Ich habe mich jetzt mal mit dem Thema etwas ausführlicher beschäftigt und mich eingelesen. Bedient habe ich mich bei:
R.J. Holton: The Transition from Feudalism to Capitalism. London 1988, S.11-63.
Robert S. Lopez: The Commercial Revolution of the Middle Ages. Englewood Cliffs 1971.
Das ist dabei herausgekommen:
Verläuft die Wirtschaftsgeschichte von der klassischen Antike bis ins Mittelalter kontinuierlich?
Kontinuität beschreibt den Zustand des lückenlosen Zusammenhangs; keine klaren Abschnittsgrenzen, keinen Anfang mit einem deutlich abgeschlossenen Ende, vielmehr einen fließenden Übergang, meist unter gleichen oder ähnlichen Vorraussetzungen. Ein innerer Zusammenhang des gegebenen historischen Einzelnen.
Im Gegensatz dazu würde Diskontinuität in diesem speziellen Fall eine abrupte, sprunghafte Veränderung, unabhängige Entwicklung oder aber Stagnation bedeuten.
Im Sinne der Wirtschaftsgeschichte der klassischen Antike und des Mittelalters, bedeutet dies: Hat das Mittelalter das wirtschaftliche Gedankengut der klassischen Antike und seine Praktiken ohne zu unbewusst übernommen und weiterentwickelt? Gab es überhaupt eine ‚Übernahme’? Haben sich die Gepflogenheiten der klassischen Antike vielleicht im Laufe der Zeit ihrer Nutzung einfach nur weiterentwickelt? Oder ist alles mit dem Ende der klassischen Antike und der darauf folgenden Völkerwanderung untergegangen und das „Rad“ musste erst wieder erfunden werden?
Einer der größten Hemmschuhe der römischen, wie auch der feudalen Gesellschaft, war ihre agrarische Ausrichtung. Wer Geld hatte versuchte Ländereien zu erwerben. Wer Ländereien hatte, war ein gemachter Mann und versank gleichzeitig in der Mittelmäßigkeit, denn römische Landbesitzer mischten sich nicht in den Handel ein. Man hatte einen gewissen Stand an Ansehen und Reichtum erreicht, den man nicht durch Investitionen in risikoreiche Bereiche wie Handel und Technologie gefährden wollte. Da es noch keinen Mangel an billiger Arbeitskraft gab fehlte der Anreiz zu rationalisierenden Innovation.
Den Großgrundbesitzern gegenüber standen die kleinen Handwerker, Künstler und Arbeiter, denen es wiederum an arbeitserleichternden Gerätschaften und Mitarbeitern fehlte, um mehr als unbedingt nötig zu produzieren, was gleichzeitig bedeutete, dass sie nicht genügend Geld durch Verkauf erwirtschaften konnten, um sich Mitarbeiter oder Gerätschaften zu leisten; ein Teufelskreis.
Die Skandinavische Gesellschaft und die idealtypische Idee der Ritterlichkeit betrachteten, genauso wie die Menschen des Römischen Reiches, Luxus und „Geld zum Fenster hinaus werfen“ als eine der ehrenhaftesten Tugenden.
