Why Nations fail / Warum Nationen scheitern

thanepower

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Ein Einstieg in ein sehr spannendes Thema, wie ich finde. Eine ökonomische Theorie der Weltgeschichte.

Zwei Rezensionen in FAZ und Spiegel:
F.A.Z.-Community

Daron Acemoglu und James Robinsons Buch "Why Nations Fail" - SPIEGEL ONLINE

Seine Liste der Publikationen
MIT Economics : Daron Acemoglu

Für das Verständnis von "Why Nations fail" sind vor allem sein Monografie mit Robertson über die Ursachen von Demokratie und Diktatur wichtig, in denen sie die theoretischen und empirischen Grundlagen für obiges Werk gelegt haben.

Bücher
Introduction to Modern Economic Growth - Daron Acemoglu - Google Books

Economic Origins of Dictatorship and Democracy - Daron Acemoğlu, James A. Robinson - Google Books

Einzuordnen ist das Werk in direkter Nachbarschaft zu der Arbeit von Diamond, dessen Ansatz sie jedoch kritisieren. Zu Unrecht wie ich meine.

Guns, Germs, and Steel: The Fates of Human Societies - Jared M. Diamond - Google Books

Darstellung des Ansatzes von Acemoglu und Robertson kommt demnächst.
 
Mit „Why Nations fail“ unternehmen Robinson & Acemoglu den Versuch, die historische Entwicklung seit den Frühformen gesellschaftlichen Zusammenlebens im Rahmen einer universalen Theorie zu erklären.

Zentral für ihren Ansatz, der im Umfeld der New Institutional Economics (NIE) angesiedelt ist, ist die Unterscheidung in „extractive“ und „inclusive“ Institutionen. Dieses Differenzierungsmerkmal wenden sie in gleichem Maße auf politische und ökonomische Systeme an.

Diese Differenzierung bezieht sich wesentlich auf den Verteilungsmodus ökonomischer Güter („Reichtum“, „Kapital“ etc.) und politischer Macht . In diesem Sinne neigen extraktive Organisationen dazu, wirtschaftliche Ressourcen lediglich Wenigen zugutekommen zu lassen und somit den Rest auszubeuten. Und entsprechend beim Vorhandensein von extraktiven politischen Systemen, die Machtinstrumente auf eine Oligarchie bzw. Autokratie zu beschränken.

Dieser Organisationsform stehen die inklusiven Institutionen gegenüber, die sich durch einen breiteren gesellschaftlichen Zugang zu den jeweiligen, ökonomisches Kapital oder politische Macht, Ressourcen auszeichnen. Mit diesem breiteren, pluralistischeren Zugang verbunden sind entsprechende positive Verteilungseffekte in die unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft. Das betrifft sowohl verbesserte ökonomische Bedingungen wie auch eine erhöhte politische Partizipation.

Mit dieser Unterteilung ergeben sich vier grundsätzlich Typen von Gesellschaften.
Typ 1: extraktive Ökonomie & extraktive politisches System. Ein Typ, der historisch für viele autokratische Länder zutrifft und auf so unterschiedliche historische Epochen bzw. Formationen angewendet werden kann wie absolutistische Staaten oder auch auf den ehemals „real existierenden Sozialismus“.
Typ 2: extraktive Ökonomie & inklusives politisches System:
Typ 3: inklusive Ökonomie & exklusives politisches System: Eine Kombination, die beispielsweise auf so unterschiedliche Situationen zutrifft wie die Frühphase des 3. Reichs und die aktuelle Phase in „Rot-China“.
Typ 4: inklusive Ökonomie & inklusives politisches System: Eine Konstellation, die mit der „Glorious Revolution“ in GB, auf die sie sich sehr stark inhaltlich beziehen, an Konturen gewinnt und für kapitalistische Demokratien kennzeichnend ist.

