Wie wurde die Ausgrenzung der Juden ab 1933 umgesetzt?

Ein Zitat aus dem Roman "Der Zauberberg" von Thomas Mann, 1924 erschienen, 1912-14/15 und 1920-23/24 geschrieben.
Das Zitat ist aus dem 7. Kapitel, Abschnitt "die große Gereiztheit", also gegen Ende des Romans.
Die erzählte Zeit des Romans sind die sieben Jahre 1907-14 vor dem Ersten Weltkrieg, mit dem Beginn des Kriegs endet der Roman.
Ein Mann trat in die Berghofgemeinschaft ein, ein ehemaliger Kaufmann, dreißigjährig, schon lange febril, seit Jahren von Anstalt zu Anstalt gewandert. Der Mann war Judengegner, Antisemit, war es grundsätzlich und sportsmäßig, mit freudiger Versessenheit, - die aufgelesene Verneinung war Stolz und Inhalt seines Lebens. Er war ein Kaufmann gewesen, er war es nicht mehr, er war nichts in der Welt, aber ein Judenfeind war er geblieben. Er war sehr ernstlich krank, hustete schwer beladen und tat zwischendurch, als ob er mit der Lunge nieste, hoch, kurz, einmalig, unheimlich. Jedoch war er kein Jude, und das war das Positive an ihm. Sein Name war Wiedemann, ein christlicher Name, kein unreiner. Er hielt sich eine Zeitschrift, genannt »Die arische Leuchte«, und führte Reden wie diese:
»Ich komme ins Sanatorium X. in A . . . Wie ich mich in der Liegehalle installieren will, - wer liegt links von mir im Stuhl? Der Herr Hirsch! Wer liegt rechts? Der Herr Wolf! Selbstverständlich bin ich sofort gereist« usw.
»Du hast es nötig!« dachte Hans Castorp mit Abneigung.
Wiedemann hatte einen kurzen, lauernden Blick. Es sah tatsächlich und unbildlich so aus, als hinge dicht vor seiner Nase eine Puschel, auf die er boshaft schielte und hinter der er nichts mehr sah. Die Mißidee, die ihn ritt, war zu einem juckenden Mißtrauen, einer rastlosen Verfolgungsmanie geworden, die ihn trieb, Unreinheit, die sich in seiner Nähe versteckt oder verlarvt halten mochte, hervorzuziehen und der Schande zuzuführen. Er stichelte, verdächtigte und geiferte, wo er ging und stand. Und kurz, das Betreiben der Anprangerung alles Lebens, das nicht den Vorzug besaß, der sein einziger war, füllte seine Tage aus. Die inneren Umstände nun, mit deren Andeutung wir eben
befaßt sind, verschlimmerten das Leiden dieses Mannes außerordentlich; und da es nicht fehlen konnte, daß er auch hier auf Leben stieß, das den Nachteil aufwies, von dem er, Wiedemann, frei war, so kam es unter dem Einfluß jener Umstände zu einer Elendsszene, der Hans Castorp beizuwohnen hatte und die uns als weiteres Beispiel für das zu Schildernde dienen muß.
Denn es war da ein anderer Mann, - zu entlarven gab es nichts, was ihn betraf, der Fall war klar. Dieser Mann hieß Sonnenschein, und da man nicht schmutziger heißen konnte, so bildete Sonnenscheins Person vom ersten Tage an die Puschel, die vor Wiedemanns Nase hing, auf die er kurz und boshaft schielte, und nach der er mit der Hand schlug, fast weniger, um sie zu verjagen, als um sie ins Pendeln zu versetzen, damit sie ihn desto besser reize.
Sonnenschein, Kaufmann, wie der andere, von Hause aus, war ebenfalls recht ernstlich krank und krankhaft empfindlich.
Die Vorschau verkleinert zitierte Texte gern, sodass man diese erst anklicken muss, um sie vollständig zu lesen - ich habe ein paar Sätze durch Unterstreichung markiert, weil sie als aufschlußreich für das in diesem Faden diskutierte Thema sind.