Robert S. Lopez bemerkt dazu: „The medieval lords on the whole were still more contemptuous of trade; the best one would expect of them was that they might patronize a slightly improved version of commercial and industrial mediocrity.“ (Lopez, S.56)
Die Idee des Profits war dem feudalen Zeitalter nicht fremd. Es gab durchaus Überfluss. Die Problematik lag eher darin, dass kaum einer die Möglichkeit ergriff und ausbaute. Wie in der römischen Gesellschaft, so war es einem angesehenen Mann auch im Feudalismus unangenehm mit Handel in Verbindung gebracht zu werden. Zwischen der herrschenden Klasse der Fürsten und der Bischöfe und den niedrigen Leibeigenen und Armen, war kaum Platz für eine Mittelschicht, die es sich leisten konnte in den Handel zu investieren. Mal ganz abgesehen davon: „Paupers were more acceptable than merchants: they would inherit the Kingdom of Heaven and help the almsgiving rich to earn entrance.“ (Lopez S.60)
Für die entscheidende Wende brauchte es einen Menschenschlag, der unter besonderen Voraussetzungen stand: die Juden. Nirgendwo daheim, aber auch nirgends fremd, ermöglichte ihnen ihre Zersplittertheit über ganz Europa und die ihnen von Herrschern auferlegten Einschränkungen in der Wahl ihrer Betätigungsfelder Sparten auszufüllen, die von niemand anderem besetzt waren: den Fernhandel. Ihre spezielle Stellung war u.a. Folge ihrer sozialen Stellung und religiösen Struktur: Unter unterprivilegierten Fremden konnte sich keine (militärische) Aristokratie entwickeln. Landwirtschaft war den Juden zwar nicht verboten, aber die Möglichkeit plötzlicher Vertreibung und mangelnder Unterstützung durch Nachbarn machte sie uninteressant. Von daher fiel der Handel den Juden „in den Schoß“, verstärkt noch durch ihre religiös bedingte Fähigkeit zu lesen und zu schreiben und eine, den Fernhandel ungemein erleichternde, gemeinsame Sprache. Überall wo es den Juden ermöglicht wurde ihre Einkünfte zu erlangen und wieder nach Gutdünken zu investieren, beschleunigten sie das Wirtschaftswachstum.
Ein weiterer wichtiger Spieler in der frühen Wirtschaftsgeschichte waren die italienischen Städte. Sie zeichneten sich durch eine Ausdehnung und Konzentration auf den Seehandel aus. Sie bauten große Schiffsflotten, in Anlehnung an die Schiffsbaukunst des römischen Reiches, um gegen die sie regelmäßig überfallenden Piraten und Muslime zu ziehen. Dadurch erzielten sie Einnahmen. Die bestehenden Schiffsflotten wurden im Folgenden verwendet, um Produkte der Stadt andernorts zu verkaufen, oder sie fremden Herrschern gegen Gebühren, Steuerfreiheit und Zollrechte, im Kampf zur Verfügung zu stellen. Diese Idee wurde bereits von dem Handels- und Seevolk der Phönizier verfolgt: Handel mit dem ganzen Mittelmeer und Militärhilfe zur See für die Perser.
Insofern hätte das antike Athen, mit seinem delisch-attischen Seebund ähnliches bewirken können, was Athen im Gegensatz zu den italienischen Städten fehlte, war die Entwicklung des italienischen Hinterlandes und seiner Gesellschaft, das auf die Erfolge der Städte und Kaufleute reagierte.
Griechenland hatte seinen Kaufleuten so heftige Steuern auferlegt, dass sie aus ihrem Handel kaum Profit zu ziehen vermochten. In Italien dagegen zog sich der Adel aufs Land zurück. Händlerfamilien und Nobilität heiraten ineinander ein und bilden so eine neue erfolgreiche Schicht der Magnaten. So gut wie alle Einwohner waren freie Menschen und jeder versuchte (im eigenen Interesse) am Handel teilzuhaben und unter der Führung der Magnaten ein gewisses Mitspracherecht in der Politik zu haben.
Palermo und andere süditalienische Städte dagegen, die von den Normannen eingenommen wurden und in denen wieder ein aristokratisches und feudales (Agrar-)System eingeführt wurde, verloren schnell ihre Macht und ihr Wirtschaftswachstum und verkümmerten.
Gerade die Wirtschaftskonkurrenz schürte immer wieder Kleinkriege zwischen den einzelnen oberitalienischen Städten. Aber während die Feudalherren in Nordeuropa in großen Kriegen um Landbesitz und Untertanen rangen, ging es in Italien um Zollrechte, Handelswaren, wirtschaftliche Einflussbereiche usw. In Italien war der Krieg Motor der Wirtschaftlichkeit, während nördlich der Alpen durch Kriege die agrarische Gesellschaft stagnierte.
