1. geheimer Artikel des Pariser Friedens 1814

excideuil

unvergessen
Der Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 enthält einen Artikel, der den Wiener Kongress einberuft:

„Artikel XXXII. Innerhalb einer Frist von zwei Monaten werden alle Mächte, welche von beiden Seiten in den gegenwärtigen Krieg verwickelt waren, Bevollmächtigte nach Wien schicken, um auf einem Generalkongresse die Anordnungen zu treffen, welche die Verfügungen des gegenwärtigen Traktats vervollständigen müssen.“ [1][2]

Der erste geheime Artikel des Vertrages hat diesen Wortlaut:

„Artikel I. Die Verfügung über die Gebiete, denen Se. allerchristliche Majestät durch den 3. Artikel des öffentlichen Vertrages entsagt, und die Beziehungen, aus denen ein wirkliches und dauerhaftes System des Gleichgewichts in Europa hervorgehen soll, werden von den verbündeten Mächten auf den unter sich festgestellten Grundlagen und nach den in den folgenden Artikeln enthaltenen allgemeinen Bestimmungen geregelt werden.“ [3]

Die Logik dieses geheimen Artikels erschliesst sich mir nicht:
Frankreich war besiegt, die Alliierten hätten dieses Artikels schon aus der Situation als Sieger gar nicht bedurft.
Die Regelungen des Vertrages hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung Frankreichs und der Tatsache, dass weder Kontributionen noch die Rückgabe der Kulturgüter gefordert wurden, läßt auf ein gehörig Maß an Weitsichtigkeit schließen. Frankreich wurde also als Großmacht nicht ohne Grund erhalten.

Und dennoch dieser Artikel? Warum und gegen wen?

Gegen Frankreich? Wenn diese Großmacht erhalten wurde, warum sollte ihr ein Mitspracherecht auf ihre außenpolitischen Interessen verwehrt bleiben?

Muss nicht eher davon ausgegangen werden, dass dieser Artikel der "Einigkeit" der Alliierten selbst geschuldet ist, sprich eine jede der vier Mächte gehindert werden sollte, sich mit Frankreich zu "verständigen"?

Grüße
excideuil

[1] Soden, J. Graf von: Archiv des Wiener Kongress, Bd.1, Nürnberg, 1815, Seite 87
[2] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Bd. 2, Seite 146
[3] Pappermann, Heinrich K.: Diplomatische Geschichte der Jahre 1813, 1814, 1815, F.A. Brockhaus, Leipzig 1863, Bd. 1, Seite 502
 
Man hatte eben mehr Angst vor den eigenen Untertanen als vor dem Feind, so lange dieser von einem "rechtmäßigen" Herrscher von Gottes Gnaden stand.

Spanien hatte z.B. während der Französischen Besetzung, im freien Cadiz die liberale Verfassung von 1812 verabschiedet. Das erste was Ferdinand VII nach seiner Rückkehr tat, war diese abzuschaffen.

1820 gab es einen militärischen Aufstand der zur Wiedereinführung der Verfassung führte. Drei Jahre lang gab es eine liberale Regierung, die dann wiederum durch eine Intervention der "Heiligen Allianz" endete. Diese entsendete 95.000 französische Soldaten, um den König wieder zu seinen absoluten Rechten zu verhelfen.

Hochverdiente ehemalige Partisanenführer und Offiziere die sich dagegen wendeten, landeten im Knast, am Galgen oder im Exil. Ein Volksaufstand gegen diese neue Invasion gab es diesmal nicht, hauptsächlich weil ein großteil des Volkes für den absolutismus war und die Kirche in diesem Sinne auch intensiv Propaganda betrieb.
 
Der Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 enthält einen Artikel, der den Wiener Kongress einberuft: ...
Der erste geheime Artikel des Vertrages hat diesen Wortlaut:
Nur zur Klarstellung: Welcher Vertrag ist gemeint? Das Friedensinstrument selbst umfasst ja vier gleichlautende Ausfertigungen (je eine von Österreich, Preußen, Rußland und England mit Frankreich), aber die Zusatz- bzw. Geheimartikel sind nicht gleichlautend. Gehst Du vom österreichischen Exemplar aus?
 