Obwohl alle vier Typen vorkommen können, gehen sie davon aus, dass primär die „Archetypen“ (1 und 4) eine erhöhte Stabilität aufweisen und die Mischformen aufgrund von systembedingten Rivalitäten dazu neigen, sich in einen der beiden Archetypen zu entwickeln. Dabei ist der Prozess der Entwicklung nie abgeschlossen, finalisiert, und inklusive Systeme können sich somit jederzeit in andere Formen zurück entwickeln.

Hinsichtlich der Perioden, in denen Veränderungen bzw. Umbrüche von einem Typ zu einem anderen anstehen, bleiben sie relativ allgemein und vage. Beeinflusst wird die Entwicklung durch „critical junctions“, also kritische Ereignisse, die bestimmte Entwicklungen begünstigt haben, wie das Auftreten der Pest als Katalysator für die Veränderung feudaler Strukturen im Mittelalter. Ein Ereignis, das in der Folge in Mittel- und Westeuropa zu anderen politischen und ökonomischen Konsequenzen führte wie beispielsweise in Osteuropa.

Bei der Darstellung ihrer theoriegeleiteten Darstellung der historischen Entwicklung wird häufig der normative Gehalt der Theorie deutlich und das mantrartig wiederholte Bekenntnis zur Überlegenheit inklusiver Institutionen gegenüber extraktiven.

Die Erklärung ist in der Untermauerung ihrer Theorie durch zwei weitere Konzepte zu finden. Sie binden die Leistungsfähigkeit inklusiver Institutionen an das Schumpetersche Konstrukt der „kreativen Destruktion“. Damit ist sichergestellt, dass Institutionen in einem evolutionären Sinne sich veränderten Bedingungen anpassen und durch Innovation ihre spezifische Leistungsfähigkeit für die Ökonomie bzw. Politik erhalten bzw. optimieren können.

Diesem Wesensmerkmal inklusiver Organisationen stellen sie Michels „Eisernes Gesetzt der Oligarchie“ gegenüber, das in Rivalität zu pluralistischen, offenen Prozessen steht und kennzeichnend ist für extraktive Organisationen.

Insgesamt ist das Buch im theoretischen und empirischen Kontext zu „Introduction….“ und zu „Economic Origins…“, auf die sie häufiger verweisen, zu sehen. Insgesamt bleibt m.E. insbesondere an diesem Punkt der Theorieteil defizitär. Es gibt kein historisches Subjekt, das handelt und somit auch nur rudimentär gesellschaftlichen Akteure und ihre Ideologien eine Rolle spielen. In stärkerer Anlehnung an das handlungstheoretische Konzept von North (z.B. Violence und Social Order), das implizit stark an Berger & Luckmann(The Social Construction of Reality) angelehnt ist, wäre dieser Teil besser zu lösen gewesen.

Ebenso gehen sie zwar auf die Bedeutung der öffentlichen Meinung (vgl. beispielsweise Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit) ein, widmen diesem Thema aber keine vertiefende Aufmerksamkeit.

Es sind eine Vielzahl historischer Beispiele, in die sie die Entwicklung ihrer Thesen einbetten. Sie gehen dabei auf Nord- und Südamerika, ausführlich auf Beispiele aus der Sub-Sahara-Zone und auf Fernost ein. Dieser Bereich ist teilweise serh gut und sehr informativ. Nicht zuletzt natürlich auch auf Europa und in starkem Maße auf die Bedingungen der Industriellen Revolution in GB. Die einen Prototyp für die Entwicklung zu inklusiven Institutionen bildet.

Die Darstellung einzelner historischer Epochen ist sehr unterschiedlich gelungen. Die Behandlung der Französischen Revolution kommt beispielsweise nicht über die Qualität einer Darstellung für die Sekundar Stufe hinaus.

Sofern uns die Arbeit von Sedlacek (Economics of Good and Evil) einmal mehr die „Standortgebundenheit“ der Theoriebildung, auch und besonders im Bereich der VWL, deutlich vor Augen geführt hat, ist man abschließend versucht die Arbeit von Robinson und Acemoglu einzuordnen.

