Wie rechtsstaatlich war das Rechtssystem in der DDR?

Ich würde sagen kommt drauf an wann und in welchem Kontext die Frage gestellt wurde. Was verstehst du denn unter einem Schauprozess in Abgrenzung zu einem rechtsstaatlichen Prozess? Vielleicht kommen wir so der Sache ja näher.

Ich habe eigentlich gehofft, daß das aus meinen Beiträgen herauszulesen war...
Als nicht rechtsstaatlich empfinde ich ein solches Gebaren:
Ich muß gestehen, daß ich entsetzt darüber war, wie mit dem Angeklagten umgegangen wurde und wie die "Richterin" ständig die moralische Keule über dem Angeklagten schwang. Daß er etwas falsch gemacht hatte, als er unter Einfluß von Alkohol einen Unfall verursachte, wußte der Angeklagte natürlich selbst, also warum mußte die "Richterin" noch den „Moralapostel“ spielen und den Angeklagten während der Gerichtsverhandlung noch zu moralischen Äußerungen zwingen?
(...)
Also ich finde, wenn ein Richter (wohlbemerkt ein Richter! Bei einem Staatsanwalt mag das noch etwas anderes sein ;) ) eine Gerichtsverhandlung so führt, daß man den Eindruck bekommt, daß dort eine Art Schauprozeß geführt werden soll, dann widerspricht das meiner Auffassung von einem rechtsstaalichen Verfahren.
Ich sage ja nichts dagegen, wenn der Richter moralische Gesichtspunkte bei der Urteilsverkündung mit einfließen läßt. Das mag dann wieder in Ordnung sein.
(...)
Wenn der Angeklagte seine Schuld bedauern möchte, dann soll er daß aus freien Stücken tun (bzw. auf Anraten seines Anwalts) und nicht nachdem die Richterin auf arrogante Weise fragt: "Und das finden sie in Ordnung, oder wie?" Entschuldigung, aber so etwas hat ein Richter nicht zu fragen und den Angeklagten so noch weiter einzuschüchtern, so daß er dann leise "nein" sagen muß....
Als rechtsstaalichen Prozess würde ich eine Gerichtsverhandlung betrachten, in der ein Richter/eine Richterin lediglich Fragen an die entsprechenden Parteien stellt, ohne bereits während der Verhandlung irgendwelche Wertungen vorzunehmen. Bei der Urteilsverkündung kann dann auch von Seiten eines Richters derartiges mit einfließen.
So würde ich das sehen.
 
Eine gute Idee ist es, zivilrechtliche Auseinandersetzungen und (politisch motivierte) Eigentumsfragen zunächst einmal außer Acht zu lassen. Das ist oben auch schon so vorgeschlagen worden. Man sollte sich zunächst auf den Bereich der Strafverfahren beschränken.

Einige der Beiträge problematisieren, was man sich unter einem "rechtstaatlichen" (Straf-)Verfahren vorzustellen hat. Die ebenfalls erwähnte moralische Kategorie kommt dem nahe, was unter dem Begriff der "Fairness" in der Literatur anzutreffen ist. Also: rechtstaatliches Verfahren = faires Verfahren? Ist demnach ein unfaires Verfahren kein rechtstaatliches Verfahren?


Dies wird hier diskutiert:
Dorothea Rzepka von Klostermann: Zur Fairneß im deutschen Strafverfahren
Zur Fairness im deutschen Strafverfahren - Google Bücher

Hier zeigt sich, dass man eine Reihe von Kriterien/Ansätzen abprüfen muss, um "Fairness" bzw. Rechtstaatlichkeit zu beschreiben:
- Garantie des rechtlichen Gehörs
- Zugang zu juristischer Beratung
- prozessuale Waffengleichheit (zwischen Anklage und Verteidigung)
- prozessuale/richterliche Fürsorgepflicht
- Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts
- Unmittelbarkeit der Beweiserhebung und Freiheit der Beweisverwertung
- Schweigerechte
- zeitlich angemessener Verfahrenslauf zur Wahrnehmung der Rechte
- mehrzügiges Verfahren
usw.

Daraus wird aber auch deutlich, dass auch im Rechtsstaat die Fairness in Konkurrenz zu weiteren Zielen des Strafverfahrens stehen kann (zB Effektivität, Prozessdauer etc.). Außerdem stellt sich die Frage der Gewichtung.

Fairness iSv Rechtstaatlichkeit (->"korrektes Verfahren") läßt sich danach in formaler Hinsicht, aber eben (maßgeblich?) bzgl. der Rechte des Angeklagten auch in materieller Hinsicht (materielle Fairness) bestimmen.

