Warum folgt dem Ausschluss 1866 der Anschluss 1938?

Einige Nachträge:

Zur Funktion und Positionierung der Zeitungswelt in Öst.:
Vilsmeier, Deutscher Antisemitismus im Spiegel der österreichischen Presse, dort wird die Landschaft vor 1933 beschrieben und die Zeitungen werden den großen Gruppen zugeordnet. Eine beachtliche Trennungslinie verlief zwischen den christlich-sozialen und den nationalen sowie den monarchistischen Blättern seit 1920, insbesondere ab S. 41 und 46.

Ein Zitat: Nach Pulzer, Die Entstehung des politschen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, S. 109 war deutsche Nationalmus in seiner - in Österreich und anderen deutschen Gebieten so empfundenen Grobheit und Arroganz - der Anlass für die endgültige Loslösung der "Deutschen in Österreich" von der Hauptmasse der Nation.

Nun sollte man die Haltung der Deutschen zur Nation nicht simplifizieren und etwa die Haltung der Deutschen in Österreich als "natürlich positiv" im Sinne der Deutschen Nation und unbedingten Anschlußwillen an die Berliner Republik unterstellen (hier felht nämlich selbst bei den Seiten, die damit symphatisierten, jedes Konzept, wie dieser Anschluß praktisch aussehen soll). Zeitgleich gab es genau die andere Richtung, zeitgleiches Beispiel:
Bischhof, Rheinischer Separatismus 1918-1924
und die Rheinstaatbestrebungen als "Los von Berlin"-Bewegung. Das preußisch geprägte Deutsche Reich ist nicht nur in nationalen österreichischen Kreisen mit Vorsicht betrachtet worden. Wie sehr dass mit politischen Parteienmeinungen konträr gehen kann, zeigt die einheitliche reichstreue Haltung der rheinischen Parteiableger 1923.

Konfessionelle Bedenken: ein Meinungs-Schlaglicht zur preußischen Deutschen Nation: "Ich sage Euch, die Franzosen sind Menschen, die Preußen sind Barbaren. Im Krieg haben die Preußen die rheinischen katholischen Regimenter zuerst an die Front geschickt, um sie zu opfern und damit den Katholizismus zu vernichten. " Smeets, 27.8.1922. Hier wird ein Bild geprägt, dessen Schärfe vom Rheinland über Bayern bis nach Wien in ähnlicher Weise vertreten wurde (auch wenn es nicht richtig sein mag, aber steht hier nicht zur Debatte).

Mit weiteren Vergleichen zu behauptetem mehrheitsfähigen österreichischem Anschlußwillen sollte man ebenfalls vorsichtig sein. Beispiel Elsaß:
Hochstuhl, Zwischen Krieg und Frieden, Das Elsaß 1938-1940.

Die Dinge sind hier viel komplizierter. Das Elsaß hatte bereits dem Deutschen Reich nach der Annektion 1971 eine parlamentarische quasi-Autonomie abgetrotzt. Durch die frz. Abwanderungen von Eliten wurden viele Lücken durch katholischen Klerus ausgefüllt, was dazu führte, dass das Elsaß 1918 eine Hochburg des politischen Katholizismus darstellte. Auch nach der annektion durch Frankreich war man nicht bereit, auf Sondergesetzgebung und wirtschaftliche Eigenständigkeit zu verzichten. Nach 1924 gibt es auch hier starke Separatisten-Bewegungen, die wenig mit Heim-ins-Reich am Hut hatten. Im übrigen sicherte später der Bau der Maginot-Linie beachtlichen Wohlstand und wirtschaftliche unabhängigkeit. Parteipolitisch war vor 1933 die Macht des Linkskartells beachtlich. Der Ausgang des Referendums im saarland wurd im Elsaß mit Enttäuschung aufgenommen, mit dem einzigen Pluspunkt, das brächte Vorteile für eine dt-frz. Entspannung. Die Haltung des Elsaß ist wohl am besten mit Separatismus beschrieben, sowohl ggü. Frankreich als auch (potentiell) ggü. dem Deutschen Reich.


Die Bewertung der Tiroler Volksabstimmungen ist durchaus umstritten:

"Einzelne länderweise Abstimmungen, die in Tirol und Salzburg im Frühjahr 1921 ein überwältigendes Votum für den Anschluß an Detuschland ergaben, hatten mehr als Druckmittel für die Erlangung einer Geldanleihe Österreichs bei den Westmächten Bedeutung als im Sinne ihrer tatsächlichen Durchführung."

