„Wer zu spät kommt...“ zur Montagsdemonstration

El Quijote

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Vorige Tage hörte ich anlässlich des „deutschen Schicksalstages“ im Radio ein Interview mit einem Herrn, der am 8. November aus Sachsen-Anhalt nach NRW floh. Seine Frau und er (ein Hochschullehrer) setzten sich am 8. November in ihren Trabant und führen in Richtung der Tschechoslowakei. Am 9. November Abends waren sie dann irgendwo in Bayern an der Donau, wo sie dann die Schabowski-Verlautbarung hörten. Sie kamen dann nach NRW und er hatte nach vier Tagen eine Stelle in der Privatwirtschaft, in seinem Bereich, sie blieben also (bis heute).

Im Verlaufe dieses Interviews sagte der Interviewte, dass als Gorbi sagte, „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (so hat Gorbi den Satz nicht gesagt, aber so ist er vermittelt worden und im öffentlichen Bewusstsein präsent) dies den Montagsdemonstrationen Auftrieb gegeben habe und von den DDR-Bürgern als Signal verstanden worden sei, dass 1953 sich nicht wiederholen würde, die sowjetischen Soldaten in ihren Kasernen bleiben würden. Dies habe für einen starken Zulauf zu den Montagsdemonstrationen geführt und er selbst sei erst in Leipzig gewesen und habe dann in seiner Heimatstadt eine Montagsdemonstration mitorganisiert.

So nun also die Zeitzeugenmeinung. Nun sind die meisten von uns auch Zeitzeugen, wobei meine Zeitzeugen-„Expertise“ (der Historiker ist der größte Feind des Zeitzeugen ;) ) die eines damals zwölfjährigen Wessis wäre, der zwar mitbekam, dass da in der DDR was passierte, aber dann doch eher mit dem Bewusstsein eines Zwölfjährigen und durch die Tagesschau oder auch mal das heute Journal gefiltert. Was haltet ihr von der Aussage, dass der Gorbispruch, so, wie er in der Öffentlichkeit ankam, die Proteste stärkte? Haltet ihr diese für historisch valide oder eher für zusammengesetzte Erinnerungsfragmente des Zeitzeugen?
 
Was haltet ihr von der Aussage, dass der Gorbispruch, so, wie er in der Öffentlichkeit ankam, die Proteste stärkte? Haltet ihr diese für historisch valide oder eher für zusammengesetzte Erinnerungsfragmente des Zeitzeugen?
Das ist eine schwierige Frage. Als nicht direkt Beteiligter, aber Zeitzeuge, kann ich nur mutmaßen.
Wenn dieses Foto echt ist und auch wie betitelt von der Montagsdemonstration in Leipzig am 30. Oktober 1989 stammt, dann muss man davon ausgehen, dass den Demonstrierenden auch der Gorbispruch wichtig war und relativ schnell aufgenommen wurde. Die dpa publizierte das Zitat in seiner heute bekannten Form mW am 7. Oktober.
https://www.lichtfest.leipziger-freiheit.de/files/lichtfest/Fotos/Historische Bilder 89/008201.jpg

Gorbatschows Besuch fiel zusammen mit der nicht eskalierten gefährlichen Montagsdemo vom 9. Oktober und darum ist es schwierig auseinander zu dividieren, welchen Anteil nun das Eine oder das Andere auf die folgenden Montagsdemonstrationen hatte. Ich tendiere darauf, dass letzteres ein wesentlich stärkerer "Booster" war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Zitat bereits am 9. Oktober wirksam war.

Der Satz ist mE nicht ganz einfach zu interpretieren und eignet sich auch nicht als skandierbare Parole. Er wird heute oft als "grünes Licht aus Moskau" angesehen, was ich damals als ferner Beobachter nicht so sah. Ich meine mich zu erinnern, dass für mich die Handlungsweise der Demonstranten und des DDR Regimes viel bedeutender war, als das was Gorbatschow äußerte.
Eigentlich hieß das doch nur "Ihr müsst jetzt etwas tun, von alleine lösen sich Probleme nicht!" und das kann man ja auch als Aufforderung zur staatlichen Gewalt sehen, vor allem wenn man so gestrickt war, wie das DDR Regime.
Einerseits schien mir eine Intervention der Sowjetunion schon vorher unwahrscheinlich, andererseits war ich doch allgemein vom Besuch Gorbatschows etwas enttäuscht.
Aber ich kann leicht reden, ich musste ja nicht auf die Straße, und kann darum mit meiner Einschätzung völlig daneben liegen.
 