Nur zur Klarstellung: Welcher Vertrag ist gemeint? Das Friedensinstrument selbst umfasst ja vier gleichlautende Ausfertigungen (je eine von Österreich, Preußen, Rußland und England mit Frankreich), aber die Zusatz- bzw. Geheimartikel sind nicht gleichlautend. Gehst Du vom österreichischen Exemplar aus?

Der öffentliche Vertrag ist von den Artikel I-XXXIII für alle beteiligten Staaten gleichlautend, dann gibt es unterschiedliche Zusatzartikel mit Österreich, Rußland, Preußen und England, die aber auch öffentlich sind!

Die geheimen Artikel habe ich nur bei Pappermann gefunden. Sie sind bei ihm keiner einzelnen Macht zugeordnet aber auch der Wortlaut der weiteren Artikel läßt nur den Schluss zu, dass sie für alle 5 Staaten gültig waren. Zudem bezieht sich der geheime Artikel auf den Artikel 3 des für alle gültigen Vertrages.

Grüße
excideuil
 
Zuletzt bearbeitet:
Die geheimen Artikel habe ich nur bei Pappermann gefunden. Sie sind bei ihm keiner einzelnen Macht zugeordnet aber auch der Wortlaut der weiteren Artikel läßt nur den Schluss zu, dass sie für alle 5 Staaten gültig waren.
Ja, da hast Du recht. Wie man dem französischen Text entnehmen kann [1], wurden die "Articles séparés et secrets" von Frankreich und Österreich paraphiert. Ich nehme an, das entsprechende Artikel auch von Preußen, Rußland und Großbritannien mit Frankreich vereinbart wurden.

Die Logik, so wie ich sie verstehe:
1. Wenn ein "ewiger Friede" erreicht werden soll (Art. 1) bzw. ein "System wirklichen und dauerhaften Gleichgewichts" (geheimer Art. 1), muss Frankreich mit eingebunden werden; das entspricht Deinem "gehörig Maß an Weitsichtigkeit".
2. Die Vervollständigung der Bestimmungen des Friedensvertrages ("compléter les dispositions du présent Traité") soll auf dem kommenden Kongreß erfolgen (Art. 32).
3. Gleichwohl wird aber ein bestimmter Rahmen bereits abgesteckt, der auf dem Kongreß nicht mehr zur Disposition stehen soll; das sind die geheimen Art. 2-6, deren Inhalt unter den vier Verbündeten abgestimmt ist.

Die Wiedergabe des geheimen Artikels 1 durch Pappermann (...werden von den verbündeten Mächten auf den unter sich festgestellten Grundlagen und nach den in den folgenden Artikeln enthaltenen allgemeinen Bestimmungen geregelt werden") enthält einen kleinen, aber für Deine Frage wichtigen Fehler: "seront réglés au Congrès" heisst es im Original, aber "au Congrès" fehlt bei Pappermann, so dass der Eindruck entstehen könnte, dass die Vier unter sich Regelungen treffen wollten, wobei Frankreich davon ausgeschlossen wäre.

Diese feine Nuance verdanke ich Wilhelm Oncken [2] und auch die folgenden Erläuterungen: Durch den geheimen Art. 1 wurden die vier Mächte "von der Gesammtheit der Congreßmächte abgesondert und für ein bestimmtes Gebiet mit einem Rechte ausgestattet, das die anderen nicht haben sollten. Das war das Recht, den Grundplan 'unter sich' festzustellen, nach dem die von Frankreich angetretenen Gebiete vertheilt und der Neubau des Gleichgewichts von Europa ausgerichtet werden sollte."

Die Praxis sah allerdings später anders aus, weil es Talleyrand gelang, die "Congreßmächte" gegeneinander auszuspielen.


[1] 1814 Traité de paix, Paris, MJP, université de Perpignan -
[2] Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreichs und der Befreiungskriege (= Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, Vierte Hauptabtheilung, Erster Theil). Band 2. Berlin 1886, S. 838
 
Die Praxis sah allerdings später anders aus, weil es Talleyrand gelang, die "Congreßmächte" gegeneinander auszuspielen.

Das wuerde mich æusserst interessieren, was geschah auf dem Wiener Kongress? Wer hatte welche Ziele, warum wurden sie erreicht/nicht erreicht. Wer hat wie intrigiert usw. Das war sicher recht spannend, annodazumal.