In der Meinungsbildung ist schließlich innerhalb Österreichs mindestens zwischen den agraischen Gebieten und der Hauptstadt mit dem Einfluß der Arbeiterschaft zu unterscheiden. Im übrigen sind vorhandene deutschnationale Bestrebungen nicht isoliert entstanden, sondern stehen vor dem Hintergrund der zusammengeschnittenen, lebensschwachen neuen Österr. Republik ohne eigenes wirtschaftliches Umfeld und Märkte. Hieraus wurde in Österreich ein genereller, wenig konkretisierter "Anlehnungs"gedanke geboren, der in seinen Varianten nicht nur das Deutsche Reich berücksichtigte. Der schließlich in dem Parteienspektrum breit und lange diskutierte Anschlußgedanke (auch bei dn Sozialdemokraten), und das ist oben richtig dargestellt worden, erfuhr dann aufgrund des Nationalsozialismus ab 1933 eine krasse Umbewertung. Auf die "Europabewegung" wäre abschließend hinzuweisen, mit Österreich als Achse.

Ansonsten zum Parteienspektrum und zu den Meinungen zB: Rolf Bauer, Österreich, ab S. 382: "In Armut und Hass"

EDIT: Zu der Diskussion um Stresemann:
Die Frage Österreichs ist ein absolutes Randproblem der Außen- und Wirtschaftspolitik und der Lage der Weimarer Republik. Da gab es wichtigeres in politisch erzielbarer Revision der Versailler Vertrages sowie in Lösung der wirtschaftlichen Probleme des Deutschen Reiches. Wahlkampfseitig trat das mW. nie mit wesentlicher Bedeutung in Erscheinung. Im übrigen hätte man sich mit einem Anschlußgedanken weitere wirtschaftliche Probleme hereingeholt.

Der Anschluß Österreichs hatte in der Wichtigkeit sicher einen Platz beim Kamingespräch mit gepflegtem Nationalträumen, nicht bei den Tagesproblemen in Deutschland.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zur Funktion und Positionierung der Zeitungswelt in Öst.: (...)


Weiter oben sagtest du noch, Zeitungen seien kein Maßstab für Volksmeinungen, um die es ja ging. :confused:

Nach Pulzer (...) war deutsche Nationalmus in seiner - in Österreich und anderen deutschen Gebieten so empfundenen Grobheit und Arroganz - der Anlass für die endgültige Loslösung der "Deutschen in Österreich" von der Hauptmasse der Nation.


Hübsch herausgesucht, geht aber an der Sache vorbei, da hier ja die Situation vor 1914 dargestellt ist. Nach Zerschlagung der Donaumonarchie einerseits und Abdankung des "preußischen Kaisers" war die Situation doch eine völlig andere.

Und was sind hier "andere deutsche Gebiete"?

Nun sollte man die Haltung der Deutschen zur Nation nicht simplifizieren (...)


Wer macht denn das? Aber ebensowenig wie man sagen kann, "alle" Österreicher wollten den Anschluß, sollte man hier das Gegenteil "simplifizieren".

(hier felht nämlich selbst bei den Seiten, die damit symphatisierten, jedes Konzept, wie dieser Anschluß praktisch aussehen soll)


Das Nichtvorhandensein eines ausgearbeiteten Umsetzungskonzeptes ist imho keineswegs ein Indiz für das völlige Fehlen eines Wunsches.

Zeitgleich gab es genau die andere Richtung (...) Rheinischer Separatismus 1918-1924


Erstens schließen Separatismusbewegungen auf der einen Seite keineswegs Anschlußwünsche auf der anderen aus, und zweitens darf im Rheinland der Einfluß der Besatzungsmächte nicht vergessen werden

Hier wird ein Bild geprägt, dessen Schärfe vom Rheinland über Bayern bis nach Wien in ähnlicher Weise vertreten wurde.


"Mehrheitsfähig" war dieses Bild aber doch wohl nicht. Abgesehen davon gibt es auch heute noch in Bayern "Separatismusbestrebungen", im Internet leicht zu finden. Das auf die Mehrheit der Baiern zu übertragen, erscheint aber kaum zulässig.