Und es erscheint als ein sehr aufwendiger Versuch (vgl. Clash of Civilisation), die extraktiven Institutionen Chinas als Quelle für Instabilität zu identifizieren und dieses als Quelle für dringend notwendige Reformen zu benennen.

Eine Theorie der historischen Entwicklung von Gesellschaft als Angebot für politische Beratung in Chinas?
 
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Das klingt ja alles ganz interessant, aber ich frage mich was genau nach dieser Schilderung der Theorie noch folgen soll (also von uns, den Mitdiskutanten)?
Oder wolltest du einfach mal ein Bisschen Werbung machen? ;)
 
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Und es erscheint als ein sehr aufwendiger Versuch (vgl. Clash of Civilisation), die extraktiven Institutionen Chinas als Quelle für Instabilität zu identifizieren und dieses als Quelle für dringend notwendige Reformen zu benennen.

Eine Theorie der historischen Entwicklung von Gesellschaft als Angebot für politische Beratung in Chinas?

@Thane

Aus ferner Sicht, scheint dieses der Kernpunkt Deiner beiden Postings zu sein. Ich stehe derartigen historischen und ökonomischen Abstraktionsmodellen eher skeptisch gegenüber.

Bleiben wir in Asien, dann wäre zu konstatieren, daß Japan eher zu Archetyp 4 und China eher zu Archetyp 1 zu rechnen sei, da diese beiden Archetypen auch relativ stabil seien und den Polarisierungsspagat darstellen. Nun mögen aus politikwissenschaftlicher Sicht beide Nationen relativ stabil erscheinen, aus historischer und wirtschaftshistorischer Sicht sind sie es gerade nicht. Beide Nationen wurden m.E. aufgrund exogener Faktoren gleichsam in die "Moderne" getrieben. Dieses läßt sich an historischen Zäsuren fest machen (Japan 1868 und 1945; China 1900, 1912, 1949 und 1979). Theoriegeschichtlich reagierten beide Staaten auf die ökonomischen und politischen Veränderungen im internationalen Kontext, agierten aber nicht.

Ich beschränke jetzt meine Sicht auf die Wirtschaftsgeschichte, ansonsten wäre es zu komplex. Keine dieser beiden Nationen hat eine entscheidende Basisinnovation ("Lange Wellen") hervorgebracht, das ist keine Wertung, sondern einfach zu konstatieren. Beide Nationen haben aber Gesellschaftsmodelle entwickelt, welche die Basisinnovationen gleichsam zu assimilieren versteht und diese dann sogar zu treiben versteht (Japan).

Nun meine Gegenfrage, bedarf es solcher "aufwendigen" theoretischer Konstrukte, um eine ökonomisch funktionierende Gesellschaft (China) zu "beraten"?

M. :winke:
 
Typ 1: extraktive Ökonomie & extraktive politisches System. Ein Typ, der historisch für viele autokratische Länder zutrifft und auf so unterschiedliche historische Epochen bzw. Formationen angewendet werden kann wie absolutistische Staaten oder auch auf den ehemals „real existierenden Sozialismus“.

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Obwohl alle vier Typen vorkommen können, gehen sie davon aus, dass primär die „Archetypen“ (1 und 4) eine erhöhte Stabilität aufweisen und die Mischformen aufgrund von systembedingten Rivalitäten dazu neigen, sich in einen der beiden Archetypen zu entwickeln.

Ich habe das Buch nicht gelesen, daher meine Frage, inwiefern diese Typen eigentlich an die Moderne gebunden sind. Ich frage mich deshalb, weil Archetyp 1 in dem Fall für mich ziemlich problematisch ist.

