alchemie, Versuche an Hand von Bibelexegese den Weltuntergang vorher zu sagen, Abhandlungen und Dispute über angebliche Vampierkrankheit u.ä., Schädelvermessung zwecks Rechtfertigung sozialdarwinistischen Unfugs, etc.
Da ist einiges dabei, bei dem man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann und das nun wirklich eine ganze Menge gewesen ist, aber nicht rational.

Ich würde aber in eine andere Richtung wollen und behaupten, dass mindestens in der frühen Neuzeit Europa, was wissenschaftliche Ansätze angeht, methodisch nicht so sehr überlgen war.
Aber ich würde annehmen wollen, dass es wesentlich bessere Möglichkeiten hatte, als andere Akteure Wissen zusammen zu tragen, zu zentralisieren, auszuwerten und zu vermitteln.
Letztendlich begannen die Europäer die Seewege zu beherrschen, die Logistik für den Handeslverkehr zu stellen und überall in der Welt Stützpunkte einzurichten, auf denen man ständig präsent war und wo informationen gesammelt werden konnten.

Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen Regionen vor, im Besonderen was Ostasien betrifft, wo man zweitweise den Kontakt mit dem Ausland über die Häfen streng reglementierte, zeitweise (Japan) gar der eigenen Bevölkerung be Strafe das Bereisen des Auslands oder auch nur den Bau hochseetüchtiger Schiffe verbot.


Außerdem hat Europa in Sachen Wissensverbreitung, Auswertung und Vermittlung den großen Vorteil über ein relativ einfaches Schriftsystem zu verfügen, was für Drucker und Konsumenten sehr benutzerfreundlich ist, weil es wirklich in egal welcher europäischen Sprache über eine sehr begrenzte Anzahl an Zeichen verfügt.

Das sind meine ich immense strukturelle Vorteile, die aber nichts mit methodischer Überlegenheit an sich zu tun haben.
 
Das geht mMn in die falsche Richtung, weil die ganze Überlegung a priori als Prämisse annimmt, dass die westliche/europäische Wissenschaft methodisch allem anderen überlegen gewesen wäre.

Was Rationalität angeht, damit zu argumentieren, wäre ich sehr vorsichtig. Bis mindestens ins 20. Jahrhundert hinein, war die westliche Wissenschaftspraxis in vielen Bereichen nur teilrational.

Was in der Neuzeit zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert im Westen unter "rationaler Wissenschaft" läuft, sind mitunter Dinge, wie Alchemie, Versuche an Hand von Bibelexegese den Weltuntergang vorher zu sagen, Abhandlungen und Dispute über angebliche Vampierkrankheit u.ä., Schädelvermessung zwecks Rechtfertigung sozialdarwinistischen Unfugs, etc.
Da ist einiges dabei, bei dem man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann und das nun wirklich eine ganze Menge gewesen ist, aber nicht rational.

Ich würde aber in eine andere Richtung wollen und behaupten, dass mindestens in der frühen Neuzeit Europa, was wissenschaftliche Ansätze angeht, methodisch nicht so sehr überlgen war.
Aber ich würde annehmen wollen, dass es wesentlich bessere Möglichkeiten hatte, als andere Akteure Wissen zusammen zu tragen, zu zentralisieren, auszuwerten und zu vermitteln.
Letztendlich begannen die Europäer die Seewege zu beherrschen, die Logistik für den Handeslverkehr zu stellen und überall in der Welt Stützpunkte einzurichten, auf denen man ständig präsent war und wo informationen gesammelt werden konnten.

Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen Regionen vor, im Besonderen was Ostasien betrifft, wo man zweitweise den Kontakt mit dem Ausland über die Häfen streng reglementierte, zeitweise (Japan) gar der eigenen Bevölkerung be Strafe das Bereisen des Auslands oder auch nur den Bau hochseetüchtiger Schiffe verbot.


Außerdem hat Europa in Sachen Wissensverbreitung, Auswertung und Vermittlung den großen Vorteil über ein relativ einfaches Schriftsystem zu verfügen, was für Drucker und Konsumenten sehr benutzerfreundlich ist, weil es wirklich in egal welcher europäischen Sprache über eine sehr begrenzte Anzahl an Zeichen verfügt.