Vielleicht helfen die Überlegungen bei der Diskussion weiter.
 
Zum grundsätzlichen Thema:
Leider ist aus dem von dir zitierten Leserbrief nicht erkennbar, ob die Aussagen von Uwe Wesel sich wirklich auf zivilrechtliche Fragen beziehen.

Auf jeden Fall wäre es ein schlechter Vergleich, ausgerechnet die Zivilgerichtsbarkeit als Beleg für eine besondere Rechtsstaatlichkeit der DDR heranzuziehen. Denn in ihr galt - wie auch im Dritten Reich und der Bundesrepublik - zunächst das Bürgerliche Gesetzbuch. Aufgrund ideologischer Gründe gab sich die DDR erst 1976 ein eigenes Zivilgesetzbuch.
Nachbarschafts- und Erbstreitigkeiten gibt es eben auch in Diktaturen.

Allerdings kann man sagen, dass zumindest das Dritte Reich sehr stark in den zivilrechtlichen Bereich eingriff. Die Ausgrenzungspolitik der Juden begann ja eigentlich im privatrechtlichen Raum, in denen man ihnen verbot, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, Deutsche zu heiraten, in dem Verträge mit Juden leicht angefochten werden konnten etc.

Aber abgesehen davon, ist diese Aussage natürlich sehr plump

Der Rechtsgeschichtler Prof. Uwe Wesel stellte fest, dass das DDR-Recht bis auf den Umgang mit den politischen Gegnern nicht schlechter als in der Bundesrepublik war.

und entspricht meiner Meinung nach braunen Relativierungsstrategien, im Stile "Bis auf das mit den Juden und dem Krieg war das Dritte Reich eigentlich nicht schlecht."
Hier triffst Du ins Schwarze. Die Aussage ist sehr plump und verharmlosend zugleich. Mich würde interessieren, wie Wesel eigentlich zu dieser Aussage kam. Lag dem eine großflächig angelegte Studie zu Grunde oder spricht da Wesels Bauchgefühl als "Altlinker"?

In der http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11674335/3730327/Pauschale-Urteile-fehl-am-Platz-Zu-Vergangenheit-die.html?rand=312571912] Märkischen Allgemeinen[/url] findet sich noch Folgendes:
In der DDR benennt Wesel einen „weiblichen“ Zug des Rechts und der Rechtspflege. So ist in der Familienpolitik das DDR-Recht toleranter und behütender gewesen.