Typ 1 klingt auf den ersten Blick so einleuchtend, weil doch jeder weiß dass wir jahrhundertelang dieses mittelalterlich-landwirtschaftliche System mit Ständen und Adel hatten, und dass das durchaus stabil war. Aber gerade dieses vormoderne System scheint ja überhaupt nicht gemeint zu sein: die Beispiele scheinen bisher allesamt aus der (weiter gefassten) Epoche der Moderne zu stammen, und in dem Kontext kann mit Archetyp 1 fast nur noch eine Art Kleptokratie gemeint sein.

Eine Kleptokratie aber als einen der stabilen, implizit wünschenswerten Pole der Gesellschaftsordnung zu betrachten, ist zynisch und auch historisch nicht wirklich haltbar.
 
Müssten etwaige Beratungen Chinas nicht vielmehr wirtschaftsehtischer bzw. umweltschonender Natur sein? Von China als funktionierender Wirtschaftsnation zu sprechen halte ich bei der derzeitigen Lage für zu kurzsichtig.
Eine zweite Industrielle Revolution ist im 21.Jhd. einer globalen Welt nicht mehr so einfach drin wie vor 300 Jahren.
 
Aus ferner Sicht, scheint dieses der Kernpunkt Deiner beiden Postings zu sein. Ich stehe derartigen historischen und ökonomischen Abstraktionsmodellen eher skeptisch gegenüber.

Nein China hat eine absolute Randbedeutung und dieser Exkurs verweist eher auf das Erkenntnisinteresse, dass Theorien auch politischen Zielen dienen. Dieses sehe ich in einem gewissen Kontext zur Behandlung der Totalitarismusdiskussion und verweist auf die implizite - westliche - Kritik an dem undemokratischen System in China.

Totalitarianism: The Inner History of the Cold War - Abbott Gleason - Google Books

Wesentlich relevanter ist, dass sie ihre Theoriebildung auf vier Konstrukte basieren und diese systematisch durch eine Fülle historischer Betrachtungen mehr oder minder systematisch unterlegen.

Bei der Beschäftigung mit der Interpretation des Stalinismus, gleiches gilt auch für den Hitlerismus, (es finden sich auch Beispiele für diese Sichtweise bei Wehler, Slotkin oder L. Young und anderen) trifft man auf einen stattfindenden Paradigmenwechsel (nach Kuhn) in der Historiographie von einer reinen "materialistischen" Sichtweise zu einer "kulturellen" Aufbereitung bzw. Deutung historischer Themen.

Ähnliches gilt beispeilsweise auch für die Theorie der internationalen Beziehungen, bei der das "neo-realistische" Paradigma (vgl. z.B. K.N. Waltz) in der Interpretation der Historie besonders betroffen ist.

Für mich persönlich ist diese neue Ansatz interessant, da er in der Konsequenz einer Weberschen "verstehenden Soziologie" und Historiographie", die er explizit einbezieht, steht und einen deutlichen Kontrast zu eher eklektischen und ad-hoc Theorien, die vieles implizit belassen, bildet.

Vor diesem Hintergrund stellt sich für mich persönlich die Frage, welche Theorien und daraus abgeleitete Konstrukte eine tragfähige Basis schaffen für eine konsistente und systematisierende Interpretation von historischen Prozessen.

Contemporary Sociological Theory: An Integrated Multi-Level Approach - Doyle Paul Johnson - Google Books

Eine Fragestellung, die vor allem auch im Kontext der Erklärung des Aufstiegs des Westens seit dem 1500 Jahrhundert von unterschiedlichen Autoren in den letzten Jahren behandelt wurde wie beispielsweise bei Ferguson, Diamond.

Ganz in der Tradition von Weber hat Michael Mann im Rahmen seiner Theorie der Macht einen sehr umfassenden Versuch vorgelegt, diesen Prozess zu erklären. Und die Frage, die sich daraus ergibt ist, in welchem Unfang diese Ansätze sich ergänzen bzw. in welchen Bereichen sie inkompatibel sind.

