Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion

Zoki55

Aktives Mitglied
Hallo liebe Community,

ich habe gerade den Wikipedia Text zur Industrialisierung unter Stalin gelesen. Die Zahlen von zusätzlicher Kohle, Stahl e.t.c. sind ja beeindruckend. Trotzdem ist das Wachstum nach heutigen Schätzungen, doch eher bescheiden.

In der Wikipedia zu dem Wachstum in der Sowjetunion wird eine Grafik gezeigt wo nur ein Wachstum von 3 % geschätzt wird, statt den 14 % Economy of the Soviet Union - Wikipedia.

Liegt es nur daran, dass die Schwerindustrie nach vorne kam und alles andere stagnierte oder schrumpfte?
 
Im Prinzip ist die Literaturbasis des Wiki-Beitrags ok.

Davies stellt die unterschiedlichen Schätzungen für die Industrieproduktion aus dem Westen und Osten gegenüber. Er betrachtet die Periode 1928 - 1940.

Die offiziellen Schätzungen, die von Seton, von Hodgman, Nutter oder Kaplan-Moorsteen (Table 24, S. 292) weichen voneinander ab. Die Varianz der Berechnungen reicht für diese Periode für die "industrial production" von 7 bis 9 über 13 zu 16,8 bzw 21, 7 %.

Für das GNP wird von 1928 ein Wert von 128 (billion rubbles at 1937 factor cost) berichtet, der bis 1940 auf 223,6 ansteigt. (Table 1, S. 269)

Der Wert von drei Prozent scheint problematisch zu sein.

Insgesamt kam die sowjetische Wirtschaft teilweise besser durch diese Jahre und konnte eine exportfinanzierte Industrialisierung brachial vorantreiben. Mit fürchterlichen Kosten für das Leben der Menschen (vgl. Siegelbaum & Sokolov: Stalinism as a way of life). Eine gute Beschreibung der Strategie der Industriealisierung findet sich bei Kotkin (Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization)

Davies, R. W. (1994): Industry. In: Robert William Davies, Mark Harrison und S. G. Wheatcroft (Hg.): The economic transformation of the Soviet Union, l9l3-45. Cambridge: Cambridge University Press, S. 131–157.
 
Zuletzt bearbeitet:
Noch eine Ergänzung zur Berechnung. Powell berichtet eine Tabelle (Table IV.1. UdSSR: Final Industrial Product, Annual Rate of Change, ...1928-1958, S. 155)

Für die Periode lassen sich drei prozentuale Steigerungen berechnen 9.8 % zu 1937 Preisen, 16,1 % zu 1928 Preisen und 8,4 % zu 1950 Preisen.

Die unterschiedlichen Berechnungsverfahren mit ihren Problemen werden ausführlicher in diesem Beitrag diskutiert.

Powell, Raymond P. (1963): Industrial Production. In: Abram Bergson und Simon Kuznets (Hg.): Economic trends in the Soviet Union. Cambridge: Harvard University Press, S. 150–202.
 
Vielleicht sollte man mal dazu sagen: mit 3% ist das jährliche Wachstum gemeint.
Sozialproduktsberechnungen für Zentralverwaltungswirtschaften scheinen mir prinzipiell zweifelhaft, denn die produzierten Güter müssen ja bewertet werden. Die Preise leiten sich aber anders als in Marktwirtschaften nicht aus Bewertungen der Verbraucher ab, und deshalb müssen die Zahlen, die nach Aggregation herauskommen, willkürlich bleiben, und taugen auch nicht als Wohlstandsindikator.
(Ein perfekter Wohlstandsindikator ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf natürlich auch in Marktwirtschaften nicht, aber es sagt immerhin schon einiges in der Richtung aus.)
 
Es ging im wesentlichen um die Frage nach der Dynamik der Industriealisierung. Und dazu wurden die entsprechenden Zahlen geliefert, mit Bezug auf Referenzwerke.

Zur Problematik der generellen Berechnung von Wachstum ist der Beitrag von Nove hilfreich (Appendix: A Note on Growth Rates S. 430-438).

Ansonsten ist das Problem mehrerlei Hinsicht deutlich komplizierter wie Clemens64 es andeutet. Die westlichen Forscher "use Soviet physical output data as their raw materials." (S. 430) und berechnen ihre Werte auf der Basis der sowjetischen Preise angepasst.

In diesem Sinne schreibt Nove: "Even the most carfull and painstaking use of Soviet price list - and Bergson, Moorsteen, Nutter and other American analysts are more thourough and use every scrap of evidence available - does not free them from the necessity of devising price indices to act as deflators, and this is a task frught with great difficulty for reason already given." (ebdn. S. 436)

An diesem Punkt setzt zusätzlich die Frage nach der Korrektheit der Daten ein und es wird in Bezug auf die "Zeitreihen" das "law of equal cheating" unterstellt, um Veränderungen substantiell deuten zu können.