Ach ja? Und wie war das mit den Zwangsadoptionen von Kindern in linientreue Familien? Hierzu gibt es aber bereits Berichte, Herr Wesel:
  • Ines Veith: Gebt mir meine Kinder zurück. Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR. (Schicksale und Horizonte), Goldmann, 1991 ISBN 3-442-12388-7
  • Fiebig, Elke: Die rechtliche Bewältigung politisch motivierter Sorgerechtsentziehungen und Zwangsadoptionen. Zentralblatt für Jugendrecht, Jg. 82, 1995, Nr. 1, S. 16-20
  • Raack, Wolfgang: Der Einigungsvertrag und die sog. Zwangsadoption in der ehemaligen DDR. Zentralblatt für Jugendrecht, Jg. 78, 1991, Nr. 9, S. 449-451
  • "Zwangsadoptionen pervers." Kohl dringt auf Suche nach Verantwortlichen der Ex-DDR. Frankfurter Rundschau, Nr. 119, 25. Mai 1991, S. 1
  • Freigekaufte Eltern, entfremdete Kinder. Frankfurter Rundschau, Nr. 119, 25. Mai 1991, S. 3
  • Zwangsadoption in der ehemaligen DDR. Die Tageszeitung, Nr. 3412, 24. Mai 1991, S. 6
  • DDR-Regierung veranlaßte Zwangsadoption von Kindern. Der Tagesspiegel, Nr. 13879, 24. Mai 1991, S. 1
  • Inhumanität. Die Aufdeckung von Zwangsadoptionen in der DDR. Die Tageszeitung, Nr. 3413, 25. Mai 1991, S. 10
  • Strafanträge gegen Margot Honecker. Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Zwangsadoptionen nicht von sich aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 120, 27. Mai 1991, S. 6
  • Zwangsadoption - sogar noch nach der Wende. Welt, Nr. 121, 28. Mai 1991, S. 3
  • Ostdeutscher Amtsleiter angezeigt. Erster Strafantrag wegen Zwangsadoption in der DDR. Süddeutsche Zeitung, Nr. 121, 28. Mai 1991, S. 2
  • Der Raub der Kinder und die Höllenqualen der Mütter. Welt, Nr. 122, 29. Mai 1991, S. 2
  • Lebenswege - vom Staat für immer getrennt. Zwangsadoptionen in der DDR: "Wie wenn man gegen eine Mauer rennt". Süddeutsche Zeitung, Nr. 128, 6. Juni 1991, S. 3
  • Zwangsadoptionen auf Weisung Frau Honeckers. Frankfurter Rundschau, Nr. 128, 6. Juni 1991, S. 28
  • Mit Hilfe des Asozialen-Paragraphen Eltern die Kinder Entzogen. Der Tagesspiegel, Nr. 13890, 6. Juni 1991, S. 9
  • Meister im Weggucken. Aktenfunde bestätigen was Ost- wie West-Politiker jahrzehntelang geleugnet haben. Der Spiegel, Nr. 23, 3. Juni 1991, S. 112 u.113
  • Sieben Zwangsadoptionen aus politischen Gründen: Direkte Weisung Margot Honeckers bisher nicht gefunden. Berliner Zeitung, Nr. 46, 24. Februar 1993, S. 15
  • Politische Zwangsadoption. Frankfurter Rundschau, Nr. 224, 26. September 1991, S. 4
  • Zwangsadoptionen seltener als befürchtet. In sieben Fällen politische Motive. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 48, 26. Februar 1993, S. 4
  • Nach 20 Jahren: Mutter findet Tochter wieder. Nach Zwangsadoption 1984 gab es jetzt ein Familien-Happyend in Jena. Berliner Kurier, 8. März 2004.
  • DDR-Regime raubte ihr die Kinder. Jahrelang musste eine Mutter warten, bis Honecker ihre Töchter gehen ließ. Berliner Morgenpost, S. 20, 4. Oktober 2006.
  • Verharmlosung der DDR hat System. Ehemalige Funktionäre und PDS-Mitglieder fordern den Bundestag auf, öffentlich das SED-Unrecht als geringfügig einzustufen. Berliner Morgenpost, Die Welt, 7. Dezember 2006.
Quelle: Zwangsadoption – Wikipedia
 
Wobei das Thema Zwangsadoptionen wieder eher in den Umgang mit politisch anders Denkenden hinein spielt, denn zur Zwangsadoption wurden meines Wissens vornehmlich solche Kinder "freigegeben" (mir fällt jetzt gerade kein anderer Begriff ein), dessen Eltern aus politischen Gründen in Haft oder Abschiebung kamen.
 
Ich habe eigentlich gehofft, daß das aus meinen Beiträgen herauszulesen war...
In deinen Eingangsbeitrag war viel hineinzulesen, wie die erste Diskussion hier so zeigt, daher habe ich genauer nachgefragt. (Sofern es hier jemandem noch nicht aufgefallen sein sollte: anstelle lang, breit und ausführlich zu antworten frage ich gerne mal zurück ;) )

Als nicht rechtsstaatlich empfinde ich ein solches Gebaren:
Ich stoße mich in dem Zusammenhang am allermeisten am Begriff "rechtsstaatlich". Was ist denn ein rechtsstaatlicher Prozess? (jaaa, schon wieder eine Rückfrage...) Für mich hat das hier Beschriebene eher mit der Rechtsstaatlichkeit per se, der Gewaltenteilung, dem richterlichen Berufsethos und der Fairness - auf die Silesia bereits eingeht - zu tun.

Als rechtsstaalichen Prozess würde ich eine Gerichtsverhandlung betrachten, in der ein Richter/eine Richterin lediglich Fragen an die entsprechenden Parteien stellt, ohne bereits während der Verhandlung irgendwelche Wertungen vorzunehmen.
Wertungen sollten während der Verhandlung mE durchaus vorgenommen werden, geäußert werden können diese unter Umständen auch, dem Angeklagten während der Verhandlung als Richter eine Moralpredigt zu halten, ist allerdings deplatziert, da bin ich komplett deiner Meinung. Nur kam das eben aus deinem Eingangspost so nicht raus. Jemand der eine vergleichbare Verhandlung in der DDR nicht kennt, dafür aber West- bzw. heutige Verhandlungen verfolgt hat, kennt aller Wahrscheinlichkeit nach die richterliche Standpauke im Zusammenhang mit der Urteilsverkündung und versteht so deinen Eingangpost u.U. falsch - aber das nur am Rande.
 