Die Ergebnisse sind ja hinreichend bekannt, aber wie es genau dazu kam, und warum die Europakarte genau so und nicht anders aussah, entzieht sich leider meiner genauen Kenntnis.

Es gab ja sicher auch einen Haufen thronloser Herrscher, die auf Wiedereinsetzung hofften.
(Wer erinnert sich nicht an den Fuersten von Reuss-Schleiz-Greiz im Film "Der Kongress tanzt")

Gruss, muheijo
 
Das wuerde mich æusserst interessieren, was geschah auf dem Wiener Kongress? Wer hatte welche Ziele, warum wurden sie erreicht/nicht erreicht. Wer hat wie intrigiert usw.
Dazu hat muheijo letzten Sommer bereits einen schönen Thread kreiiert [1] :winke: , dessen Faden man wieder aufnehmen könnte. ecxideuil kann sich ja äußern, wie er dazu steht.

(Wer erinnert sich nicht an den Fuersten von Reuss-Schleiz-Greiz im Film "Der Kongress tanzt")
Diese bewegliche Figur sollten wir auch künftig im Blick behalten - Vorarbeiten gibt es ja bereits! [2]


[1] http://www.geschichtsforum.de/f16/wiener-kongress-gewinner-und-verlierer-28294/
[2] http://www.geschichtsforum.de/f58/deutsche-kleinststaaten-nach-dem-wiener-kongress-7286/ ; http://www.geschichtsforum.de/f75/die-f-rstent-mer-reu-l-und-reu-j-l-20622/
 
Die Logik, so wie ich sie verstehe:
1. Wenn ein "ewiger Friede" erreicht werden soll (Art. 1) bzw. ein "System wirklichen und dauerhaften Gleichgewichts" (geheimer Art. 1), muss Frankreich mit eingebunden werden; das entspricht Deinem "gehörig Maß an Weitsichtigkeit".
2. Die Vervollständigung der Bestimmungen des Friedensvertrages ("compléter les dispositions du présent Traité") soll auf dem kommenden Kongreß erfolgen (Art. 32).
3. Gleichwohl wird aber ein bestimmter Rahmen bereits abgesteckt, der auf dem Kongreß nicht mehr zur Disposition stehen soll; das sind die geheimen Art. 2-6, deren Inhalt unter den vier Verbündeten abgestimmt ist.

Die Wiedergabe des geheimen Artikels 1 durch Pappermann (...werden von den verbündeten Mächten auf den unter sich festgestellten Grundlagen und nach den in den folgenden Artikeln enthaltenen allgemeinen Bestimmungen geregelt werden") enthält einen kleinen, aber für Deine Frage wichtigen Fehler: "seront réglés au Congrès" heisst es im Original, aber "au Congrès" fehlt bei Pappermann, so dass der Eindruck entstehen könnte, dass die Vier unter sich Regelungen treffen wollten, wobei Frankreich davon ausgeschlossen wäre.

Diese feine Nuance verdanke ich Wilhelm Oncken [2] und auch die folgenden Erläuterungen: Durch den geheimen Art. 1 wurden die vier Mächte "von der Gesammtheit der Congreßmächte abgesondert und für ein bestimmtes Gebiet mit einem Rechte ausgestattet, das die anderen nicht haben sollten. Das war das Recht, den Grundplan 'unter sich' festzustellen, nach dem die von Frankreich angetretenen Gebiete vertheilt und der Neubau des Gleichgewichts von Europa ausgerichtet werden sollte."

Die Praxis sah allerdings später anders aus, weil es Talleyrand gelang, die "Congreßmächte" gegeneinander auszuspielen.


[1] 1814 Traité de paix, Paris, MJP, université de Perpignan -
[2] Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreichs und der Befreiungskriege (= Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, Vierte Hauptabtheilung, Erster Theil). Band 2. Berlin 1886, S. 838

Vielen Dank für deine Gedanken und vor allem für den Hinweis auf Oncken. Und ich bin wieder erinnert, dass man wohl besser mindestens 2 Quellen haben sollte.