The Sources of Social Power: Volume 1, A History of Power from the Beginning ... - Michael Mann - Google Books
 
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Ich habe das Buch nicht gelesen, daher meine Frage, inwiefern diese Typen eigentlich an die Moderne gebunden sind. Eine Kleptokratie aber als einen der stabilen, implizit wünschenswerten Pole der Gesellschaftsordnung zu betrachten, ist zynisch und auch historisch nicht wirklich haltbar.

1. Die Theorie / Konstrukte beziehen sich auf eine universelle Einsatzmöglichkeit für die Analyse und sie beginnen ihre Darstellung auch in der Antike.

2. Ob eine extraktive wirtschaftliche und politische Gesellschaftsordung wünschenswert ist, sei dahingestellt. Faktisch wird man ihre Existenz jedoch über die längste Periode der Menschheitsgeschichte einfach zur Kenntnis nehmen müssen. Demgegenüber sind inklusive Organisationsformen der Ökonomie oder von Herrschaftsstrukturen eine historisch betrachtet relativ neue Erscheinung.

3. Relevanter ist, dass sie die Beschränkungen einer extraktiven Organisation für den sozialen Wandel explizit benennenund auch einen zentralen Mechanismus mit Michels benennen, der zu einer extraktiven politischen Struktur führt und welche Rolle die Innovation, in der Gestalt der Schumpeterschen "kreativen Destruktion" besitzt für die Veränderung von Gesellchaften.

Diesen Mechanismen wenden sie auf die "Glorious Revolution" sehr faktenorientiert an, um den relativen Vorsprung von GB für diese Periode zu erklären, den es sich im Rahmen der Industriealisierung erarbeitet hatte.
 
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2. Ob eine extraktive wirtschaftliche und politische Gesellschaftsordung wünschenswert ist, sei dahingestellt. Faktisch wird man ihre Existenz jedoch über die längste Periode der Menschheitsgeschichte einfach zur Kenntnis nehmen müssen. Demgegenüber sind inklusive Organisationsformen der Ökonomie oder von Herrschaftsstrukturen eine historisch betrachtet relativ neue Erscheinung.

Ich glaube, du hast meinen Vorwurf des Zynismus an dieser Stelle falsch verstanden. Ich meine nicht, dass ich mir eine optimistische Analyse wünsche und jetzt enttäuscht bin, dass dieses Buches Urteil gar so finster ausfällt. Ich finde es allerdings zynisch, gerade so etwas wie Kleptokratien zu einem freundlichen analytischen Normalfall zu machen, indem man sie pauschal mit "autokratischen Regimen" in einen Topf wirft. Das tut vor allem so, als seien solche Regime halt einfach da und seien nur aus sich selbst heraus zu begründen. Das stört mich.

Es gibt ja durchaus einen gewaltigen Unterschied zwischen extraktiv und extraktiv. Bei einer Agrar-Ständegesellschaft und einer Kalter-Krieg-Kleptokratie würde ich schon die eine oder andere Abweichung voneinander entdecken wollen, schon allein was die Dimensionen der "Extraktion" angeht und die Art, wie das System stabilisiert wird.

Mir ist in diesem Sinne auch nicht ganz klar, wieso die zentrale, systementscheidende Unterscheidung ausgerechnet zwischen extraktiv und inklusiv getroffen wird. Wenn ich mir deine Antwort so anschaue ("historisch betrachtet relativ neue Erscheinung"), scheint "inklusiv" eine demokratisch legitimierte, produktionsabgeleitete Verteilungsgerechtigkeit zu meinen. Aber ist das jetzt die einzig denkbare inklusive Form, wenn sogar der Sozialismus auf der extraktiven Seite zu verorten ist? Lohnt es sich bei so einem anscheinend so erdrückenden historischen Übergewicht der Extraktion denn überhaupt, die Inklusion als zentrale Kategorie festzulegen?
 