Wobei das Thema Zwangsadoptionen wieder eher in den Umgang mit politisch anders Denkenden hinein spielt, ...
wenn man das Kind als Träger eigener Rechte (z. B. des Rechtes auf Erziehung durch die eigenen Eltern) ausblendet:lupe:
... denn zur Zwangsadoption wurden meines Wissens vornehmlich solche Kinder "freigegeben" (mir fällt jetzt gerade kein anderer Begriff ein), dessen Eltern aus politischen Gründen in Haft oder Abschiebung kamen.
vor denen sollte das Kind "behütet" werden...
 
Ein Rechtsstaat setzt allgemeine Bürgerrechte voraus. Die DDR hatte für seine Bürger keine Rechte eingeplant. An erster Stelle in der DDR-Verfassung steht, dass die SED sämtliche Rechte an Staat und Volk besaß. Deshalb nannte man die DDR nicht zu Unrecht SED-Staat:
Art. 1
Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei...
Mit letzten Teil des zweiten Satz werden vorherige Feststellungen im Art. 1 überflüssig gemacht und so nebenbei erklärt, wer die Macht (Führung) inne hat: SED umschrieben als "marxistisch-leninistische Partei".
Auf dieser Grundlage - dass eine politische Organisation immer recht hat und führend ist und in der Verfassung auch so erwähnt wird - wurden Gesetze verfasst und Recht von dementsprechend abhängigen Gerichten gesprochen.
SED-Staat
 
Hallo zusammen, aus Sicherheitsgründen haben wir das Thema kurzzeitig geschlossen und in schreibgeschützte Zonen verfrachtet.
 
Ich wollte nur anmerken, dass ich in meinem Post oben keinerlei Aussage im Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit des jeweiligen Systems gemacht habe: Da ich davon ausging, dass wir hier alle auf der Basis diskutieren, die jetzige BRD als Rechtsstaat anzusehen, war mein Beispiel lediglich eine Widerlegung der Aussage Barbarossas-sprich: Moralisierung eines Prozesses etc. ist kein Kriterium, das einen Unrechtsstaat kennzeichnet.
Und was war Barbarrossas Beispiel? Ein ganz harmloser Fall, Alkohol am Steuer.
Und nur, wirklich nur auf diesen Fall bezog ich mich.
Ich sage nicht: Die "moralische Keule" der DDR ist die gleiche wie die in der BRD.
Eine Relativierung gibt es nämlich nur, wenn man meine Aussage in diese Richtung interpretiert.
Gruss beli
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Rechtsstaat setzt allgemeine Bürgerrechte voraus. Die DDR hatte für seine Bürger keine Rechte eingeplant. An erster Stelle in der DDR-Verfassung steht, dass die SED sämtliche Rechte an Staat und Volk besaß. Deshalb nannte man die DDR nicht zu Unrecht SED-Staat:

Mit letzten Teil des zweiten Satz werden vorherige Feststellungen im Art. 1 überflüssig gemacht und so nebenbei erklärt, wer die Macht (Führung) inne hat: SED umschrieben als "marxistisch-leninistische Partei".
Auf dieser Grundlage - dass eine politische Organisation immer recht hat und führend ist und in der Verfassung auch so erwähnt wird - wurden Gesetze verfasst und Recht von dementsprechend abhängigen Gerichten gesprochen.
SED-Staat


@Hurvinek

Du hast vollkommen recht. In der DDR garantierte selbst das positive Recht nicht die Bürgerrechte, ich wiederhole mich, keine Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit.

Das normale Zivilverfahren war dem Staat egal, solange, wie silesia bereits anmerkte, keine den Staat interessierenden Eigentumsfragen berührt wurden.

Kommerzielle Koordinierung – Wikipedia

(siehe hier: "Beschaffung von Devisen")

@Lili

Aus meiner beschränkten Sicht ist Deine Anmerkung korrekt, die Frage ob "Rechtsstaat" oder "Unrechtsstaat" mißt sich an der Gewaltenteilung. In der DDR hatte die Exekutive absolute formelle (siehe Zitat von Hurvinek) und informelle Prägorative. Die DDR war ein totalitärer bzw. zu ihrem Ende hin spättotalitärer* Staat und kann somit kein Rechtsstaat gewesen sein.

Wiki-Verlinkungen erspare ich mir.