Aber zufrieden bin ich nicht.
Um die Artikel 2-6 des geheimen Vertrages zu verfassen, hätte es des ersten Artikels nicht bedurft. Die Alliierten waren die Sieger und sie konnten das bestimmen und festlegen, auf das sie sich untereinander einigen konnten. Talleyrand musste es unterzeichen, Frankreich war der Verlierer.

Nun gab es aber noch ungelöste Fragen: Polen, Sachsen, die Entschädigung Preußens, Neapel ... Fragen, deren Entscheidungen auch für Frankreich einige Bedeutung hatten.

Da die Alliierten sich für die Erhaltung der Großmacht Frankreich entschieden hatten, warum sollten sie dann mit der Abfassung des 1. Artikels auf halbem Wege stehenbleiben und dieser Großmacht das Recht absprechen, in denen sie betreffenden Fragen mitzuverhandeln? Das ist für mich die Unlogik. Ich kann doch nicht ein Gleichgewicht erreichen wollen, wenn ich Maßnahmen treffe, die geeignet sind, dieses nicht zu erreichen. Zumal ich als Sieger diesen Artikel gar nicht brauche, wenn ich gewillt bin, Frankreich auszuschließen.

Anders gefragt, warum will ich eine Großmacht Frankreich erhalten, wenn ich sie nicht gebrauchen und nutzen will? Kann der Artikel sich also gegen Frankreich richten? Meiner Meinung nach macht es keinen Sinn.

Muss man nicht davon ausgehen, dass es unter den Alliierten einen gab, der ein besonderes Interesse hatte, die Einigkeit der Alliierten zu beschwören, weil seine Stellung recht schwach war? Der die anderen davor "bewahren" wollte, sich mit Frankreich ins Einvernehmen zu setzen, um dann selbst Frankreich "aus der Tasche zu ziehen"?

Grüße
excideuil
 
Meine Überlegung:
Der Kampf gegen Napoleon lief, vor allem in Deutschland, unter der Bezeichnung "Befreiungskriege". Tatsächlich ging es aber nur um die "Befreiung" der alten Dynastien von dem "Emporkömmling" Napoleon und die Restauration des "ancien regime". Während der Französischen Revolution wurde die französische Dynastie ja auch von den anderen Monarchen unterstützt. Wenn es um das "Eingemachte" des gemeinsamen Interesses am "Gottesgnadentum" ging, waren sie sich, trotz aller sonstigen Rivalitäten, doch einig. Das brauchte der "Pöbel" aber nicht auch noch schriftlich zu bekommen. Jedenfalls in diesem historischen Stadium nicht. Nach Konsolidierung der Macht konnte man wieder deutlicher werden.
 
Vorab folgendes: Unter "Kongreß" war keine Konferenz im heutigen Sinne zu verstehen, an der alle Teilnehmerstaaten gleichberechtigt teilnehmen (beraten und abstimmen dürfen). Die Fragen des "europäischen Gleichgewichtes" (das war alles, was von den europäischen Großmächten hierzu erklärt wurde) wurden gewöhnlicherweise von den Großmächten als "Direktorium" geregelt. Gegen die vereinten Großmächte kam der Rest Europas ohnehin nicht an...
Aber zufrieden bin ich nicht.
Ich auch nicht. Mir ist die von jschmitt wiedergegebene Auslegungsvariante des geheimen Art. 1 des Zusatzabkommens zu begriffsbezogen (mit "au Congrèss" heisst es immer noch "unter sich"; das war übrigens auch die anfängliche Praxis der Vier, die sich unter sich getroffen haben), widersprüchlich (mit den Regelungen der Vier "unter sich" soll Franlkreich nicht ausgeschlossen werden [hää?]) und vor allem auch zu blauäugig. Die Formel "System wirklichen und dauerhaften Gleichgewichts" zielt auf die Aufteilung der Kriegsbeute und der dabei entstehenden Folgen für das Gleichgewicht. - Oder habe ich jschmitt falsch verstanden?
Um die Artikel 2-6 des geheimen Vertrages zu verfassen, hätte es des ersten Artikels nicht bedurft. Die Alliierten waren die Sieger und sie konnten das bestimmen und festlegen, auf das sie sich untereinander einigen konnten. Talleyrand musste es unterzeichen, Frankreich war der Verlierer.