Erhöhte kaufmännische Betätigung wiederum bedeutet größere Mengen Geldes im Umlauf. Das bedeutete, dass mehr Geld geprägt werden musste, was wiederum die Qualität der Münzen verschlechterte (mehr Kupfer in den Silbermünzen, da zu wenig Rohmaterial vorhanden war). Die schlechtere Qualität der Münzen bedeutete, dass sie weniger wert waren, was zur Folge hatte, dass man mit diesen Münzen kleinere Dinge bezahlen konnte.
In der klassischen Antike, sowohl in Rom, als auch in Griechenland waren ebenfalls große Mengen an Münzen vorhanden, was fehlte und was wir in Italien und bei den Juden des Mittelalters finden, war die Bereitschaft das Geld in großen Mengen gewinnbringend auszugeben, anzulegen oder zu verleihen.
Wir finden im Mittelalter unter Anderen auch römische Handelsvereinigungen und -verträge wieder. Die erste jedoch, auf die wir im Mittelalter stoßen ist die rogadia der Juden. Im Mittelalterlichen Recht enthalten sind aber auch die griechisch-römische Form der societas (Partnerschaft), sowie die fraterna (Bruderschaft), die aus der klassischen Antike überlebt haben. Ähnliches gilt für die Form, die in Amalfi betrieben wurde: den column: Lopez beschreibt ihn als eine Abwandlung der byzantinischen Weiterentwicklung der ursprünglich römischen fraterna. (Lopez S.75)
Eine weitere in der Antike häufig genutzte Form, die auf das Mittelalter hernieder gekommen ist, ist der sea loan: Ein Gläubiger bezuschusst eine Kaufmannsfahrt mit Geld. Wenn der Kaufmann Profit durch den Verkauf seiner Waren macht, wird der Gläubiger daran beteiligt, sollte z.B. das Schiff gekapert werden oder im Sturm untergehen, verliert der Gläubiger seine Beteiligung ersatzlos. Zwar verliert der sea loan mit Aufkommen der Versicherungen langsam an Bedeutung, ist aber über das gesamte Mittelalter in Gebrauch und zweifellos als deren Vorreiter zu sehen. Ähnlich sind fraterna und societas im Laufe der Zeit immer wieder erweitert oder verkleinert worden, um neue Formen von Handelsvereinigungen und –verträgen, wie compagnia, collegantia und commenda zu bilden.
Eine weitere Problematik, die Antike und Mittelalter weitflächig teilten, war das Fehlen von arbeitserleichternden technischen Geräten. Betrachtet man sich den Transport von Gütern auf dem Landweg, so hat sich seit den Zeiten Roms nicht viel getan, außer, dass das römische Wegesystem zwischen großen Städten zusehends verfallen ist, was sich jedoch durch zahlreiche Trampelwege zwischen kleinen Ortschaften, die Ausweichrouten ermöglichten, die Waage hielt. Das Transportsystem und die transportierte Menge änderte sich kaum. Zwar ging man von Wägen auf Maultiere über, aber einen entscheidenden Unterschied machte das nicht aus, was zur Folge hatte, dass der Handel zu Land keine besonderes Interesse bei großen Kaufleuten erregte.
Der Seeweg war, wie auch schon in der Antike, der wesentlich interessantere Handelsweg. Auf Schiffen können viel größere Mengen auf einmal transportiert werden. Die Galeone, das Wahrzeichen des italienischen Händlers, war eine Weiterentwicklung der römischen Galeere (Lopez S. 82), und verband die Vorteile der Ruderer und des Antriebs durch Segel und stellte durch ihren Rammsporn, ebenfalls bereits von den Griechen und Römern eingesetzt, eine starke Waffe gegen andere Schiffe dar. Eine Erhöhung der Ladekapazität durch Vergrößerung der Schiffe war gar nicht von Interesse, denn wie bereits zu früheren Zeiten, musste das Schiff klein genug sein, um auch kleine Häfen anlaufen zu können, oder einen geringen Tiefgang haben um Flussläufe hinaufzufahren.
