Zweiverband Frankreich-Rußland

Soweit ich weiß, hat das Deutsche Reich nie einen Anspruch auf Südafrika erhoben.
Formal hast Du recht. Für die englische Wahrnehmung war diese Formalität unwichtig.

Lediglich mit einem Protektorat über Transvaal hat man zeitweilig geliebäugelt und ist zumindest diplomatisch aktiv geworden, Krügerdepeche und Anfrage an Portugal zwecks Truppendurchmarsch, um Druck auf GB zu machen.
Transvaal hat aber keinen Zugang zum Meer.
Die britische Position war vor dem Burenkrieg sehr fragil, territorial, bzgl. eines Landkrieges und ökonomisch betrachtet durch die stark steigenden deutschen und US-Aktivitäten.

Auch ein Bündnis D. mit dem Burenstaat war bereits eine Bedrohung und wurde als solche befürchtet, von deutschen territorialen Aspirationen mal ganz abgesehen. Der fehlende Zugang zum Meer wurde problematisiert: damit waren zugleich GBs Möglichkeiten als Seemacht begrenzt, während umgekehrt die Stützpunkte als künftig unhaltbar ohne den britischen Einfluss im Hinterland angesehen wurden (das britische Problem vor dem Burenkrieg war auch der regionale Flickenteppich des Einflusses).


Außerdem hatte sich die Sache mit dem Burenkrieg 1902 dann endgültig erledigt und wurde deutscherseits ad acta gelegt.
Richtig, deshalb hatte ich aus deutscher Sicht den Zeitraum auf 1902 beschränkt. Der tiefe Riss im Gefolge ab 1902 ist eine britische Einschätzung, auch die zarten Kontakte 1901/1902 für ein Interessenbündnis bei Peripherie-Fragen (ein europäisches Bündnis stand entgegen deutschen Wahrnehmungen nicht zur Debatte) wurden u.a. durch diesen Interessengegensatz eliminiert und britischerseits ad acta gelegt.
 
Formal hast Du recht. Für die englische Wahrnehmung war diese Formalität unwichtig.
Auch informell oder faktisch hat das DR soweit ich weiß keinen Anspruch auf Südafrika erhoben. Schon deshalb nicht, weil es vor 1900 keine adäquate Flotte hatte, und somit keine Möglichkeit GB eine Kolonie abzujagen. Die Nachschublinie im Falle eines Kolonialkrieges gegen GB führte nunmal durch den Ärmelkanal.
Wobei sich das in der britischen Wahrnehmung natürlich anders dargestellt haben kann.
 
Auch informell oder faktisch hat das DR soweit ich weiß keinen Anspruch auf Südafrika erhoben. Schon deshalb nicht, weil es vor 1900 keine adäquate Flotte hatte, und somit keine Möglichkeit GB eine Kolonie abzujagen. Die Nachschublinie im Falle eines Kolonialkrieges gegen GB führte nunmal durch den Ärmelkanal.

Darauf kam es mir überhaupt nicht an, insbesondere nicht auf Spekulationen über einen Kolonialkrieg DR/ENG/Burenrepubliken.

Bzgl. der Region Südafrika waren die britischen Befürchtungen viel subtiler, nicht auf den einfachen clash deutschen und britischer Landstreitkräfte oder die Eventualitäten der Seezufuhr gerichtet. Die britischen Befürchtungen von der Krüger-Depesche an gingen in die Richtung, dass hier eine Art Bündnis/Allianz/Assoziierung mit Unterstützung bereits in Friedenszeiten aufgebaut würde. Waffenlieferungen sind nur ein Aspekt, Ausbildung und Freiwilligenkontingente ein anderer, ganze Regimenter/Divisionen nur der Extremfall.

Dazu ist ein kleiner Schwenk auf die britische militärische Lagebeurteilung etwa ab Mitte der 1890er notwendig: Großbritannien sah sich in der Lage, eine Flottenpolitik gegen die nachrangigen Seemächte zu betreiben; nicht jedoch, gleichzeitig gegen große Landmächte auf potentiellen Kriegsschauplätzen zu bestehen - die "heißen" Gebiete waren hier die Region Südafrika/Engagement Deutsches Reich sowie Persien/Afghanistan/Indien gegen Rußland. Wie bereits beschrieben, wurde die Region Südafrika als Vorfeld von Indien begriffen - das bezog sich auf die Qualität eines Sprungbretts und die deutsche Politik ab 1897 in Bezug auf "Kohlenstationen".