Nun gab es aber noch ungelöste Fragen: Polen, Sachsen, die Entschädigung Preußens, Neapel ... Fragen, deren Entscheidungen auch für Frankreich einige Bedeutung hatten.

Da die Alliierten sich für die Erhaltung der Großmacht Frankreich entschieden hatten, warum sollten sie dann mit der Abfassung des 1. Artikels auf halbem Wege stehenbleiben und dieser Großmacht das Recht absprechen, in denen sie betreffenden Fragen mitzuverhandeln? Das ist für mich die Unlogik. Ich kann doch nicht ein Gleichgewicht erreichen wollen, wenn ich Maßnahmen treffe, die geeignet sind, dieses nicht zu erreichen. Zumal ich als Sieger diesen Artikel gar nicht brauche, wenn ich gewillt bin, Frankreich auszuschließen.

Anders gefragt, warum will ich eine Großmacht Frankreich erhalten, wenn ich sie nicht gebrauchen und nutzen will? Kann der Artikel sich also gegen Frankreich richten? Meiner Meinung nach macht es keinen Sinn.
Wären sich die Vier in Paris über die Aufteilung der Kriegsbeute einig gewesen, hätte Frankreich im Friedensvertrag diese Aufteilung akzeptieren müssen. Aber die Vier waren sich nicht einig. Sie konnten aus faktischen Gründen auch nicht so lange Frankreich besetzt halten, bis sie sich geeinigt hatten. Also musten diese Fragen auf den späteren Wiener Kongress vertagt werden. Hierdurch wiederum entstand die Gefahr, dass Frankreich (trotz Niederlage) von dieser Uneinigkeit der Sieger in Wien profitieren könnte. Mit dem geheimen Art. 1 wird nichts anderes versucht, als Frankreichs Niederlage bzw. Ausfall als Großmacht in die Zeiten des Wiener Kongresses hinein zu verlängern: durch den Ausschluss vom Direktorium und durch die Festlegung der Vier auf vorrangige Verhandlungen "unter sich".

Dass dies unlogisch war, hast du schön herausgearbeitet. Die Unlogik resultierte aber mE daraus, dass die Vier die Opfer, die für eine Einigung in Paris unter sich im Sinne gegenseitigen Nachgebens nötig waren (= A), nicht erbringen wollten, sich aber auch mit der Verschlechterung ihrer Siegermachtstellung, die durch die Wiederherstellung Frankreichs in Wien drohte (= B), nicht abfinden wollten. Die Entscheidungssitution lautete zwar entweder A oder B aber die Vier entschieden sich für weder A noch B.

Der von Dir festgestellte logische Bruch wurde dann ja auch von Talleyrand genutzt, um Frankreich in Wien wieder in den Kreis des Direktoriums zu führen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Meine Überlegung:
Der Kampf gegen Napoleon lief, vor allem in Deutschland, unter der Bezeichnung "Befreiungskriege". Tatsächlich ging es aber nur um die "Befreiung" der alten Dynastien von dem "Emporkömmling" Napoleon und die Restauration des "ancien regime". Während der Französischen Revolution wurde die französische Dynastie ja auch von den anderen Monarchen unterstützt. Wenn es um das "Eingemachte" des gemeinsamen Interesses am "Gottesgnadentum" ging, waren sie sich, trotz aller sonstigen Rivalitäten, doch einig. Das brauchte der "Pöbel" aber nicht auch noch schriftlich zu bekommen. Jedenfalls in diesem historischen Stadium nicht. Nach Konsolidierung der Macht konnte man wieder deutlicher werden.

Vom Gedanken schon richtig, aber es ging bei der Regelung nicht um den Pöbel sondern um die die großen Fünf unter sich und da spielten dann die eigenen Interessen einer jeden Macht ersteinmal die "größere Geige" als die europäischen.

Grüße
excideuil
 
Vorab folgendes: Unter "Kongreß" war keine Konferenz im heutigen Sinne zu verstehen, an der alle Teilnehmerstaaten gleichberechtigt teilnehmen (beraten und abstimmen dürfen). Die Fragen des "europäischen Gleichgewichtes" (das war alles, was von den europäischen Großmächten hierzu erklärt wurde) wurden gewöhnlicherweise von den Großmächten als "Direktorium" geregelt. Gegen die vereinten Großmächte kam der Rest Europas ohnehin nicht an...

