"Wolfsfrieden" an der Ostfront 1917-der vermutlich ungewöhnlichste Waffenstillstand

Scorpio

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Am 29.7.1917 berichtete die New York Times in einem Artikel über sehr ungewöhnliche Ereignisse, die sich im vergangenen Winter an der Ostfront abgespielt hatten. Im ungewöhnlich harten Winter 1916/17 war es im Baltikum und Weißrussland zu einer Wolfsplage gekommen. Im Hinterland der Front hatte sich ein Super-Rudel von mehreren Hundert Wölfen gebildet.

Kriegsteilnehmer, die den Weltkrieg an der Ostfront verbrachten, berichteten von der Wolfsplage wie Paul Ettighofer, der in seiner Kriegsbiographie "Gespenster am Toten Mann" von einem Erlebnis berichtet, dass er bei Illuxt im Winter 1916/17 erlebte. Bei einem russischen Angriff wurde ein russischer Leutnant schwer verwundet. Die Deutschen versorgten den Offizier, und ein Fahrer sollte den Verwundeten bei einem rückwärtigen Verbandsplatz abliefern. Auf dem Weg geriet der Fahrer und sein Pferd in einen Schneesturm. Der Verwundete war inzwischen gestorben. Der Fahrer spannte das Pferd aus und ritt los, um Hilfe zu holen. Das Pferd geriet plötzlich in Panik und rannte im Galopp davon. Als man mit Hilfe zurückkam, war von dem Verwundeten nicht mehr übrig-Wölfe hatten ihn verspeist.

Es wurden daraufhin auf beiden Seiten der Front Maßnahmen ergriffen. Es erging bei den Deutschen wie Ettighofer berichtet ein strenger Befehl, der es Soldaten verbot, alleine und unbewaffnet die Stellung zu verlassen. Es wurden Prämien für erlegte Wölfe ausgesetzt- bei Ettighofers Einheit führte das dazu, dass zwei Telefonisten den prämierten Schäferhund eines Veterinärs erschossen.

Ansonsten tat man, was sich in der Vergangenheit gegen Wölfe bewährt hatte-oder auch nicht: Man stellte Fallen, streute vergiftete Köder aus und organisierte im Hinterland Wolfsjagden. Es wurden auch immer wieder Wölfe gefangen, vergiftet und erschossen, allerdings wanderten immer wieder Wölfe nach. Die Situation im Frontgebiet und schlimmer noch im Hinterland war im Laufe des Winters für Soldaten und mehr noch für die Zivilisten, die sich immer im frontnahen Bereich aufhielten so gefährlich geworden, dass schließlich an Kriegführung nicht mehr zu denken war. Immer wieder kam es zu Überfällen auf Haustiere, Armeepferde, Zivilisten und versprengte Soldaten. Immer wieder kam es vor, dass deutsche und russische Soldaten im Verlauf des Winters 1916/17 unerwartet Schützenhilfe vom Kriegsgegner erhielten, um sich gegen Wölfe zur Wehr zu setzen.

Die Vorgeschichte

Wölfe greifen nur in sehr seltenen Fällen Menschen an. Wie konnte es also überhaupt dazu kommen. Die russische Armee hatte sich 1915 sehr weit zurückziehen müssen. Die Armeen hatten das Wild und die natürliche Beute vertrieben. In Russland waren die meisten Wolfsjäger zur Armee eingezogen worden, und Wölfe daher weit weniger bejagt worden. Der Krieg hatte die natürliche Beute vertrieben, und die Wölfe waren durch den Krieg vom Hinterland abgeschnitten. Das war allerdings für die Wölfe vorerst kein Problem. Im frontnahen Bereich gab es reichlich Pferdekadaver und natürlich auch jede Menge an Leichen, die im Stellungskrieg nicht geborgen werden konnten, die kein Mensch bestattete. In Kriegszeiten können Wölfe zu Kulturfolgern werden. Seit 1915 war im Grunde genommen für Wölfe die Dinnerglocke geläutet worden, die Tiere konnten sich wie sich zeigte sehr gut auf die neue Situation einstellen. Durch den Verzehr von Kriegstoten sicher auch von dem ein oder anderen noch lebenden Verwundeten kann man davon ausgehen, dass die Wölfe sehr stark die Scheu vor Menschen verloren, zumal sie kaum noch bejagte wurden.
Dann kam der Winter 1916/17 und da verschärfte sich die Situation. In der Regel sind Rudel von mehr als einem Dutzend Wölfe sehr selten. Bei sehr knapper Nahrungssituation bilden Wölfe zeitweilig Großrudel, und sie spezialisieren sich dann auf große Beutetiere wie Hirsche, Wildschweine, Bisons oder Elche.