Das sind meine ich immense strukturelle Vorteile, die aber nichts mit methodischer Überlegenheit an sich zu tun haben.

Das ist ein interessanter Ansatz... Was Huff wohl dazu sagen würde?
 
In diesen Zentren entwickelte sich eine kommerzielle Nutzung von Wissenschaft und Technik, die die Entwicklung stark beförderte ...
Ja.

In Sapiens bzw. Eine kurze Geschichte der Menschheit vertritt Harari die Meinung, dass die Wissenschaft eng mit dem Kapitalismus verbunden sei, beide trieben sich gegenseitig an. [...] wenn man den Calvinismus als Ursprung des kapitalistischen Denkens begreift, ...
 
Seit der Renaissance lag Europa im Zentrum eines Spinnennetzes und sog Informationen und Wissen auf. Gleichzeitig gab es dort einen internationalen Austausch zwischen den Gelehrten und auch zwischen der Oberschicht. Hinzu kamen die Universitäten. Aufgrund der sich entwickelnden Machtstrukturen blieb das trotz aller Kriege die nächsten Jahrhunderte so. Das sind natürlich Vorteile, die zusammengenommen ein Alleinstellungsmerkmal bildeten.
 
Der Punkt ist das "Spinnennetz" des Erfahrungsaustauschs, dieses verteilte neuronale Netz der wissenden und forschenden Eliten, das vorübergehende örtliche Störungen wie Ketzerverbrennungen, Glaubenskriege, Despoten, Pest und Cholera über Jahrhunderte hinweg aushielt.

Lange vor dem www hatte ich Zugang zu einem seiner Vorläufer, dem Arpanet. Seine Idee war dem Ausfall von großen Rechen- und miliärischen Zentren entgegenzuwirken, durch verteilte kleine Rechner mit unterschiedlichen Betriebssystemen, aber mit einheitlichen Kommunikationsstrukturen und -protokollen. Die Idee war ähnlich erfolgreich wie der Buchdruck.

Und so war es in Mittelalter und Neuzeit: es gab eine wissenschaftliche gemeinsame Sprache, eine Lingua franca, es gab Forscher die mit Briefen kommunizierten, es gab Bibliotheken und Universitäten. Ein widerstandsfähiges System und Netz des Wissens.

Ich habe gestaunt als ich vor 35 Jahren den Sextanten von Ulug Bek in Samarkand sah: ein Einzelkämpfer der Wissenschaft, der Opfer religiösen Fanatismus wurde.
Ulugh Beg – Wikipedia
Ulugh Beg Observatory
Und trotzdem blieb sein Wissen erhalten, dank wissenschaftlichem Austausch.
 
Erfahrungsaustausch mit anderen Kulturen ist je nachdem allerdings etwas zu euphemistisch. Oftmals ging es ja eher nur in eine Richtung. Die flüchtenden Gelehrten aus Byzanz, die inspirierenden Anstöße durch die Indische Mathematik oder auch die ersten Informationen zu den altorientalischen Sprachen sind da Beispiele. Anders war es etwa mit China, in dessen Fall es fraglich ist, ob Europa durch die klassische Chinesische Philosophie oder China mit der Vermittlung der damals modernen Mathematik durch Matteo Ricci sowie der Informationen zur Welt außerhalb Chinas Nützlicheres bekam.

Natürlich ist in solchen Fällen Manches schwerer Einzuordnen. Die Dominikaner hatten aus der antiken Mnemotechnik eine Art Meditationstechnik entwickelt, die gleichzeitig dem Verinnerlichen der Glaubenslehre und dem Merken von biblischen Geschichten diente. Der Jesuit Ricci nutzte das, um sich mithilfe einer Beschreibung der Heiligen Stadt in Peking in Rekordzeit die chinesische Schrift anzueignen, was die Erfindung des Gedächtnispalasts, der sich insbesondere durch größere Flexibilität und 'Querverweise' von der antiken Loci-Technik unterscheidet, darstellt, der.also gleichzeitig für Europa und China erschlossen wurde.
 
Zurück
Oben