Der Artikel XXXII klang zwar so, inhaltlich ist deine Aussage völlig zutreffend. Anders gesagt, die Alliierten hatten den Artikel bei der Abfassung so angedacht.

Wären sich die Vier in Paris über die Aufteilung der Kriegsbeute einig gewesen, hätte Frankreich im Friedensvertrag diese Aufteilung akzeptieren müssen. Aber die Vier waren sich nicht einig. Sie konnten aus faktischen Gründen auch nicht so lange Frankreich besetzt halten, bis sie sich geeinigt hatten. Also musten diese Fragen auf den späteren Wiener Kongress vertagt werden. Hierdurch wiederum entstand die Gefahr, dass Frankreich (trotz Niederlage) von dieser Uneinigkeit der Sieger in Wien profitieren könnte. Mit dem geheimen Art. 1 wird nichts anderes versucht, als Frankreichs Niederlage bzw. Ausfall als Großmacht in die Zeiten des Wiener Kongresses hinein zu verlängern: durch den Ausschluss vom Direktorium und durch die Festlegung der Vier auf vorrangige Verhandlungen "unter sich".

Richtig, Frankreich hätte im "Quadrat springen können", wenn die Alliierten sich einig gewesen wären.
Richtig ist, dass bei der Abfassung des Pariser Friedens auf Frankreichs Interessen Rücksicht genommen wurde, nicht zuletzt in der Hoffung, dass die kommende Herrschaft Ludwig XVIII. stabilisierend wirken würde. Und der maßvolle Frieden von Paris ist aus der historischen Sicht betrachtet immer noch erstaunlich.
Richtig dürfte aber auch sein, dass die Fragen, über die man sich unter den Vier nicht einigen konnte, auch die Interessen Frankreichs betrafen. Völlig klar musste jedem sein, dass Frankreich mit allen gebotenen Mitteln seine Interessen vertreten würde. Warum sollten aber die Alliierten im Pariser Frieden so maßvoll sein, sich dann aber plötzlich den Interessen Frankreichs gegenüber so negierend verhalten?

Dass dies unlogisch war, hast du schön herausgearbeitet. Die Unlogik resultierte aber mE daraus, dass die Vier die Opfer, die für eine Einigung in Paris unter sich im Sinne gegenseitigen Nachgebens nötig waren (= A), nicht erbringen wollten, sich aber auch mit der Verschlechterung ihrer Siegermachtstellung, die durch die Wiederherstellung Frankreichs in Wien drohte (= B), nicht abfinden wollten. Die Entscheidungssitution lautete zwar entweder A oder B aber die Vier entschieden sich für weder A noch B.

Der Gedanke ist gut. Die Frage ist, wer hat sich am stärksten von Frankreich bedroht gefühlt und auf den ersten Artikel bestanden, denn es darf sicher bezweifelt werden, dass die Angst gleich groß war.

Der von Dir festgestellte logische Bruch wurde dann ja auch von Talleyrand genutzt, um Frankreich in Wien wieder in den Kreis des Direktoriums zu führen.

Das sehe ich ein bisschen anders. Der logische Bruch war nur ein Einstieg. Talleyrands rhetorische Auftritte mögen Eindruck gemacht haben, sie sind aus rein diplomatischer Sicht als Musterbeispiele der Diplomatie dargestellt worden. Wirklich erreicht hatte er mit ihnen nichts. Diplomatie vermag nichts, wenn die Macht lächelt. Den Fuß in die Tür und den Platz an den Verhandlungstisch hat er erst bekommen als die Lösung der Probleme einer fünften Großmacht bedurften.

Grüße
excideuil
 
Ich denke, ich habe dem ersten geheimen Artikel zuviel Bedeutung beigemessen. Seit letzten Samstag habe ich ein Buch zum Kongress, dass ein wenig mehr die Verhandlungen zum Pariser Frieden beleuchtet:

"In den Wintermonaten (1813/14) hatten Rußland und Preußen verlangt, die Verhandlungen mit Frankreich auf die Festlegungen der Grenzen dieses Landes zu beschränken und ihm im übrigen die Teilnahme an der Ordnung der kontinentalen Fragen zu verwehren." [1]

Die Idee zu diesem Artikel war also viel früher geboren und sicher Einzelinteressen, wohl aber auch im weiteren Verlauf zu seiner Niederschrift der Gefahr der erneuten Ausbreitung revolutionärer Gedanken geschuldet.