Gleichzeitig veränderten sich die Preise in der UdSSR sehr wohl, da die Faktorpreise sich veränderten. So berichtete ein Beitrag aus dem Jahr 1987, dass in den letzten 15 Jahren der durchschnittliche Preis für Baumwollkleidung und Schuhe um 60 Prozent gestiegen sein, gleichzeitig der offizielle Preis sich nicht verändert habe.

Insgesamt ist die präzise statistische Beschreibung, und darauf hatte ich in #2 hingewiesen, des industriellen Wachstums der UdSSR aus vielen Gründen schwierig und man kann nur auf die methodischen und erfassungstechnischen Probleme hinweisen, die diese Kennzahlen aufweisen. Das Engagement des CIA zu präziseren Messung verdeutlicht die Relevanz und die Schwierigkeit des Themas.

Nove, Alec (1989): An economic history of U.S.S.R. 2nd ed. London: Penguin Books
 
Die Literaturhinweise sind natürlich sehr hilfreich. Und die Aussage:
Gleichzeitig veränderten sich die Preise in der UdSSR sehr wohl, da die Faktorpreise sich veränderten. So berichtete ein Beitrag aus dem Jahr 1987, dass in den letzten 15 Jahren der durchschnittliche Preis für Baumwollkleidung und Schuhe um 60 Prozent gestiegen sein, gleichzeitig der offizielle Preis sich nicht verändert habe.
gibt einen guten Eindruck davon, was für ein Kuddelmuddel das Preissystem im real existierenden Sozialismus war.
 
Interessant dazu ist auch der entscheidende Beitrag von amerikanischen und deutschen Ingenieuren. Ohne deren Mitwirkung hätte die Industrialierung der Sowjetunion, die oft mit dem Namen Stalin in Verbindung gebracht wird, wohl kaum so stattgefunden.
Industrialization in the Soviet Union - Wikipedia
Albert Kahn (architect) - Wikipedia

On May 8, 1929, through an agreement signed with Kahn by Saul G. Bron, President of Amtorg, the Soviet government contracted Albert Kahn Associates to help design the Stalingrad Tractor Plant, the first tractor plant in the USSR. On January 9, 1930, a second contract with Kahn was signed for his firm to become consulting architects for all industrial construction in the Soviet Union. Under these contracts, during 1929–1932 and the Great Depression, Kahn's firm established a design and training bureau in Moscow to train and supervise Soviet architects and engineers. This bureau, under the government's Gosproektstroi, was headed by Moritz Kahn and 25 others of Kahn Associates staff, who worked in Moscow during this project. They trained more than 4,000 Soviet architects and engineers and designed 521 plants and factories under the nation's first five-year plan.
 
Ich erlaube mir ein paar Sätze zur russischen Industrialisierung zu schreiben.
Diese Industriealisierung würde ich wie folgt darstellen:

1. Um 1800 war ja Russland eine rückständige VW. Es dominierte die landwirtschaftliche Produktion.

2. Der verlorene Krimkrieg 1853 – 1856 (Alliierte (Frankreich, Osmanisches Reich, Vereinigtes Königreich und Königreich Sardinien) gegen Russland war dann sowas wie eine Initialzündung die Anstoß zu Reformen gab. So wurde beispielsweise 1861 die Leibeigenschaft abgeschafft.

3. Das war die Stunde eines Wirtschaftsreformer Namens Sergei Witte (1849 – 1915). Er arrangierte erfolgreich ausländische Investitionen zum Aufbau einer russischen Industrie.
Wer Sergei Witte ist, bitte hier -> https://de.wikipedia.org/wiki/Sergei_Juljewitsch_Witte

4. Wittes Reformen lösten/führten zu einem deutlichen Wachstum der Industrieprodukten. Dies ging einher mit einem Wachstum der Arbeiterschaft, bei gleichzeitiger Verbesserung/Wachstum der Infrastruktur in den Städten.
Man muss ja berücksichtigen, so um 1800 gab es nur 2 russische Städte (Moskau und Sankt Petersburg) mit einer Einwohnerzahl > 100.000 Einwohner. So ab 1910 verzeichnet man dann schon 12 Städte mit dieser Einwohnerzahl.

5. Der große Wirtschaftstheoretiker Alexander Gerschenkron nannte diese Periode „den großen Schub“.
Wer Alexander Gerschenkron ist, bitte hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Gerschenkron
 
Zuletzt bearbeitet:
Zurück
Oben