Mit weiteren Vergleichen zu behauptetem mehrheitsfähigen österreichischem Anschlußwillen sollte man ebenfalls vorsichtig sein. Beispiel Elsaß:


Das ist in der Tat richtig, das Elsaß kann nicht als Vergleich herangezogen werden. Auch nicht, um einen evtl. vorhandenen Anschlußwillens der Österreicher zu widerlegen.

"Einzelne länderweise Abstimmungen, die in Tirol und Salzburg im Frühjahr 1921 ein überwältigendes Votum für den Anschluß an Detuschland ergaben, hatten mehr als Druckmittel für die Erlangung einer Geldanleihe Österreichs bei den Westmächten Bedeutung als im Sinne ihrer tatsächlichen Durchführung."


Das ist schon interessant, wie du ein Votum für den Anschluß hier einfach abtust. Richtig kann wohl sein, daß das Ergebnis des Referendums der österreichischen Regierung bei der Erlangung dieser Geldanleihen gute Argumente geliefert hat. Daraus aber zu schließen, die Menschen hätten nur aus diesem Grund so abgestimmt, ist imho aber doch ein wenig weit hergeholt.

In der Meinungsbildung ist schließlich innerhalb Österreichs mindestens zwischen den agraischen Gebieten und der Hauptstadt mit dem Einfluß der Arbeiterschaft zu unterscheiden.


Wenn wir hier denn differenzieren, wer wollte was?

Im übrigen sind vorhandene deutschnationale Bestrebungen nicht isoliert entstanden, sondern stehen vor dem Hintergrund der zusammengeschnittenen, lebensschwachen neuen Österr. Republik ohne eigenes wirtschaftliches Umfeld und Märkte.


Du wirst nun aber doch nicht leugnen wollen, daß es schon vor dem Krieg deutschnationale Tendenzen (in welchem Ausmaß auch immer) in der Donaumonarchie gab, oder? Im übrigen hat niemand den "Hintergrund der zusammengeschnittenen österreichischen Republik" für (verstärkte) Anschlußwünsche bestritten.

Hieraus wurde in Österreich ein genereller, wenig konkretisierter "Anlehnungs"gedanke geboren, der in seinen Varianten nicht nur das Deutsche Reich berücksichtigte.


Soll "Anlehnung" hier nun eine "mildere" Bezeichnung für "Anschluß" sein? Und welche "Varianten" gab es da noch?

Der schließlich in dem Parteienspektrum breit und lange diskutierte Anschlußgedanke (...)


Sic! Da haben wir es doch!

(...) erfuhr dann aufgrund des Nationalsozialismus ab 1933 eine krasse Umbewertung.


Auch das hat hier niemand bestritten, im Gegenteil.

Auf die "Europabewegung" wäre abschließend hinzuweisen, mit Österreich als Achse.


Ja, ich höre?

Die Frage Österreichs ist ein absolutes Randproblem der Außen- und Wirtschaftspolitik und der Lage der Weimarer Republik. (...)


Das ist nun aber ja wieder aus deutscher Sicht betrachtet. Daß ein Anschluß hier nicht auf der Tagesordnung stand, ist klar. Meine Frage, ob in Österreich ein latenter Anschlußwunsch vorhanden war, tangiert es allerdings nicht.

Im übrigen hätte man sich mit einem Anschlußgedanken weitere wirtschaftliche Probleme hereingeholt.


Ein Gedanke bringt schwerlich wirtschaftliche Probleme, evtl. seine Umsetzung. Die Nichtumsetzung ist aber wiederum kein Indiz für das Fehlen dieses Wunsches.

Der Anschluß Österreichs hatte in der Wichtigkeit sicher einen Platz beim Kamingespräch mit gepflegtem Nationalträumen, nicht bei den Tagesproblemen in Deutschland.


Was einen latenten Anschlußgedanken durchaus bestätigt. Auf das von mir hervorgehebene hättest du auch verzichten können, es wirkt polemisierend. :S
 
Hallo tekker,

die Masse Deiner Fragen, auch der Missverständnisse erledigt sich mit Durchsicht der Quellen.

Elsaß und das Rheinland hatte ich als Gegenbeispiele erwähnt zu den oben vertretenen Ansichten über Quervergleiche, zu mehr sollten die nicht dienen. Mit solchen untauglichen Quervergleichen hatte nicht ich begonnen. Die regionalen Vergleiche können wir gern ad acta legen.