@all

Ob ein Richter in einem Verfahren eine "Standpauke" hält oder nicht, ist seine Sache; wichtig ist, daß ich das Urteil von einer nächsten Instanz überprüfen lassen kann und daß der Gerichtsverfahrenszug eingehalten wird und nicht in einem Strafverfahren der Staatsanwalt sich an das Staatsoberhaupt, also die Exekutive wenden kann.

Allein ein Straftatbestand wie "asoziales Verhalten" disqualifiziert ein Strafrechtsnormenkatalog.

@bdaian

"Deshalb meine Fragen: Konnte man in der DDR mit vernünftigen Aussichten gegen den Staat klagen? Gab es eine reale Gewaltenteilung"

Klare Antwort: nein.


M.


* Der Begriff "spättotalitär" hat sich wissenschaftlich noch nicht vollständig durchgesetzt.

http://www.stiftung-aufarbeitung.de/downloads/pdf/kocka_weber.pdf
 
"Deshalb meine Fragen: Konnte man in der DDR mit vernünftigen Aussichten gegen den Staat klagen? Gab es eine reale Gewaltenteilung"

Klare Antwort: nein.
Das ist zwar korrekt, man konnte als Bürger allerdings manches über den Weg einer "Eingabe" regeln und die war nicht mal an den Instanzenweg gebunden. Wer berechtigte Gründe hatte und lokale Behörden bzw. Funktionäre taten nix, schrieb mitunter einfach an die nächste Ebene, notfalls bis ganz oben. Das forderte natürlich Zivilcourage und war keine Garantie für eine positive Reaktion, aber es gibt genug Fälle, wo dann Abhilfe geschaffen wurde. Meist ging es um unzumutbare Wohnverhältnisse für junge Familien mit Kleinkindern oder lokale Versorgungsengpässe.
Mit dem "Rechtsstaat" hat das aber nix zu tun, ich vermute mal (Wer weiß es genau?) ähnlich konnte man sich auch in der NS-Zeit bei der Gauleitung über einen unfähigen Ortsbauernführer beschweren.

Was in der DDR mit Leuten passierte, die die eigene Verfassung bzw. das Helsinki-Dokument allzu wörtlich nahmen, ist bekannt. Im "günstigsten Fall" wurden sie als Querulanten unter Hausarrest gestellt oder bekamen zumindest polizeiliche Meldeauflagen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zurück zum Zivilrecht:

Das ZGB der DDR war gegenüber dem BGB deutlich kürzer. Dies hatte seinen Grund nicht zuletzt auch darin, dass in dem ZGB sehr viele nicht näher bestimmte Begriffe enthalten waren, die von den Gerichten auszulegen und auszufüllen waren (deutlich mehr als im BGB). Solche "Bewertungsbegriffe" liessen freilich auch mehr Spielraum für Einzelfallentscheidungen, aber auch der richterlichen Willkür (vor allem wenn sich der Richter als Vollzugsinstrument der Partei verstand).

Hierzu folgender (mir persönlich bekannter) Fall:
A bewohnte zu DDR-Zeiten ein Haus. Im Nachbarhaus zog N mit seiner Familie ein. Dieser hatte das Haus aus "gesundheitlichen Gründen" (besser: wegen seiner guten Kontakte) zugewiesen bekommen. Kaum angekommen bepflanzte N die Grundstücksgrenze mit hochwachsenden Tannen. Als A im Dunkeln sass und sich N weigerte, die (hochgewachsene) Bepflanzung zu beseitigen oder zu kürzen, überlegte sich A (dies war zu DDR-Zeiten), ob er offiziell gegen die Bepflanzung vorgehen sollte. Das traute er sich aber wegen dessen guten Kontakten nicht. Er hatte Angst, Schwierigkeiten zu bekommen und kneifte.

Angenommen A wäre zu DDR-Zeiten gegen die Bepflanzung vorgegangen. Hätte er Erfolg gehabt?

Entscheidend hierfür wären die §§ 316 ff. ZGB gewesen. § 316 lautete: "Grundsatz. Die Grundstücksnachbarn haben ihre nachbarlichen, Beziehungen so zu gestalten; daß ihre individuellen und kollektiven Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen übereinstimmen und gegenseitig keine Nachteile oder Belästigungen aus der Nutzung der Grundstücke und Gebäude entstehen. Zur Beilegung von Konflikten haben sie verantwortungsbewußt zusammenzuwirken."

Die Bestimmung war gummimäßig dehnbar abgefasst. Sie konnte so gelesen werden, dass A aus der Nutzung des Grundstücks durch N keine Nachteile entstehen sollten. Die Bestimmung konnte aber auch so gelesen werden, dass A auf "die Gesundheit" von N Rücksicht nehmen und deshalb die Anpflanzung hinnehmen sollte.

