Warum war das Parteienspektrum im Kaiserreich so groß?

Grundfrage war, warum es im Deutschen Reichstag trotz mehrheitswahlrecht so viele Parteien gab. Speziell wollte ich wisse warum die Liberalen trotz eher geringem Bezug zum einfachen Volk so viel Rückhalt hatte.
 
Speziell wollte ich wisse warum die Liberalen trotz eher geringem Bezug zum einfachen Volk so viel Rückhalt hatte.
Das kommt auf den Zeitpunkt drauf an. Speziell in den 70er Jahren gab es wenig Alternativen zu den Nationalliberalen. Erst mit dem sogenannten Gründerkrach, als 1873 eine wirtschaftliche Depression einsetzte und entweder Freihandel oder Protektionismus als Antwort galt, spaltete sich die Partei einerseits, und andererseits war die liberale Zukunftsvision mit der Reichsgründung quasi erfüllt. Mit Bismarck hielt es sich noch in Grenzen, aber spätestens 1879 dann verlor die Partei viele Wähler.
Und das mit dem Mehrheitswahlrecht ist auch so eine Sache, denn man muss die Eigenheit des politischen Systems des Kaiserreich sehen. Das Parlament hatte keine großen Regierungsverantwortung, so dass sich die Parteien nicht groß an regierungsfähige Programme halten und Koalitionen schmieden mussten. Die Parteien mussten zur Zustimmung ihre Milieus beachten. Und das ist einer der Gründe, warum das Fünfparteiensystem relativ stabil blieb.
 
Diese Frage habe ich mir zufällig vor kurzem auch gestellt. Häufig für Mehrheitswahlsysteme zu Zwei-Parteien-Systemen (USA) oder langer Dominanz einer Partei (Japan), aber das Beispiel Großbritannien zeigt, dass das nicht sein muss. Im Deutschen Reich kommen meiner Meinung nachverschiedene Faktoren zusammen (vieles davon schon von meinen Mitforisten genannt):
1. Es gab eine große Anzahl von Regionalparteien, die ihre jeweilige ethnische Gruppe vertraten: Polen, Dänen, Lothringer, Litauer. Die Bayern hatten mit dem Bayerischen Bauernbund auch schon eine eigene Partei.
2. Ebenfalls nur bestimmte, diesmal religiös eingegrenzte Gruppen ansprechende Partei: Zentrum
3. Aufspaltung der politischen Lager in verschiedene Parteien: Zum Beispiel die Liberalen (Wahl `98): Nationalliberale, Freisinnige Vereinigung, Freisinnige Volkspartei und Deutsche Volkspartei.
4. Regionale Schwerpunkte der Tätigkeit: Die größten konservativen Parteien (DKP, DRP) traten primär in Preußen auf.
5. Durch den geringen Organisationsgrad der Parteien war es für Einzelpersonen einfacher, gewählt zu werden, was auch häufig stattfand.

Das wären meine Ansätze
 
@Pausanias

Sehr richtig. Wobei ich glaube das du die Wirkung von Regionalparteien außerhalb Bayerns überschätzt.

@Lafayette

Ich könnte mir vorstellen das er das ganze eher historisch meint. GB war um den 2. Weltkrieg herum eher ein Dreiparteiensystem: Torys, Whigs und Labour.
Wobei man auch heute noch sagen kann das GB kein klassisches Zweiparteiensystem ist. Da gibt es zum Beispiel noch die Liberal Democrats und die irisch und schottischen Regionalparteien. Vom kurzen Höhenflug der UKIP mal ganz abgesehen.

Ich will jetzt nicht zu weit abschweifen, aber wenn man GB schon als Zweiparteiensystem sehen kann, wäre der Vergleich zu Deutschland nicht mehr weit.
 
"Grundfrage war, warum es im Deutschen Reichstag trotz mehrheitswahlrecht so viele Parteien gab. Speziell wollte ich wisse warum die Liberalen trotz eher geringem Bezug zum einfachen Volk so viel Rückhalt hatte."

Diesen Satz verstehe ich nicht so richtig.

Die Liberalen im Kaiserreich gibt es nicht. Der gemäßigte Flügel des Liberalismus war in der Nationalliberalen Partei organisiert. Die Spaltungen im organisierten Linksliberalismus wären schon ein Thema für sich. Um die die Jahrhundertwende gab es die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung, die Demokratische Volkspartei in Süddeutschland und den National-Soziale Verein. 1904 schloss er sich der Freisinnigen Vereinigung an.

Was den "eher geringen Bezug zum einfachen Volk" angeht: Die Liberalen aller Richtungen hielten lange an der Vorstellung fest, dass eine staatliche Sozialpolitik mit liberalen Grundsätzen nicht vereinbar sei. Sie setzten auf genossenschaftliche Hilfseinrichtungen. Das führte dazu, dass im Kaiserreich immer weniger Arbeiter die Liberalen wählten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Freisinnige Vereinigung als erste linksliberale Partei einen Kurswechsel vor. Die staatliche Sozialversicherung wurde nun als Ergänzung zur Selbsthilfe akzeptiert. Friedrich Naumann und der National-Soziale Verein versuchten ebenfalls, den Liberalismus für die Arbeiter wieder attraktiv zu machen. Die Freisinnige Volkspartei gab nach dem Tod von Eugen Richter 1906 ihren Widerstand gegen die gesetzliche Sozialversicherung auf. Diese linksliberalen Gruppierungen fusionierten 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei.

Dort gründete man 1912 einen "Reichsverein der liberalen Arbeiter und Angestellten". Meines Wissens hatte er nie mehr als 5000 Mitglieder.

Die Nationalliberalen versuchten nach der Jahrhundertwende unter dem jungen Gustav Stresemann, die Angestellten als Wähler zu gewinnen und setzten sich nachdrücklich für eine Rentenversicherung ein, die dieser Gruppe von Arbeitnehmern eine bessere Altersversorgung ermöglichen sollte.

Trotz aller Bemühungen konnten die Linksliberalen aber keine großen Stimmengewinne in der Arbeiterschaft erzielen.

Was verstehst du unter Rückhalt? Die liberalen Parteien profitierten - wie andere Forenteilnehmer bereits erwähnten - vom Wahlsystem. Wenn im ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hatte, kam es zu einem zweiten Wahlgang zwischen den beiden Kandidaten, die im ersten Wahlgang am Besten abgeschnitten hatten. Wenn ein Linksliberaler und ein Sozialdemokrat sich in der Stichwahl gegenüber standen, entschieden sich viele nationalliberale oder konservative Wähler meist für den Linksliberalen.

Bei den Reichstagswahlen ab 1890 erhielten die liberalen Parteien zwischen 22 und 26 Prozent der Stimmen. Der Liberalismus war nicht mehr so einflussreich wie in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, aber immer noch ein zu beachtender Machtfaktor.
 
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