Diese Sichtweise führte letztlich zum (imperialisitsch-kolonialen) Burenkrieg genauso wie zur Einigung mit Rußland, die seit Aufgabe der splendid isolation etwa seit 1902/03 gegenüber Rußland betrieben wurde - Ausgleich mit der (britischerseits nachweislich gefürchteten) Landmacht Rußland auf Basis des vorherigen Interessenausgleichs mit Frankreich 1904 und des 1905 stabilen Bündnisses mit Japan.

Die britische Politik nach Aufgabe der splendid isolation weist damit eine sehr stringente und dynamische Durchführung auf. Sie führte direkt in ein Bündnissystem, dessen weitere innere Verstärkung durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges quasi unterbrochen wurde, obgleich weit fortgeschritten.

Wenn man sich in dieser britischen Sichtweise - Gefährdungslage Indien als Kern des Empires - vertiefen will, gibt es zu den weiter gezogenen obigen Literaturempfehlungen zwei sehr gute Studien:

Simon, Werner: Die Britische Militärpolitik in Indien 1878-1910, Beiträge Südasien-Forschung Band 5
Jaeckel, Horst: Die Nordwestgrenze in der Verteidigung Indiens 1900-1908 und der Weg Englands zum russisch-britischen Abkommen von 1907, Beiträge Kolonial- und Überseegeschichte Band 3.

Auf der Basis könnte man das vertieft diskutieren. Um die Bedeutung einmal zu unterstreichen: die britische Militärpräsenz in Indien betrug rd. 75% der gesamten Landstreitkräfte Großbritanniens bis zum britisch-russischen Ausgleich Persien/Afgahnistan/Indien. Die Ausgaben für Indien konnten durchaus mit den Flottenbudgets der verschiedenen Jahre konkurrieren. Die Ausstrahlungswirkung der indischen Position ist schließlich nicht nur an Südafrika zu messen, auch für die ägyptische Frage gab es einen eingeforderten, aber streitbefangenen "indischen Beitrag". Man sollte diese in der Literatur so genannten Vorgänge an der "Peripherie" recht weit ziehen, um sich in die (natürlich wieder heterogene, politisch wechselnde) britische Sichtweise hineinzudenken.

Das sollte aber nur einige Anregungen zum Thema bieten, schließlich ging es um den russisch-französischen Zweiverband.
 
Nun, eine Art Protektorat des Deutschen Reichs über Transvaal war deutscherseits ja durchaus angedacht. Deswegen auch die stinkige Reaktion der Deutschen (Krügerdepesche) auf den Versuch der Briten, Transvaal zur britischen Kolonie zu machen. Insofern haben die Briten hier durchaus zu recht befürchtet.
Allerdings ein Ausgreifen von Transvaal nach Südafrika oder gar Indien, damit wurde meines Wissens von den Deutschen nicht einmal geliebäugelt. Ob die Briten dies fälschlich befürchtet haben, dazu kann ich nichts sagen. So speziell mit dem Burenkrieg habe ich mich nicht befasst.
Was ich dazu gelesen habe ist, dass die Briten den Burenkrieg wegen der Bodenschätze und wegen der geplanten Eisenbahn "vom Cap bis Kairo" angefangen haben. Und dass sie die splendid isolation wegen der ernüchternden militärischen Pleite im Burenkrieg aufgegeben haben.
 
Allerdings ein Ausgreifen von Transvaal nach Südafrika oder gar Indien, damit wurde meines Wissens von den Deutschen nicht einmal geliebäugelt. Ob die Briten dies fälschlich befürchtet haben, dazu kann ich nichts sagen.

Ich dachte, das wäre offensichtlich bzw. klar geworden.