Ich finde es allerdings zynisch, gerade so etwas wie Kleptokratien zu einem freundlichen analytischen Normalfall zu machen, indem man sie pauschal mit "autokratischen Regimen" in einen Topf wirft. Das tut vor allem so, als seien solche Regime halt einfach da und seien nur aus sich selbst heraus zu begründen. Das stört mich.

Wenn wir schon beim "gestört fühlen sind", dann habe ich Vorbehalte gegen den Begriff der "Kleptokratie". Ein Konstrukt das in einem sehr politischen Kontext als Kampfbegriff verwendet wurde und zudem im Bereich der Politologie oder politischen Soziologie als Konstrukt keine weitere Ausarbeitung erfuhr. Der Begriff ist wohl eher der medialen Vermarktung bestimmter Thesen geschuldet.

Richtig ist, dass in den letzten ca. 6000 Jahren die deutliche Mehrzahl der Gesellschaften im ökonomischen und politischen Sinne, im Sinne der beiden Autoren, als extraktiv zu bezeichnen sind und dieses fällt weitgehend zusammen mit der Beschreibung dieser Formen der Herrschaft als "autokratisch".

Geschuldet ist diese historische Entwicklung der Ausbildung immer komplexerer Formen der Kooperation (Zivilisation) und dem damit zusammenhängenden Bedarf nach Regelung der notwendigen Interaktion, etwas pauschal formuliert (vgl. z. B. auch M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, E. Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit oder auch M. Mann: Geschichte der Macht: Bd 1).

Es gibt ja durchaus einen gewaltigen Unterschied zwischen extraktiv und extraktiv. Bei einer Agrar-Ständegesellschaft und einer Kalter-Krieg-Kleptokratie würde ich schon die eine oder andere Abweichung voneinander entdecken wollen, schon allein was die Dimensionen der "Extraktion" angeht und die Art, wie das System stabilisiert wird.

Das Ausmass der Verteilung von Reichtum in der gesellschaftlichen Elite, sei es die politische oder die ökonomische, spielt für die Mechanismen keine Rolle. Relevant ist dass die Elite es mit Hilfe unterschiedlicher Instrumente (Ideologie, Repression etc.) erreicht, den gesellschaftlichen Reichtum sich anzueignen und für ihre Zwecke zu konsumieren. Der Zweck kann dabei ein privater Verbrauch sein oder aber in bestimmten Fällen (wie teilweise im Fall der ehemaligen UdSSR) eine Übereinstimmung der Interessen der Nomenklatura mit den Funktionen und Aufgaben des staatlichen Apparats.

Mir ist in diesem Sinne auch nicht ganz klar, wieso die zentrale, systementscheidende Unterscheidung ausgerechnet zwischen extraktiv und inklusiv getroffen wird.

Bei beispielsweise North (Understanding the Process of Economic Power) oder bei Acemoglu (Introduction to Modern Economic Growth) finden sich ausreichend Belege, die den deutlichen Anstieg der BSP als Folge der demokratischen Entwicklung (inklusives politisches System) in Kombination mit der Industriealisierung veranschaulichen (industrielle Revolution).

Im wesentlichen sind von dieser Entwicklung die politischen Einschränkungen der Entwicklung der Wirtschaft beispielsweise vor der Glorious Revolution und der Französischen Revolution betroffen. Auswirkungen hat es auf die Innovationsgeschwindigkeit, den Kapitaltransfer oder die Entwicklung der Beschaffungs- und Absatzmärkte.

In diesem Kontext wird der Begriff der inklusiven Organisation benutzt und zielt ebenso auf die Frage der politischen Teilhabe und die Entschärfung der Klassenkonflikte ab und der damit zusammenhängenden potentiellen Legitimationsdefiziten.

Ansonsten ist es nicht meine Intention die Autoren zu rechtfertigen oder zu verteidigen. Wem dieser Ansatz nicht gefällt, der wird sich kaum damit anfreunden wollen.
 