Der Mangel an Rechtsstaatlichkeit zeigte sich hier an der Unbestimmtheit der Regel, die gelten sollte, und dass sich A nicht sicher sein konnte, dass N über seine guten Kontakte auf das Ergebnis der Rechtsanwendung Einfluss nehmen konnte.

PS: nach der Wiedervereinigung wurden die Bäume gefällt.
 
Erst mal vielen Dank für die vielen Wortmeldungen und Anregungen. Ich möchte hier auch einmal auf die Paragraphengeschichte von @Melchior eingehen und einen weiteren zur Diskussion stellen und zwar aus dem Stafgesetzbuch:
„§ 217. Zusammenrottung. (1) Wer sich an einer die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung von Personen beteiligt und sie nicht unverzüglich nach Aufforderung durch die Sicherheitsorgane verläßt, wird mit Haftstrafe oder Geldstrafe bestraft.

(2) Wer eine Zusammenrottung organisiert oder anführt (Rädelsführer), wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.

(3) Der Versuch ist strafbar.“
Strafgesetzbuch der DDR (1968/74)
Dieser Paragraf war mir schon immer suspekt und ich denke, daß er doch ausschießlich politisch motiviert war, oder?
 
Der Mangel an Rechtsstaatlichkeit zeigte sich hier an der Unbestimmtheit der Regel, die gelten sollte, und dass sich A nicht sicher sein konnte, dass N über seine guten Kontakte auf das Ergebnis der Rechtsanwendung Einfluss nehmen konnte.

Der Hinweis macht mich etwas nachdenklich:

Im angelsächsischen Recht hat die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und (auslegungsbedürftiger) "Generalnormen" lange Tradition. Die sich auch daraus ergebenden Interpretationsräume werden praktisch durch ein "case law" ausgefüllt.

Ich würde daher die Betonung nicht so sehr auf die Unbestimmtheit der Rechtsregeln, sondern auf die Rechtswirklichkeit in den Gerichtssäalen legen (also das Problem der politischen Justierung der Judikative).
 
Der Hinweis macht mich etwas nachdenklich:

Im angelsächsischen Recht hat die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und (auslegungsbedürftiger) "Generalnormen" lange Tradition. Die sich auch daraus ergebenden Interpretationsräume werden praktisch durch ein "case law" ausgefüllt.

Ich würde daher die Betonung nicht so sehr auf die Unbestimmtheit der Rechtsregeln, sondern auf die Rechtswirklichkeit in den Gerichtssäalen legen (also das Problem der politischen Justierung der Judikative).

@silesia

Du hast einerseits recht mit Deinem Euphemismus :winke: "politische(n) Justierung der Judikativen" und dem Hinweis auf die "Rechtswirklichkeit in den Gerichtssälen", andererseits steht aber die Rechtsetzung in der ehemaligen DDR in der Tradition des positiven Rechts. Der Verweis auf die angelsächsische Tradition des "case law" in der Ausgestaltung allgemein formulierter Rechtsregeln in Bezug auf die DDR hätte eine starke Judikative in der DDR zur Voraussetzung gehabt.

@Barbarossa

Der § 217 war m.E. politisch motiviert, obwohl er auch gegen völlig unpolitische Aktivitäten wie das Treffen von Punks etc. eingesetzt werden konnte. Besonders interessant an diesem § ist die Formulierung: "...sie nicht unverzüglich nach Aufforderung durch die Sicherheitsorgane verläßt,...".

D.h. es gibt keine judikative Nachprüfungsmöglichkeiten für Entscheidungen der Exekutive. Im übrigen fehlt in § 217 (1) die exakte Strafandrohung. Nur die "Rädelsführerschaft" wird mit einer genauen Strafandrohung juristisch bewehrt, und zwar zwischen 1 und 5 Jahren. Hier könnte der "politisch justierte" Richter im Analogieschlußverfahren auch für einen einfachen Teilnehmer an einer "Zusammenrottung" eine Haftstrafe von unter 5 a verhängen. An dieser Stelle wäre eine Statistik mit Verurteilungen nach § 217 (StGb der DDR) interessant, bis dato habe ich nur das gefunden: BGH – Beschluss vom 22.10.2001, Aktenzeichen: AnwZ B 10/99 (Quelle: BGH - Beschluss vom 22.10.2001, Aktenzeichen: AnwZ B 10/99 - Urteile-Sammlung von Juraforum.de), etwas dünn und kommerziell.