Damals hatte Caulaincourt schon ein Mitbestimmungsrecht angemeldet, beispielsweise in der sächsischen und polnischen Frage. Ihm wurde eine Art Vorfriede präsentiert, im Grunde aber gefordert, dass sich Frankreich herauszuhalten hätte.
Caulaincourt machte dann den Vorschlag, "diese Fragen auf einem allgemeinen Kongress nach dem Friedensschluss zu regeln, "damit wir nicht ausgeschlossen werden und andererseits der Friedensschluss nicht verzögert wird."" [2]

Mal auf Caulaincourt angemerkt, zeigt dies, dass der treue Marquis diplomatisch cleverer war, als ihm gemeinhin zugestanden wird.

"Gegenüber dem so freundlich bewillkommneten bourbonischen Königreich kam Castlereagh auf diesen Vorschlag zurück. Schon während der dem Waffenstillstand vorangehenden Besprechungen im April wurde, wie es scheint, Talleyrand der Kongress unter Teilnahme Frankreichs zugesagt, und im Rahmenentwurf, der dem französischen Minister am 10. Mai übergeben wurde, erschien zum ersten Mal förmlich der nach Wien einzuberufene allgemeine Kongress. [2]
Talleyrand wertete dieses als "ehrenvolles Zugeständnis" [2]

Castlereagh war demnach eindeutig für eine Einbeziehung Frankreichs in die kommenden Verhandlungen.

Die Verhandlungen zur neuen Landkarte Frankreichs sind weniger bekannt, das Ergebnis schon. Auffällig ist, dass es Talleyrand darauf ankam, "mit England alle Reibungspunkte zu beseitigen und einen Frieden von langer Dauer zu schließen." [3] "Nicht minder lag der der englischen Politik an einer schnellen Bereinigung aller Differenzen zwischen Großbritannien und Frankreich; beide würden dann über vieles mit weit mehr Autorität sprechen können, schrieb der Londoner Ministerpräsident, der in dem Bourbonenreich den späteren kontinentalen Helfer sah." [3]

England ist eine Insel, völlig klar, dass es einen möglichst starken Verbündeten auf dem Kontinent brauchte, um nicht Gefahr zu laufen, isoliert zu werden. Und bei Talleyrand als Gegenpart durfte man sicher sein, dass ein dauerhafter Frieden nicht nur gewünscht war.

Zwischen dem 30. Mai und Wien lag noch London. Eine kleine Konferenz der Großmächte sollte die noch offenen Fragen klären. So schrieb Metternich: "Da werden wir uns in der Zwischenzeit, insofern es nicht bereits geschah, mit den deutschen Fürsten einverstanden werden und unsere Ausgleichung unter den Großmächten definitiv in England stattfinden wird, wird dieser Kongress weniger zum Negoziieren als zum Unterfertigen bestimmt sein ..." [4]

Hoffnungen, die wohl durch den Zaren vernichtet wurden.

Jedenfalls waren vor dem Kongress Castlereagh und Metternich in Paris. Sicher gab es mit England Differenzen wegen Preußen, mit Österreich wegen Italien. Im Grunde gab es aber mehr Übereinstimmung als Gegensätze.

Am 18. August, noch vor seinem Eintreffen in Paris schreibt Castlereagh an Wellington:
"Die Lage der Angelegenheiten in der Welt werden naturgemäß England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Kongresse machen, wenn diese Mächte sich mit einander verstehen ..." [5]

Und so war der 1. geheime Artikel schon im Vorfeld des Kongresses unterlaufen.