Der Roman spielt in einem Lungensanatorium in Davos, dessen internationale Kundschaft sich einzig aus sehr wohlhabenden Schichten rekrutiert; die mondäne upper class der späten Jugendstilzeit. Es sind also nicht die dörflichen Verhältnisse in der Provinz, sondern quasi der Jetset. Bzgl. des Themas hier ist zuerst interessant, dass der Begriff "Antisemitismus" in diesem literarischen Text von 1924 (!) auftaucht, und das durchaus in einem Sinn, welcher über den Antijudaismus des 19. Jhs. hinausgeht. Dieser offenbar gesellschaftsfähige Antisemitismus des frühen 20. Jhs. ist eine der widersprüchlichen Komponenten der späten Jugendstilzeit. Diese rassistische Ablehnung manifestierte sich in der Zeit von 1890 bis in die Weimarer Republik: der dt.-österr. Alpenverein machte einen Ariernachweis zur Voraussetzung der Vereinsmitgliedschaft, antisemitische Publikationen jeglicher Couleur waren nicht verboten, sondern fanden Absatz, die Nordseebäder (Bäderantisemitismus) boomten und warben mit "Juden unerwünscht" usw usw - - dieses Klima ist der Hintergrund des Romans. Das Zitat ist die einzige längere Textstelle, welche auf den rassistischen Antisemitismus zu sprechen kommt (und ihn implizit als negativ wertet), aber nicht die einzige: in einem vermeintlich harmlosen Gespräch zwischen dem Protagonisten Hans Castorp und seinem Vetter, dem Offiziersanwärter Joachim Ziemßen, äußert letzterer sein Unbehagen über den Jesuiten (sic) Leo Naphtha mit der Begründung, dieser sei "so miekrig wie alle Semiten".
Thomas Mann fabuliert offensichtlich nicht ins Blaue hinein, sondern flicht sehr präzise allerlei Zeitumstände in seinen großen Zeitroman ein. In diesem Sinne ist die oben zitierte Textstelle eine typisierende, zusammenfassende Quelle für das, worauf man sich - ganz offenbar in der kultivierten mondänen Upperclass in nicht kleinen Anteilen auch - ab 1933 und später aufbauend stützen konnte! Man kann von einem schon rassistisch eingestellten Antisemitismus im Zeitraum 1900-1924 im deutschsprachigen Raum, in Frankreich (Dreyfusaffäre) und Russland sprechen (das Wort Pogrom stammt aus dem russischen; Artur Rubinstein als Teilnehmer am Tschaikowski-Wettbewerb kurz vorm Ersten Weltkrieg durfte als Jude nicht im Stadtgebiet von Moskau untergebracht werden, er musste sehr weite Wege von Unterkunft zum Konservatorium in kauf nehmen)

noch zum Text: es wird sehr raffiniert changierend erzählt, man darf nicht glauben, dass jeder Satz die Meinung oder Haltung des auktorialen Erzählers oder gar des Autors wiedergibt. In feinen Abstufungen wechselt Mann zwischen personalem auktorialen Erzähler ("wir wollen die Geschichte von Hans Castorp erzählen"), perspektivischem Erzählen, erlebter Rede und Bewußtseinsstrom hin und her, oftmals auch in einem einzigen Satz - kurzum ist der Text sehr trickreich erzählend. "jedoch war er kein Jude, und das war das Positive an ihm" ist kein Erzählerkommentar, sondern die Perspektive der Figur Wiedemann.
 
Man sagt ja den Deutschen nach, dass sie "Vereinsmeier" seien. Seit dem 19. Jahrhundert spielten Vereine eine bedeutende Rolle im sozialen Leben. Zahlreiche Turn- und Sportvereine widmeten sich bereits vor dem 2. Weltkrieg der "schönsten" Nebensache der Welt: dem Fußball. Auch Boxen wurde mit großer Leidenschaft ausgeübt, und natürlich schlossen sich auch Schachspieler, Wanderer, Brieftaubenzüchter Kegler, Freunde des Gesangs u. a. Vereinen an. Nicht zu vergessen Deutschlands Angler. Ende des 19. Jahrhunderts war auch in Deutschland nach britischem Vorbild die Sportfischerei aufgelebt, auch in Deutschland hatten sich zunehmend Hersteller auf den Bau von Angelgerät spezialisiert.

Mit der modernen Industriegesellschaft wuchs auch das Bedürfnis der Freizeitgestaltung, Hobbys wurden kultiviert und gepflegt, und dabei spielten Vereine in Deutschland traditionell eine wichtige Rolle. Angelvereine ermöglichten es Sportfischern, ihr Hobby auszuüben, ohne erst vorher die Fischereirechte und das Gewässer kaufen oder pachten zu müssen. Für Mannschaftsspiele benötigt man Spieler, und die Spieler organisierten sich in Vereinen.

Die Vereine gleichzuschalten, bedeutete Einfluss auf einen Großteil der Deutschen ausüben zu können und das bei etwas, für das man Passion empfand. Etliche Vereine wurden verboten, andere gleichgeschaltet oder von NS-Verbänden übernommen. Reitervereine wurden von der Reiter SS übernommen. Etliche Sportarten, Hobbys und Freizeitaktivitäten konnte man im Laufe de 1930er Jahre kaum oder gar nicht mehr ausüben, ohne einer Parteiorganisation beizutreten.