Es geht nicht darum, ob die Deutschen - wozu die Sandkastenstrategen in Berlin wohl auch nicht in der Lage waren - geostrategische Drohszenarien bzw. Kräftefelder aufgemacht oder begriffen haben. Die Briten antizipierten hier die Folgen einer Verdrängung von der südafrikanischen Position, deren Bedeutung sich wie folgt umschreiben ließ:

- die Kaproute nach Indien hatte trotz Suez-Kanal weiter überragende Bedeutung für den Seeweg nach Indien (theoretisch mögliche Sperrung des Kanals, Anfälligkeit durch die unsicheren maritimen Kräfteverhältnisse im Mittelmeer, zu diesem Zeitpunkt noch kritische Verhältnisse betr. Frankreich und Rußland)

- zum britischen geostrategisch-maritimen Denken: umgekehrt blockiert die britische Südafrika-Position potentiell größere Kohlestationen/Versorgungshäfen für Deutschland in der gedachten Kette Nordafrika (evt. Marokko) - Kap/Südafrika - Ostafrika. Eine starke britische maritime Position in Südafrika neutralisierte bzw. entwertete jederzeit kleinere Häfen in Südwestafrika oder Ostafrika.

- fällt das Schild der britischen Südafrika-Position, wäre im weiteren Verlauf und im nächsten Schritt die westindische Küste maritimer Bedrohung ausgesetzt worden. Das sind weitreichende Szenarien, eine ähnlich Empfindlichkeit ergab sich bzgl. des Persischen Golfs und Ägyptens - allen drei Regionen ist die Folge der Bedrohung Westindiens gemeinsam
India Africa Map

Soweit die britische Position: man mag sie ex post als überzogen ansehen, ähnlich wie die Rußland-Phobie in Bezug auf Persien/Afghanistan/Indien und den dortigen Zusammenhang mit dem russischen Eisenbahnbau und den russischen Möglichkeiten für einen Landfeldzug. Jedenfalls waren diese Überlegungen Basis des britischen Verhaltens. Dazu kann ich nur wiederholt die angegebene Literatur empfehlen.

Und dass sie die splendid isolation wegen der ernüchternden militärischen Pleite im Burenkrieg aufgegeben haben.
Das entspricht nach dem Stand der Literatur nicht den Ereignissen und wird dem Prozess der Aufgabe der alten Position nicht gerecht. Der Schlüssel war Indien bzw. die Konfrontation mit Rußland, verbunden mit militärischen Überlegungen, dass Indien mittelfristig gegen Rußland nicht zu halten ist (die Phobie der Seemacht/Mini-Armee Großbritanniens gegen große Landmächte). Die Ereignisse an der Peripherie sind daher kombiniert zu betrachten. Hierzu die ersten Schritte:

- die Tastversuche nach Deutschland (wieder aus Sicht der Peripherie, was in Berlin nicht begriffen wurde!), ein Gegengewicht gegen Rußland dauerhaft zu bilden - als Plus die Ausschaltung jeder Bedrohung Südafrikas.

- der Pakt mit Japan, als Bindung der russischen Fernost-Position zu deuten und somit als Schwächung der potentiellen Bedrohung Nord- und Nordwest-Indiens usw.

- der Interessenausgleich mit Frankreich, nicht mit dem Fokus Kontinentaleuropa, sondern die befriedigende Regelung aller frz.-brit. Reibungspunkte an der Peripherie von Afrika über Südostasien bis China. Der Vorgang hat insoweit - wieder aus Sicht der Peripherie bzw. geostrategisch - eine antirussische und antideutsche Zielstellung (Mittelmeer-Dardanellen, Persien, Nordindien, China). Sinn: Reduzierung der potentiellen Gegner in der Peripherie durch Wegfall der See-/Landmacht Frankreich.

Das Ergebnis war dann der Weg über Paris sogar zum Ausgleich mit dem zwischenzeitlich geschwächten Rußland.
 
- fällt das Schild der britischen Südafrika-Position, wäre im weiteren Verlauf und im nächsten Schritt die westindische Küste maritimer Bedrohung ausgesetzt worden.
Das ist soweit schon klar. Was mir nicht klar ist, auf welchem Wege ein deutsches Protektorat über Transvaal dem DR eine Kohlestation an der Südafrikanischen Küste einbringen hätte können sollen. Oder die Möglichkeit zukünftig eine solche zu erwerben. Bzw. wie die Briten sich das gedacht/befürchtet hatten. Einfach "irgendwie"?