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Auch ich muss zunächst vorausschicken, dass ich das angepriesene Werk selbst nicht gelesen habe und von derartigen Thesen o. Gedankenspielen nur aus Rezensionen etc. auf diversen Plattformen gehört habe; gleiches gilt auch im Wesentlichen für die anderen Literaturhinweise des Themenstarters.


Gleichwohl seien ein paar Fragen bzw. Anmerkungen erlaubt:


1) Wenn eine der Thesen davon ausgeht, dass es die politischen Institutionen sind, die „den Wohlstand“ (die Anführungszeichen sind mit Bedacht gewählt) entscheidend beeinflussen, und dies am Beispiel Englands durchexerziert wird, müsste doch auffallen, dass nur bestimmte Teile Englands ab der 2. Hälfte des 18. Jhdts. an diesem Wirtschaftswunder namens Industrialisierung Anteil hatten.
Gehen die Autoren aber auch der Frage nach, warum Schottland, Teile v. Wales und, soweit unter „britischer Obhut“ befindlich, auch Irland so bitterarm und unterindustrialisiert waren bzw. wer sich an wem bereichert hat ?


Der Aufstieg englischer Kaufleute (als private Unternehmer) mag eine wichtige Rolle gespielt haben, aber lag es nur an abweichenden Institutionen, dass die Hanse – ab der Mitte des 13. Jhdts. - oder Fuggers und Welsers im Süddeutschen oder gar die Städte der Lombardei bereits vor den besagten englischen Frühkapitalisten erfolgreich tätgig waren, aber trotzdem als Eliten untergegangen sind ?


Natürlich gibt es ein Bündel von Ursachen – aber gerade deshalb sind monokausale Ansätze eher mit Vorsicht zu genießen.
Denn die von mir genannten wirtschaftlichen Eliten waren alle unterschiedlich verfasst.
Die Hanse eher „genossenschaftlich-ständisch“, Fuggers/Welsers als Familienclan und viele der oberitalienischen Stadtstaaten eher republikanisch – also passen nicht zum Vergleich Englands mit Spanien, wo ja angeblich die degenerierte Aristokratie (bewusste Übertreibung meinerseits) einem nachhaltigen Aufstieg im Wege stand und deshalb „England“ sich als Wirtschaftsmacht durchsetzte – wenn ich die Buchbesprechungen richtig einordne.


2) Wird die These, dass Religion und Kultur tatsächlich keine Rolle spielen, wer sich als Großmacht durchsetzt und wer untergeht bzw. welches „System“ andere verdrängt, in dem besagten Buch tatsächlich verifiziert/falsifiziert (jeder wie er es mag) ?


Bekanntlich gibt es gerade im südostasiatischen Raum religiöse und spirituelle Gemeinschaften oder gar ganze Gesellschaften, die zu materiellen Fragen eine etwas andere Einstellung haben als der westliche Hauptstrom.
Wer „Wohlstand“ (s. o.) nicht (nahezu) ausschließlich materiell definiert/begreift, wird nicht nur andere Ursachen für das Fehlen von „Wohlstand“ anführen, sondern auch die Frage nach Vormacht oder Scheitern anders stellen bzw. dieser Frage einen anderen Stellenwert einräumen.
Aber auch im „Abendland“ hat es zumindest in längst vergangenen Zeiten eine Mönchs- und Klosterbewegung gegeben; ich denke, dass jeder hier, der sich ab und an im Unterforum „Mittelalter“ tummelt, diesen Aspekt einordnen kann.

Es wäre daher nicht nur sehr pauschalierend, sondern geradezu anmaßend, kulturellen und/oder religiösen Faktoren bei der Frage nach Wohlstandsunterschieden bzw. Vormacht-/Vorrangstellung von „Systemen“ keine Bedeutung beizumessen (sofern dies tatsächlich derart rigoros in dem Buch gehandhabt wird).
Zwei auf die Schnelle angestellte Überlegungen.


Götz zum Gruß
 
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