Im frontnahen Bereich und im Hinterland der Ostfront gab es aber als Beute nur noch Armeepferde, die wenigen Haustiere die die Zivilisten über den Krieg gerettet hatten und eben Mensch. Auf diese Beute aber hatten sich die Wölfe seit geraumer Zeit spezialisiert und gewöhnt.

Die größten Leidtragenden waren zunächst Zivilisten. Es häuften sich Angriffe auf Ställe, es wurden Hunde, Pferde, Rinder, Schafen und Ziegen dezimiert, und es kam zu Angriffen auf Kinder. Es häuften sich Angriffe auf Armeepferde, und es kam zu Vermissten. Soldaten waren plötzlich verschwunden. Man befürchtete Überläufer bis sich nach und nach einige Fälle eruieren ließen. Es wurden Soldaten angegriffen, wenn sie ihre Notdurft verrichteten. Einige Scharfschützen, die sich tagelang auf die Lauer gelegt hatten, wurden von Wölfen geschnappt, als sie morgens vom Hochsitz kletterten und das Gewehr schon entladen hatten.

In Deutschland hatte man nicht mehr viel Erfahrung mit Wölfen. Um 1914 war Canis Lupus in Deutschland längst ausgerottet. Hin und wieder tauchten sie in Ostpreußen und in den Vogesen als Irrläufer und Wechselwild auf- und sie wurden mit schöner Regelmäßigkeit sehr bald erschossen, wenn sie sich ins Deutsche Reich verirrten. Herman Löns schrieb um 1909, dass Wölfe außer in Kriegszeiten nie wieder Deutschland besiedeln könnten.

Im Laufe des Winters 1916/17 wurden trotzdem eine Menge Wölfe geschossen, gefangen und vergiftet. Die Wolfsplage hatte immer wieder dafür gesorgt, dass Deutsche und Russen die Feindschaft vergaßen und sich gemeinsam gegen die Wölfe verteidigten.

Erst als Deutsche und Russen Anfang 1917 in einem riesigen Gebiet, das sich vom heutigen Litauen bis nach Weißrussland erstreckte großräumige koordinierte Treibjagden organisierten, konnte man der Wolfsplage Einhalt gebieten. Es kam Anfang 1917 wegen der Wolfsplage zu einem der ungewöhnlichsten Waffenstillstandsabkommen der Weltgeschichte. Deutsche und russische Offiziere schlossen einen Waffenstillstand, um koordinierte Treibjagden zu organisieren, um endlich der Wolfsplage Einhalt zu gebieten. Man lieh sich gegenseitig Wolfsexperten aus. Und organisierte Treiberkessel. Man tauschte Erfahrungen aus. Wo Wölfe bestätigt wurden, versuchte man ganze Rudel einzulappen und abzuschießen.

Das Großrudel wurde zersprengt, zum großen Teil abgeschossen. Die überlebenden Wölfe lösten sich auf, gingen auf eine artgemäßere Diät zurück.

Die Wolfsplage war beendet und man konnte wieder zur Tagesordnung übergehen. Canis Lupus störte nicht länger die Kreise des Krieges. Der natürliche Kreislauf war wieder hergestellt. Des Menschen Wolf blieb der Mensch- und der Krieg nahm seinen Fortgang. Was blieb war ein kurioser Waffenstillstand.

Ettighofer, Paul Gespenster am toten Mann

Mario Ludwig, Faszination Menschenfresser S. 61-80.
 
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