Der Schlüssel war Indien bzw. die Konfrontation mit Rußland, verbunden mit militärischen Überlegungen, dass Indien mittelfristig gegen Rußland nicht zu halten ist (die Phobie der Seemacht/Mini-Armee Großbritanniens gegen große Landmächte).
Das widerspricht sich ja nicht. Die militärische Pleite im Burenkrieg hat eben die Schwäche der britischen Armee enthüllt und damit die Unhaltbarkeit Indiens im Falle eines Landkrieges gegen Russland.
 
Das ist soweit schon klar. Was mir nicht klar ist, auf welchem Wege ein deutsches Protektorat über Transvaal dem DR eine Kohlestation an der Südafrikanischen Küste einbringen hätte können sollen. Oder die Möglichkeit zukünftig eine solche zu erwerben. Bzw. wie die Briten sich das gedacht/befürchtet hatten. Einfach "irgendwie"?

Nicht irgendwie. Ausgangspunkt ist der Flickenteppich britischer Positionen vor dem Burenkrieg in der Region, der durch den Burenkrieg beseitigt wurde. Der weitere Gedanke bezog sich auf die Gefahr der vollständigen Verdrängung, damit auch von den Häfen (zB Kronkolonie Kapstadt, oder umgekehrt: die Schwäche der Häfen ohne Hinterland gegen eine Landmacht).

Das widerspricht sich ja nicht. Die militärische Pleite im Burenkrieg hat eben die Schwäche der britischen Armee enthüllt und damit die Unhaltbarkeit Indiens im Falle eines Landkrieges gegen Russland.

Da unterschätzt Du die Briten, die die zahlenmäßige Schwäche ihrer stehenden und zu mobilisierenden Armee schon vor dem Burenkrieg gegen eine Land-Großmacht nicht überschätzt haben. Deshalb habe ich den zweifachen Hinweis auf Indien gepostet, die sich beide darauf (auf die Analyse einer Auseinandersetzung zu Land) beziehen.
 
die Schwäche der Häfen ohne Hinterland gegen eine Landmacht).
Transvaal war aber keine besonders starke Landmacht.

Da unterschätzt Du die Briten, die die zahlenmäßige Schwäche ihrer stehenden und zu mobilisierenden Armee schon vor dem Burenkrieg gegen eine Land-Großmacht nicht überschätzt haben. Deshalb habe ich den zweifachen Hinweis auf Indien gepostet, die sich beide darauf (auf die Analyse einer Auseinandersetzung zu Land) beziehen.
Allerdings wäre es Russland wohl schwer gefallen größere Truppenmassen nach Indien zu bringen, etwa durch das Afghanische Hochland. Eine kleine aber sehr kampfstarke Truppe aus Berufssoldaten hätte da schon was reißen können, denke ich. Nur haben die britischen Truppen sich im Burenkrieg nicht als als besonders kampfstark erwiesen.
 
(1)Transvaal war aber keine besonders starke Landmacht.
Habe ich auch nicht behauptet.

(2) Allerdings wäre es Russland wohl schwer gefallen größere Truppenmassen nach Indien zu bringen, etwa durch das Afghanische Hochland. Eine kleine aber sehr kampfstarke Truppe aus Berufssoldaten hätte da schon was reißen können, denke ich.
Siehe zur britischen Gefahrenschätzung die Heyking-Memoranden an die Wilhelmstraße -> oder einfach Barooah, Nirode Kumar: India and the Official Germany 1886-1914, Europäische Hochschulschriften III/77 (("Britains India-Russophobia")

(3) Nur haben die britischen Truppen sich im Burenkrieg nicht als als besonders kampfstark erwiesen.
Soll damit eine Ralativierung von (1) vorgenommen werden? ;)
 
Siehe zur britischen Gefahrenschätzung ...