[Meta-Ebene]Interessant, ich hatte dich für einen Studenten im fortgeschrittenen Semester (im nichtumgangssprachlichen Sinne) gehalten, also vielleicht 25 Jahre alt, aber du musst dann ja, wenn du Zeitzeuge mit wachem politischen Bewusstsein warst, mindestens älterer Teenager gewesen sein oder älter... [/Meta off]

Eigentlich hieß das doch nur "Ihr müsst jetzt etwas tun, von alleine lösen sich Probleme nicht!" und das kann man ja auch als Aufforderung zur staatlichen Gewalt sehen, vor allem wenn man so gestrickt war, wie das DDR Regime.
Gorbi stand ja für Perestroika und Glasnost, daher sind ja auch sowjetische Zeitschriften bzw. deren deutschsprachige Ableger aus den ostdeutschen Zeitungsregalen verschwunden. Gorbis Einlassungen da als Aufruf zur staatlichen Gewalt zu interpretieren - zumal er ja auch in Polen, Tschechien und Ungarn wenig Neigung zum Einschreiten gezeigt hatte - halte ich nicht für gegeben. Ich denke eher, dass Gorbi die Illusion hatte, dass das System grundsätzlich noch zu retten sei, wenn es sich anpasste und demokratisierte (und letztlich wäre eine Demokratisierung ja auch nur dem eigentlichen sozialistischen Anspruch, nämlich dass man eine klassenlose Gesellschaft aufbauen würde, gerecht geworden. Stattdessen hat man sich im Ostblock eher an die Maxime Josephs gehalten: "Alles für das Volk aber nichts durch das Volk." bzw. an deren Variante von Karl Ferdinand Stumm: "Alles für den Arbeiter, aber nichts durch den Arbeiter.", die ja letztlich die Betriebspolitik der von Bohlen und Halbachs, der Thyssens oder der Harkorts charakterisiert. Dieselben paternalistischen Tendenzen hatten auch Generalsekretäre der KPs des Ostblocks.
 
Ist schwierig, dass im Gedächtnis zu rekonstruieren. In meiner Erinnerung (14-jährig aus West-Berlin mit Verwandten in der DDR) hat der Gorbatschow-Besuch in der DDR im Oktober 1989 nochmal unterstrichen, dass die Sowjetunion nicht eingreifen würde, um die SED-Regierung an der Macht zu halten. Das war mE ein wichtiger Punkt, immer noch; gegen das SED-Regime war ein Protest aussichtsreich oder zumindest möglich, gegen die Sowjet-Armee nicht, das war seit 1953 klar. Inwiefern man das an diesem einen Satz festmachen kann und sollte, keine Ahnung. Der ist viel zu schön und passend für die Geschichtsbücher, um ihm und dem eigenen Gedächtnis nicht sehr misstrauisch gegenüberzustehen... ;)
 
[Meta-Ebene]Interessant, ich hatte dich für einen Studenten im fortgeschrittenen Semester (im nichtumgangssprachlichen Sinne) gehalten, also vielleicht 25 Jahre alt, aber du musst dann ja, wenn du Zeitzeuge mit wachem politischen Bewusstsein warst, mindestens älterer Teenager gewesen sein oder älter... [/Meta off]
[META]Fast wie bei Gorbatschow, weiß ich jetzt gar nicht, was ich davon halten soll. Wirklich interessant, und ich dachte, dass die Moderatoren Zugriff auf das eingetragene Geburtsdatum im Profil haben. Dann muss ich mir also noch etwas mehr Mühe geben, um meinem Alter gerecht zu werden.[/META]


Ich schaute gerade nochmals, wie damals (jenseits des Teenager-Alters), die Tagesschau vom 6.10.1989.
Ab Minute 2 kann man hören und sehen, was und wie er es sagte.
tagesschau vor 20 Jahren
Die Tagesschau vom 7. Oktober ist dann schon wieder einiges ernüchternder.
tagesschau vor 20 Jahren
Ob von dieser Berichterstattung eine Wirkung auf die Demonstrationen ausging, kann wohl nur ein Teilnehmer beurteilen.
 
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