Politik:
Über die Latenz des Anschlußthema würde ich nicht streiten, nur über die Dominanz in österreichischen (und natürlich deutschen) politischen Kreisen.
Bevölkerung:
Über das Vorhandensein eines Anschlußwillens in "der" österreichischen Bevölkerung würde ich nicht streiten, nur hinsichtlich seiner Qualifikation als Wille der Mehrheit (jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils). Von einem mehrheitlichen "dagegen" würde ich ebenfalls nicht sprechen, dazwischen liegt das "weiß ich nicht" oder Desinteresse.
Deutsche Reich bis 1933: da sind wir wohl dann einer Meinung.
Diskussion etc.: ist nicht gleich Befürwortung.

Presse: Dein Mißverständnis meines Zitates läßt sich mit der Quelle klären.:lupe:

Leugnen: ist sicher der falsche Ausdruck, das versuche ich als ehemaliger Meßdiener zu vermeiden.:scheinheilig:


Von daher sind wir wohl nicht weit auseinander.:friends:

EDIT: in Anlehnung an die Meßdiener-Zeiten würde ich den advocatus diaboli übernehmen, sofern nicht Untersuchungen zum mehrheitlichen Anschlußwillen der österreichischen Bevölkerung in den 20ern vorliegen. Ich lasse mich aber gern überzeugen, dafür bedürfte es nur geeigneter Literatur oder Quellen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Über das Vorhandensein eines Anschlußwillens in "der" österreichischen Bevölkerung würde ich nicht streiten, ...
Dann sind wir ja kurz vor dem Konsens ;-)

nur hinsichtlich seiner Qualifikation als Wille der Mehrheit
Jetzt fragt sich natürlich, welche Qualifikation Du gelten lassen würdest ...

Die Abstimmung von 1938 nicht (aus guten Gründen), die Abstimmungen gleich nach dem Krieg nicht (das ist schon schwieriger) - und dazwischen gibt es eben nur Diskussion, nie eine verbindliche Mehrheitsfeststellung.

Ich denke als Historiker kommt man in sehr vielen Fällen nicht umhin, da plausible Annahmen zu treffen - wenn ein Faktum per Abstimmung festgestellt wurde, bräuchte man ja auch keine historische Einschätzung.

Ich halte die Abstimmungen von 1921 schon für relevant. Diese anzusetzen mag auch taktischen Zielen gedient haben - die Meinungsäußerung der Abstimmenden war aber deutlich und genuin.

Und ich sehe nun wirklich nicht, daß zwischen 1921 und dem Bevölkerungsjubel beim "Anschluß" (also noch vor der Propaganda und der Nazi-Abstimmung) wenig Wahrscheinlichkeit besteht, daß die Zustimmung unter 50% gefallen wäre.

Wobei richtig ist, daß eine generelle Zustimmung leichter fällt als die zu einem konkreten Vorschlag.

Auch 1921 ging es ja nur um die große Idee. Auch die 99% Zustimmung wäre bestimmt deutlich geringer ausgefallen, wenn es um einen konkreten Vorschlag gegangen wäre, mit allen Details der Eingliederung dieser Gebiete ins Deutsche Reich.
 
Jetzt fragt sich natürlich, welche Qualifikation Du gelten lassen würdest ...

Ich halte die Abstimmungen von 1921 schon für relevant. Diese anzusetzen mag auch taktischen Zielen gedient haben - die Meinungsäußerung der Abstimmenden war aber deutlich und genuin.

Qualifikation: Mehrheit wurde von anderen vor 1933 behauptet.

Da müßtest Du Dich mit der konkreten Durchführung der Wahlen, ihrem regionalen Charakter, der Zeitdauer und den besonderen "Umständen" des Wahlkampfes, dem taktischen Verhalten der Parteien in Wahlkampfauftritten (Zielrichtung siehe oben) etc. beschäftigen.

Hast Du andere Wertungen der Wahlen?

Irgendwo oben hatte ich schon mal nach Literatur zu diesem Komplex gefragt. Bislang wurden gegen meine Bedenken nur Plausibilitätsüberlegungen und Quervergleiche vorgetragen.

Wie gesagt, ich lasse mir gern das Gegenteil beweisen.

Für die Beurteilung der Situation ab 1933 haben wir wohl demnach nie einen Dissens gehabt.
 
Kennt jemand das Buch? Ist das empfehlenswert?

Gottfried-Karl Kindermann
Österreich gegen Hitler
Langen Müller Verlag, München 2003
 
Zurück
Oben