Hier noch das Beispiel einer Literaturmeinung von 1884:

MacGregor/Metcalfe: The Defence of India - a strategical study, 1884.
Internet Archive: Free Download: The defence of India: a strategical study

andere Auswahl:
Russias March towards India
Russias Power to attack India
Can Russia invade India?
Russia against India: The struggle for Asia
India and Russia - The Scinde Railway Company: Its Origin and Policy
Russia's power of seizing Herat, and concentrating an army there to threaten India
Russia In Central Asia In 1889 (Autor: Curzon)
 
Ein sehr interressantes Buch, danke für den Link. Allerdings sieht der Autor als einzige Bedrohung für Indien Russland und für GBs Kolonien allgemein Russland und Frankreich an. Wirkt fast schon ein bisschen panisch. Einzige Rettung für Indien sei ein Bündnis mit Deutschland & Co. Eine Deutsche Bedrohung für GB allgemein oder für Indien via Südafrika sieht er nicht.

P.S.
Was sind denn die "Heyking-Memoranden"?
 
Edmund von Heyking,
Elisabeth von Heyking – Wikipedia
Tagebücher aus vier Weltteilen 1886/1904

#30 sollte lediglich einige Hinweise auf die britische Russophobie bzgl. Indien geben, mehr nicht. Das wurde zuvor oben in Frage gestellt.
Allerdings wäre es Russland wohl schwer gefallen größere Truppenmassen nach Indien zu bringen, etwa durch das Afghanische Hochland.
Die wahrgenommene russische Bedrohung erschöpfte sich auf nicht in Afghanistan bzw. später die Eisenbahnlinen, sondern wurde daneben um 1900 und strategisch stärker auf Persien bezogen.

Im Übrigen sind das zeitgenössische Darstellungen, also brauchbar für die britische Rezeptionsgeschichte, und keine geschichtswissenschaftlichen Ausarbeitungen über die Bedrohungslage. Die Verbindung Indien/Afghanistan/Persien (nebst der russischen Schwächung im Krieg mit Japan 1904/05, der bestehenden frz.-russ. Achse und Interessenausgleich GB/FRA 1904) liefert den Schlüssel für den britisch-russischen Interessenausgleich 1907.

Literaturhinweise zur strategischen Bedeutung der Region Südafrika und bzgl. des möglichen Verlustes der britischen Position: siehe oben. Die Verknüpfung mit dem deutschen Engagement: ebenfalls siehe oben. Letzteres wurde von der deutschen Diplomatie nicht erkannt.
 
Rückversicherungsvertrag 1887

Erstaunlich ist, dass man dazu im Forum kaum Stichworte in der Suche findet. Ich frage mal hier, da es gut zum Thema passt:

"Der Rückversicherungsvertrag war ein 1887 abgeschlossenes geheimes Neutralitätsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Russland."
Rückversicherungsvertrag – Wikipedia
[*]
Stimmt das?

Den Vertrag kann man zeitlich als eine Zwischenetappe des deutsch-russischen Verhältnisses zwischen Reichsgründung und russisch-französischem Bündnis begreifen, als einen Punkt im Abschwung der beiderseitigen Beziehungen. Die "Mission Radowitz" 1875
http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Maria_von_Radowitz_(Sohn)
könnte man dabei als den Zeitpunkt sehen, zu dem klar wurde, dass eine zementierte Bindung Rußland/Deutschland nicht möglich sein würde.

Der Rückversicherungsvertrag wurde ab Januar 1887 verhandelt. Der Auftakt lag also kurz vor (Feb. 1887) der Mittelmeer-Entente/Orient-Dreibund
Mittelmeerentente – Wikipedia und kurz vor der erstmaligen Erneuerung des Dreibundes Berlin-Wien-Rom. Lag hier Bismarcks "Aushilfe" darin, gezielt den englisch-russischen Gegensatz an den Dardanellen zu fördern?

Rassow hat eine sehr kurze Zusammenfassung des Rückversicherungsvertrages gegeben: im gleichen Jahr 1887, in dem die deutsche Diplomatie die Mittelmeer-Entente zum Schutz der Herrschaft der Türkei über die Meerengen zustande brachte, schloß sie den Vertrag mit rußland, der
- einerseits bei einem Angriff Frankreichs auf Deuschland die russische Neutralität sicherte und
- andererseits Rußland ermutigte, Konstantinopel zu erobern [Geheimes Zusatzprotokoll]

und schließt: "Die deutsche Politik wußte die Gefahr des Zweifrontenkrieges nicht anders zu beschwören als dadurch, dass sie die Russen in eine Richtung drängte, in der diese auf den organisierten Widerstand Englands, Italiens und Österreich-Ungarn stoßen mußte. Oder sollte man sagen: Deutschland erkaufte die russische Neutralität in einem Angriffskrieg Frankreichs gegen Deutschland, indem es Rußland zu einem Angriff auf die Türkei ermutigte ..."