Das könnte weiterhelfen, vllt.:

Strafjustiz und DDR-Unrecht ... - Google Bücher,


M.

O.T.: Die Konnotation des Begriffes "Zusammenrottung" sei hier nur angemerkt.
 
Der Hinweis macht mich etwas nachdenklich:

Im angelsächsischen Recht hat die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und (auslegungsbedürftiger) "Generalnormen" lange Tradition. Die sich auch daraus ergebenden Interpretationsräume werden praktisch durch ein "case law" ausgefüllt.

Ich würde daher die Betonung nicht so sehr auf die Unbestimmtheit der Rechtsregeln, sondern auf die Rechtswirklichkeit in den Gerichtssäalen legen (also das Problem der politischen Justierung der Judikative).
Der Hinweis macht mich auch nachdenklich.

Immerhin besteht fast das ganze angelsächsische Recht aus "case law". Charakteristisch für dieses Rechtssystem ist, dass der Rechtsanwender gezwungen ist, sich mit einer Vielzahl zuvor entschiedener Fälle auseinanderzusetzen und exakt zu begründen, worin in dem vorliegenden Fall die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede liegen. Der Zwang zu solcher Auseinandersetzung stellt für Willkürentscheidungen ein gewisses Hemmnis dar. Hierin scheint mir doch ein wichtiger Unterschied zu gummihaft dehnbaren abstrakten Paragraphen zu bestehen, aus denen alles und nichts abgeleitet werden kann, und einem Urteil, dass sich lapidar auf diesen Paragraphen beruft.
OT: Das BVerfG hat in den Fällen, in denen es bundesdeutsche Gerichtsurteile wegen "richterlicher Willkür" aufgehoben hat, die Aufhebung auch damit begründet, dass die betroffenen Urteile die Auseinandersetzung mit der Judikatur (insbesondere mit der des BVerfG) vermissen liessen und deshalb nicht nachvollziehbar sei, weshalb das Gericht von dieser abweiche./OT

Ein Nebenprodukt des "case law" sind Berge von Urteilssammlungen, ausgeprägte fachwissenschaftliche Diskussionen, die sich in einer Vielzahl von juristischen Fachzeitschriften niederschlagen, etc. Und nun meine Frage: Welche fachwissenschaftliche Diskussionen gab es zu DDR-Zeiten eigentlich zum ZGB?

Es gab eine einzige juristische Fachzeitschrift ("Neue Justiz"), ein Lehrbuch zum ZGB und ein Kommentar zum ZGB, herausgegeben vom Justizministerium der DDR. Selbst in dem angeblich so unpolitischen Bereich wie der Zivilrechtspflege war ein Meinungsstreit mit einer Vielfalt von Kommentarliteratur in der DDR weitgehend unbekannt.

Hier mal ein ganz konkretes Beispiel für die Problematik eines solchen Diskussionsversuches: in der DDR hatte das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft die Streitigkeiten, die sich aus Kleingartenpachtverträgen ergaben, per Anordnung der Zivilgerichtsbarkeit entzogen und den Verwaltungsorganen - z.B. auf die Räte der Kreise - übertragen. 1956 schrieb Prof. Klenner in einem Fachaufsatz, dass er Zweifel habe, dass diese Vorgehensweise mit dem Gerichtsverfassungsgesetz der DDR vereinbar sei. Der Aufsatz konnte erst im Mai 1990 veröffentlicht werden, vgl. H. Klenner, Staat und Recht, 1990, S. 377.

Angenommen ein Bürger der DDR hätte Klage beim zuständigen Zivilgericht erhoben mit dem Argument, dass die Anordnung des Ministers rechtswidrig ist, ...
 
Zuletzt bearbeitet:
Angenommen ein Bürger der DDR hätte Klage beim zuständigen Zivilgericht erhoben mit dem Argument, dass die Anordnung des Ministers rechtswidrig ist, ...

Die Klage wäre erst gar nicht zur Entscheidung angenommen worden.

Hier möchte ich darauf hinweisen , das eine Vielzahl von Streitigkeiten , welche heute vor Zivilgerichten verhandelt werden in der DDR vor den
" Schiedskommissionen" , welche meist regional zuständig waren zB.
für begrenzte Stadtteile , verhandelt wurden.
Allerdings maximal Tatbestände mit Vergehenscharakter.
Das waren öffentliche Verhandlungen und wurden von Richtern oder Staatsanwälten begleitet.
Dieses Instrument war wohl in Anlehnung an die Idee der " Volksjustiz"
geschaffen.