Im Rheinland spielte auch damals der Karneval eine große Rolle, und die Nazis waren bemüht, auch traditionsreiche Karnevalsvereine gleichzuschalten.

Viele Vereine ließen sich willig gleichschalten oder beeilten sich, in vorauseilendem Gehorsam sich den Nazis anzudienen.

In fast allen Angel, Gesang, Sport-, und sonstigen Vereinen waren natürlich auch Juden engagiert. Viele Juden nahmen lebhaft am Vereinsleben teil und waren als Mitglieder engagiert.

Nach 1933 erließen zahlreiche Vereine Arierparagraphen oder schlossen Juden aus. Für etliche Juden bedeutete das, dass ziemlich plötzlich Schluss war mit einem geliebten Hobby. Mit der Jagd war für Juden schon bald nach 1933 Schluss, und die Gewässer, in denen Juden legal die Angel auswerfen konnte, wurden auch immer rarer.

Was für Juden besonders kränkend gewesen sein muss, war dass zahlreiche Vereine in Deutschland in vorauseilendem Gehorsam vielfach verdiente jüdische Mitglieder und Vereinskameraden mobbten, ausschlossen und schnitten, ohne dass dabei Zwang oder Druck seitens der Partei ausgeübt werden musste.
 
Was für Juden besonders kränkend gewesen sein muss, war dass zahlreiche Vereine in Deutschland in vorauseilendem Gehorsam vielfach verdiente jüdische Mitglieder und Vereinskameraden mobbten, ausschlossen und schnitten, ohne dass dabei Zwang oder Druck seitens der Partei ausgeübt werden musste.
Freilich kam derartiges nicht wie ein plötzliches Unwetter überraschend daher, sondern konnte sich an mancherlei "Tradition" sozusagen aus der Zeit des späten Kaiserreichs anlehnen: exemplarisch hierfür der dt.-österr. Alpenverein (1899 "nur für christlich getaufte, deutsche Staatsbürger", 1907 Ariernachweis) sowie der Bäderantisemitismus.
 
Auch ein plötzliches Unwetter kündigt sich in der Regel an. Für viele Juden kamen feindselige Reaktionen, vor allem von Leuten, von denen man es nicht erwartete doch überraschend. Etliche Holocaust-Überlebende berichteten, dass sich das Verhalten von Teilen der nicht-jüdischen Bevölkerung nach 1933 änderte, das Bekannte den Kontakt einstellten, aufhörten, zu grüßen und einige auch feindselig reagierten, mit denen man vorher freundschaftlich verkehrt hatte. Ein Hans Frankenthal berichtete, dass er und seine Brüder es kaum fassen konnten, als sie ein Bademeister aus dem lokalen Schwimmbad warf. Vor 1933 war das ein Freund des Hauses gewesen, seine Schwester war Kindermädchen bei Frankenthals gewesen und hatte die Kinder praktisch aufgezogen. Natürlich ist der Antisemitismus nicht vom Himmel gefallen, und es gab im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik immer wieder unpassende Gelegenheiten, Juden wissen zu lassen, dass man lieber unter sich war, dass sie unerwünscht waren. Der oft als "Turnvater" verharmloste Friedrich Ludwig Jahn war schon im Vormärz heftig antisemitisch aufgeladen, und es gab eine Reihe von Turn- und Sport- und natürlich auch sonstigen Vereinen, die recht deutlich durchblicken ließen, dass Juden eher unerwünscht waren. Trotzdem waren in den meisten deutschen Gemeinden Juden natürlich am Vereinsleben beteiligt, sie waren Mitglieder der unterschiedlichsten Vereine geworden, und mancherorts, wo antisemitische Deutsche lieber unter sich sein wollten, hatten sie einfach mit anderen Juden eigene Vereine gegründet.

Ein nicht unbeträchtlicher Teil der deutschen Juden war vor 1933 kaum bewusst, dass sie Juden waren. Vorfahren waren zu einer Konfession konvertiert oder sie praktizierten nicht den mosaischen Glauben. Die Familie von Inge Deutschkron war sozialdemokratisch gesinnt, feierte keine jüdischen Feste, hielt keine Speisegebote ein. In einer Autobiographie "Plötzlich hieß ich Sara" berichtete Inge Deutschkron von ihren Erfahrungen.

Ausdrücklich jüdische Vereine und Arbeitervereine wurden vielfach bald nach 1933 verboten. Andere Vereine wurden gleichgeschaltet von Parteimitgliedern "übernommen" oder sie passten sich aus Eigeniniative und vorauseilendem Gehorsam dem neuen Zeitgeist an.
 
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