Bemerkenswert daran wäre, dass ein großer Teil Spannungen mit Rußland aus den Wirtschaftsbeziehungen und Zollkriegen stammte, also Vorgängen, die Bismarck selbst aus innenpolitischen Gründen forciert hatte.

Wikipedia führt dazu aus:
[*]Im zweiten Teil, dem „Ganz Geheimen Zusatzprotokoll“, sicherte das Deutsche Reich Russland moralische und diplomatische Unterstützung für den Fall zu, dass Russland es für nötig erachte, seinen Zugang zum Mittelmeer zu verteidigen.
... ohne die Hintergründe der Entstehung des Zusatzprotokolls zu benennen. Dazu wird aber suggeriert, dass Bismarck quasi als Kompensation nachfolgend die Mittelmeer-Entente gefördert habe.
 
"Der Rückversicherungsvertrag war ein 1887 abgeschlossenes geheimes Neutralitätsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Russland."Stimmt das?
Geheimer Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Rußland vom 18. Juni 1887
http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/608_Rueckversicherungsvertrag_188.pdf


Schaut man sich diesen Zeitraum genauer an, fallen viele außenpolitische Veränderungen und Aktivitäten auf.


  • 1881 Tod des deutschlandfreundlichen Alexander II.
  • 1881 geheimer Dreikaiserbund, der auf der zerbrochenen Basis des Dreikaiserabkommens von 1873 nach dem Berliner Kongress 1878 von Bismarck forciert wurde
  • 1884/85 Spannungen zwischen Russland und England durch Expansionspolitik in Asien und forcierter Kolonieerwerb in Übersee durch Deutschland
  • 1885/86 Bulgarische Krise
  • 1887 Deutsch-französische Kriegsgefahr Januar bis Mai und die Haltung Englands und Russlands während der deutsch-französischen Spannung

Letztlich ging es Bismarck immer darum, Frankreich außenpolitisch zu isolieren um einer Revanche von 1870/71 vorzubeugen, sowie einen Krieg mit zwei Fronten auszuweichen.

Dabei spielt zu diesem Zeitpunkt, der Balkan eine wichtige Rolle in der Machtverteilung und führt wohl auch dazu, daß das Mittelmeer und vor allem der Weg nach Asien einer der wichtigsten Punkte wird und für europäische Politik entscheidend bleibt, ist es doch der direkte Weg nach Übersee zu den Kolonien.
Dieser Entwicklung hatten die europäischen Großmächte wohl im Pariser Frieden 1856 noch nicht Rechnung getragen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Folgt man George Kennan, war der Rückversicherungsvertrag 1889 bereits "hoffnungslos gestört", die französisch-russischen Beziehungen befanden sich dagegen in bestem Zustand. Die Friktionen hatten sich auf dynastischer und Regierungsebene 1889 ergeben, der deutsche Generalstab (Waldersee) sah die große Gelegenheit 1888 zum Präventivkrieg verpaßt, hielt aber die Auseinandersetzung mit Rußland bereits für unvermeidlich. Die Presse beider Länder tat ein Übriges.

Bismarcks Versuch, in Richtung England eine Bündnisalternative aufzubauen, waren 1889 nicht angemessen erwidert worden, insbesondere war kein Geheimabkommen hinter dem Rücken des britischen Parlaments möglich. Dennoch waren die Gespräche in Bewegung, 1890 ergaben sich daraus die Regelungen bzgl. Helgoland und Sansibar. Außerdem nahm die nachfolgende Kappung in den Beziehungen Berlin-St.Petersburg für London einen wesentlich Anreiz, sich auf engere Beziehungen einzulassen und möglicherweise Vermittlung/Unterstützung für die russisch-englischen Gegensätze in Asien zu suchen.