Die " Neue Justiz " hatte ich jahrelang abonniert und muss sagen , darin
wurden bestimmte Verfahren insbesondere Berufungen und Revisionen auszugsweise Veröffentlicht.
Man bekam dadurch ein recht gutes Gefühl , wohin der Justiz -Hase =)
in der DDR eigentlich lief.....
Im Prinzip wurde hier die Judikatur der DDR-Obergerichte vorgestellt.
Mir persönlich hat das einige Male gut genützt.
 
Ein Nebenprodukt des "case law" sind Berge von Urteilssammlungen, ausgeprägte fachwissenschaftliche Diskussionen, die sich in einer Vielzahl von juristischen Fachzeitschriften niederschlagen, etc. Und nun meine Frage: Welche fachwissenschaftliche Diskussionen gab es zu DDR-Zeiten eigentlich zum ZGB?

Wir haben da keinen Dissens, diese Bedingung der Funktionsweise ist mir klar.

Mir ging es nur darum, die Frage reichlich verwendeter unbestimmter, durch die Rechtsprechung ausfüllender Rechtsbegriffe in den Kontext der Rechtstaatlichkeit zu rücken.

Dazu ein anderes Beispiel, was in der DDR eine gewisse Brisanz hatte: das DDR-Umweltrecht. Die Rechtsgrundlage waren hier recht umfassend, Lücken konnten mit dem Allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, iVm Aspekten der Gefahrenabwehr gut aufgefüllt werden. Darüber hinaus gab es Spezialgesetze, wie DDR-Berggesetz, Atomrecht, Wassernutzungsrecht.

Die Praxis der Anwendung sah anders aus, Beispiel Berggesetz und Verwaltungsakte der Bergbehörden: sowohl Betriebspläne als auch Abschlußbetriebspläne waren (einzubeziehende Verwaltungsbehörden waren häufig die Kreisverwaltungen) formal auf Gefahrenabwehr und Rekultivierung gerichtet, in der Praxis mit den Kombinaten jedoch den ökonomischen (betriebsbedingten und finanziellen) Faktoren nachgeordnet. In Praxis zwei Beispiele: 1. wenn im Kali die Planerfüllung entsprechende Abbauvolumina notwendig machte, ging man bergtechnisch an das Limit der Stützfähigkeit der verbleibenden Pfeiler; 2. wenngleich Abschlußbetriebspläne und DDR-Bergrecht Rekultivierung zB der Restlöcher verlangten, hing die Realisierung an der finanziellen Machbarkeit.

Weder gab es die Möglichkeit, hier seitens der Bürger eintzuschreiten noch waren die Verwaltungsbehörden nur ansatzweise objektiv tätig, auch als (Gegenpart und) Aufsichtsbehörde zu den Betrieben. Grundproblem im Bergrecht: was ist Rekultivierung, wie (und gegen wen) werden Gefahren definiert.
 
@Barbarossa

Bis dato habe ich nichts besseres gefunden. Hier hast Du auch viele Angaben zu Primär- und Sekundärquellen. Zur Manipulation der Kriminalitätsstatistik der zweite Link. Der dritte Link ist kommerziell. Der vierte Link ist besonders wegen der Literaturangaben interessant.

http://hsr-trans.zhsf.uni-koeln.de/hsrretro/docs/artikel/hsr/hsr1998_470.pdf

http://www.harrywaibel.de/anlagen_archiv/Manipulierte%20Kriminalitaetsstatistik%20in%20der%20DDR.pdf

SpringerLink - Book Chapter

forum histioriae iuris - Marcus Mollnau

Vllt. helfen Dir die Angaben.


M.
 
Ein Rechtsstaat setzt allgemeine Bürgerrechte voraus. Die DDR hatte für seine Bürger keine Rechte eingeplant. An erster Stelle in der DDR-Verfassung steht, dass die SED sämtliche Rechte an Staat und Volk besaß. Deshalb nannte man die DDR nicht zu Unrecht SED-Staat:

Dies ist allerdings ein Zusatz zum Artikel 1, der erst bei der Verfassungsänderung 1974 gemacht wurde. Die SED ließ dabei sozusagen die Maske fallen. Der ursprüngliche Verfassungstext von 1949 liest sich über weite Strecken so, als handelte es sich bei der DDR tatsächlich um eine demokratische Republik. Er hat zwar auch seine Pferdefüße - gerade beim Stichwort Gewaltenteilung - , die aber nicht so ohne weiteres zu erkennen sind.
 
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