Dass der freie stolze Athener Bürger an den Riemen der Trieren des delisch-attischen Seebundes, im Gegensatz zu den Galeerensklaven des römischen Reiches, ein direktes Vorbild für den freien stolzen Galeeren-Ruderer des italienischen Mittelalters ist, ist zu bezweifeln. Der Hintergrund ist jedoch vergleichbar: Stadtstaaten, deren höchstes Gut und Ideal der Handel und Kampf zu Schiff darstellte, würden keinen Galeerensklaven den geringen Raum auf dem Schiff überlassen, den man mit Handelswaren ausfüllen könnte und im Gegenzug auf verlässliche Verteidigung im Kampffall verzichten, sondern selbst diese Position übernehmen.
Man möchte anführen, dass die Völkerwanderung einen großen bildungstechnischen Einbruch zwischen Antike und Mittelalter bedeutete. Nicht vergessen werden sollte jedoch, dass die Eindringlinge wesentlich geringer an Zahl und ungebildeter waren, und sich von den Annehmlichkeiten der römisch-griechischen Lebensweise schnell beeinflussen ließen und sie sicherlich nicht zerstören wollten.
Lopez Behauptung, dass die Barbaren durch die Beschleunigung der Zerstörung der alten Ordnung einen fruchtbaren Grund für etwas vollkommen Neues schufen (Lopez S.13), widerlegt er selbst keine 10 Zeilen später, durch die Aussage, dass die meisten Völker der Völkerwanderungszeit durch den Kontakt mit Rom geprägt gewesen wären und sich schnell näher gekommen seien. Interkultureller Austausch war dabei garantiert. Zwei Seiten später schreibt er sogar, dass der landwirtschaftstechnische Unterschied nicht „Rom contra Barbaren“ lauten dürfe, sondern in den Regionsdifferenzen zu suchen sei: Italienische Trocken-Landwirtschaft funktioniert klima- und bodenbedingt vollkommen anders als Agrikultur im verregneten Nordeuropa und dementsprechend auch mit anderen Werkzeugen. Die Barbaren brachten ihre eigenen Techniken mit, die sich mit denen der Römer mischten (Lopez S.15).
Selbst die Anfänge des Feudalismus sind im Römischen Reich zu suchen: Der Stand der Leibeigenen entwickelte sich aus der demographischen Depression heraus und ließ ärmere Menschen aus Mangel an gesundheitlicher und wirtschaftlicher Sicherheit, in die Abhängigkeit und gleichzeitig den Schutz eines Großgrundbesitzers fliehen (Lopez S.17). Holton erklärt dazu, Feudalismus sei nicht als Erweiterung römischen Rechts zu sehen, da sich darin z.B. Institutionen wie das Vasallentum fänden, die Kriegsdienst mit sich brächten, die deutliche Einwirkungen aus dem Germanischen seien (Holton S.19). Ein Widerspruch ist in dieser Erweiterung der römischen Grundstruktur jedoch nicht zu entdecken.
Wie auch in vielen anderen der aufgeführten Fälle ist dies ein Zeichen einer Weiterentwicklung von Grundstrukturen der Antike, mit denen sich fremdes, „barbarisches“ Kulturgut vermischte. Aus den hier aufgeführten Gründen läßt sich auf eine Kontinuität in einigen Bereichen der Wirtschaft und Technik schließen. Sicherlich mussten aber auch Vieles erst wieder entdeckt werden, das während der Völkerwanderung verloren gegangen war, andere Dinge sind vollkommene Neuerfindungen.
Wenn es auf irgend einem Gebiet tatsächlich eine weitestgehende Kontinuität gegeben hat, dann in dem Desinteresse der Oberschicht in den wirtschaftlichen Fortschritt zu investieren.
Um mit Lopez zu schließen: “Every code has its exceptions, but the bias existed in the tenth century as in the age of Augustus, in Germany as in China...” (Lopez, S.60)