Die russisch-französischen Finanzbeziehungen gediehen inzwischen prächtig, nach der großen Anleihe 1888 folgten zwei weitere über 740 Mio. Goldrubel (2 Mrd. Frcs) in 1889, die "Rothschild-Anleihen". Für diesen Wettlauf war die letzte russische Anleihe in Deutschland zu klein und unbedeutend (75 Mio. Goldrubel). Die Anleihen erlaubten dem russischen Staat eine Umschuldung und Zinskonsolidierung, die die 1887 schwer geschädigte russische Bonität wiederherstellte - für die ökonomische Entwicklung Rußlands ein Schlüsselereignis. Für die französische Heeresleitung wurde der Zusammenbruch der deutsch-russischen Beziehungen 1889 der Anfang der Zusammenarbeit mit Rußland.

Das Außenminister Giers die Verlängerung des Vertrages - dem aufgrund der Friktionen bereits die Basis entzogen war - dennoch betrieb (und parallel die französisch-russischen Beziehungen zum Zweiverband 1892/94 führte), lag daran, dass er ihn (1.) als Gegengewicht und Klebemasse zu den besseren Beziehungen zu Frankreich begriff. Giers fürchtete (2.) bei einem russisch-französischen Pakt ohne Gegengewicht die gesteigerten Ambitionen der Nationalististen, ihn für kriegerische Zwecke einzusetzen. Die Fortführung des Paktes wurde russischerseits also einzig als notwendige Balance begriffen, in keiner Weise als Bindung an das Deutsche Reich. Mit dem Zusammenbruch des Rückvversicherungsvertrages sah Giers das Gleichgewicht endgültig zerstört, was die Möglichkeit eines Krieges erhöhen würde.

Die Interventionen von Giers schoben zudem oberflächlich die Ursache für die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages der deutschen Seite zu. Bismarck selbst nutzte diese "Interpretationslücke" durch Indiskretion (Bekanntgabe des Geheimen Zusatzprotokolls) und die Schuldzuweisung, die Nichtverlängerung hätte Rußland in die Arme Frankreichs getrieben. Dabei unterschlug er den von ihm entfesselten Handelskrieg mit Rußland, die für eigentliche Neuorientierung der russischen Regierung hinsichtlich Frankreich eine wesentliche Ursache war (Ulrich: Die nervöse Großmacht). Unter der Oberfläche war Caprivis "Neuer Kurs" die Anerkennung der Realitäten (Altrichter: Konstitutionalismus und Imperialismus, Der Reichstag und die deutsch-russischen Beziehungen 1890-1914).

Die "Handelskrieg" begann 10 Jahre zuvor, 1879 aus innenpolitischen/finanziellen deutschen Gründen. In dem Jahr wurden die deutschen Eisen- und Getreidezölle wieder eingeführt und beförderten die Schraube des Protektionismus in Europa ((Hardach: Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879). Die von Bismarck vererbten, gespannten deutsch/russischen Wirtschaftsbeziehungen, die zunehmend zur russischen Orientierung zum kapitalstärkeren Paris hin führten, eskalierten dann 1893 im Zollkrieg. In dieser Dekade betrug der russische Exportanteil beim Getreide knapp 50% seiner Ausfuhren, davon nahm das Deutsche reich die Hälfte ab.


P.S. Übrigens hat Holstein in einem Punkt recht, den er scharf herausgearbeitet hat: die Meerengen-Klausel im Zusatzprotokoll war gegen England gerichtet.
 
Zuletzt bearbeitet:
Anderes Feld, aber hier als Literatur interessant (Janorschke):
http://www.geschichtsforum.de/619011-post5.html

Die Bündnisfühler FRA-RUS (die "natürlichen Verbündeten") bestanden schon kurz nach der Niederlage 1871, und wurden von russischer Seite zunächst mit Interesse, aber eben auch mit dem Hinweis gegenwärtig nicht ausbaubar beantwortet.

Der lange Anlauf bis 1892 ist auch Frankreich geschuldet, da man trotz der tastenden Versuche stets skeptisch in Bezug auf die Zuverlässigkeit Russlands eingestellt war. Es war also eine Frage der Zeit und Gelegenheit, und des Beweis des Gegenteils, dass sich das ändern konnte.

Umgekehrt war aus der russischen Perspektive, auch gelegentlich einiger diplomatischer Anläufe, der Knackpunkt die Stärke Frankreichs. Diese wurde als unzureichend angesehen, um sich auf engere Beziehungen einzulassen. Auch das war also eine Frage der Zeit, und hing (nur) von der Restaurierung der Großmacht Frankreich ab, um sich dann zwangsläufig zu fügen.
 
Die französische Staatsspitze war sich darüber einig, dass das oberste Ziel der Politik ist, die Restauration der französischen Großmachtstellung ist.

Dazu war es unmittelbar nach 1871 von Bedeutung, dass das Deutsche Reich kein Einfluss auf die französische Politik nehmen konnte. Zu diesem Zwecke mussten die Reparationen schnell gezahlt werden, damit die deutschen Besatzungstruppen abrücken. Das gelang auch, denn bereits im Herbst 1873 hat Frankreich die letzte Milliarde gezahlt.

Als nächstes galt es die außenpolitische Isolation zu überwinden. Und das war nicht ganz einfach, denn im Jahre 1873 haben das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Russland gerade das Dreikaiserabkommen unter Dach und Fach gebracht gehabt.

Wenn Frankreich als Bündnispartner interessant sein wollte, dann musste es militärisch über entsprechende Machtmittel vefügen und hier bestand entsprechender Handlungsbedarf.Busmarck war gerade damit beschäftigt den Kulturkampf zu internationalisieren.

Die französischen Gesetze zur personellen Stärkung der Armee führten letzten Endes zur sogenannten Krieg-in-Sicht-Krise und zu einer schwweren diplomatischen Niederlage Bismarcks. Sowohl Großbritannien als auch Rußland haben deutlich zu verstehen gegeben, das sie eine weitere Schwächung Frankreichs nicht hinnehmen würden.

Der französische Außenminister Decazes bevorzugt als möglichen Partner allerdings Großbritannien, da er persönlich Rußland nicht traute. Auch in Petersburg gab es Vorbehalte gegen die republikanische Staatsform Frankreichs.

Janorschke, Bismarck, Europa und die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875
 
Vielen Dank an Turgot für die breitere Darstellung.

Die (Wieder-)Erstarkung Frankreichs kann man somit als fast zwangsläufigen Vorgang ansehen, die zunehmenden Gegensätze insbesondere zwischen Ö-U und Russland, sowie die Orientalische Frage ebenfalls.

Zugespitzt: beide Mächte bewegten sich "auf Schienen" aufeinander zu.
 
Gab es eigentlich direkt eine französische Reaktion in Form geänderter Politik nach den Entwicklungen im russischen Osten?

Immerhin investierte Russland beträchtliche Mittel in Sibirien (z.B. beim Bau der Transsib), besetzte Port Arthur, intervenierte in China und war in Afghanistan und Persien aktiv. Dann aber der herbe Rückschlag gegen Japan und die drohende Revolution samt Verabschiedung einer Verfassung.

Solwac
 
@solwac: direkte Reaktionen auf Entwicklungen 1905?

Die Schwächung war für Frankreich besorgniserregend, betraf es doch unmittelbar das Gegengewicht zum (militärisch und ökonomisch überlegenen) Deutschen Reich.

Frankreichs Mittel zur Restauration des alten Zustandes lagen vor allem in der Finanzkraft, und in Russlands Finanzbedarf, um wieder zu erstarken und den (trotz eigener Exporte) enormen Devisenbedarf zu decken. Entsprechend entwickelten die französischen Auslandsinvestitionen, vor allem durch Zeichnung der russischen Anleihen, weiter steigend. Man refinanzierte auch russische Auslandsengagements, so zum Beispiel später russische Kredite an Persien, und förderte damit russische Ambitionen (in dem Fall auch konträr zu Großbritannien).

Auch Schlieffen bedachte nicht grundlos in seiner Spätphase auch den Einfrontenkrieg gegen Frankreich, und blendete den russischen Faktor mangels Präsenz aus (so 1905, als Basis des Schlieffenplans).

Es schien so, als sei Russlands als Faktor bedeutend geschwächt. Das erwies sich schon kurzfristig als überholt. Umgekehrt gelang Großbritannien gerade in dieser "Schwächephase" der koloniale Ausgleich 1907.
 
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