Ein anderer hingegen wurde dann für die Alliierten zum Problem: der XXXII. des allgemeinen Vertrages, denn der Kongress wurde nun doch nicht das, was man sich im Vorfeld vorgestellt hatte. Und dieser Artikel bot Talleyrand seinen Einstieg: seine Forderung nach Einberufung des gesammten Kongresses:

"Mit unvergleichlicher Dreistigkeit, als sei der geheime Artikel des Pariser Vertrages gar nicht vorhanden, forderte der Franzose die Teilnahme aller Staaten an allen Verhandlungen des Kongresses, brachte die Minister der vier Mächte durch tönernde Phrasen von der Heiligkeit des öffentlichen Rechtes dermaßen in Verwirrung, dass die Sitzung ohne Ergebnis aufgehoben wurde." [6]

Grüße
excideuil


[1] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942), Seite 89
[2] [1] Seite 90
[3] [1] Seite 87
[4] [1] Seite 96
[5] Castlereagh: „Lord Castlereag’s Denkschriften, Depeschen, Schriftwechsel und sonstige amtlich-diplomatische oder vertrauliche Mitteilungen“, herausgegeben von seinem Bruder, Marquis von Londonderry, Hoffmann und Campe, Hamburg, 1854, 5. Teil, Seite 280
[6] Treitschke, Heinrich von: Der Wiener Kongress, Verlag der Heimbücherei, Berlin, 1943, Seite 40
 
Dazu hat muheijo letzten Sommer bereits einen schönen Thread kreiiert [1] :winke: , dessen Faden man wieder aufnehmen könnte. ecxideuil kann sich ja äußern, wie er dazu steht.


[1] http://www.geschichtsforum.de/f16/wiener-kongress-gewinner-und-verlierer-28294/

Sieger und Verlierer. Eine gute Frage.

Ich versuche, dies einmal für Frankreich darzulegen.

Beginnen möchte ich nach Amiens. Meiner Meinung nach die beste Stellung, die Frankreich haben konnte. Sicher kann gestritten werden, ob die Größe Frankreichs bedrohlich und für England nicht hinnehmbar gewesen sein konnte/musste, ich halte die Stellung für eine Basis, auf der Differenzen friedlich diplomatisch geregelt hätten werden können, wenn beide Seiten den Willen dazu gehabt hätten. Frankreich und England als verbündete Mächte hätten den Kontinent wegen der revolutionären Ideen und der zunehmenden wirtschaftlichen Überlegenheit dominiert. Der feudale "Rest" hätte sich etwas einfallen lassen müssen, die deutsche Kleinstaaterei wäre wie ein Kartenhaus zusammengestürzt ...
Diese Gedanken sind meine feste Überzeugung, dass eine friedliche Entwicklung allemal produktiver ist als jeder Krieg.

Gekommen ist es anders. Der 1. Pariser Frieden beschied Frankreich sein Überleben als Großmacht mit geringen territorialen Zugewinnen, ohne Entschädigungen ...
Auf dem Kongress selbst konnte Talleyrand Frankreich in den "Reigen" der Großmächte zurückführen.

Die hundert Tage führten zum 2. Pariser Frieden. Der Herzog von Richelieu kämpfte ähnlich erfolgreich wie Talleyrand ein Jahr vorher, er konnte natürlich nicht verhindern, dass der Frieden "schlechter" war. Man kann beiden auch keinen Vorwurf machen, mehr ging nicht.

Aber egel, ob Talleyrand oder später Richelieu an der einen oder anderen Stelle diplomatisch erfolgreich waren, es ändert nichts daran, dass die Nation der Großen Revolution der große Verlierer des Kongresses war.

1. und der am wenigsten ins Gewicht fallende Grund: Die neuen Grenzen, die 700 Millionen Kontributionen, 150000 Mann Besatzung, 3 Jahre Rückstufung auf eine Macht 2. Ranges ...

2. Die Regierung der Bourbonen: Mit ihnen kam die Dynastie zurück, die auf der weißen Kokarde bestand und sich im 19. Jahr ihrer Regierung sah. Sicherlich waren sie die Regierung, die der kleinste gemeinsame Nenner der Alliierten war, eine Regentschaft Marie Louisens, eine Herrschaft Bernadottes, gar eine Republik wären Illusionen gewesen. Und so kam mit den Bourbonen der Feudalismus zurück, nicht mehr absolut aber immerhin ignorant genug, dass Karl X. und seine Clique 1830 längst nicht begriffen hatten, was sie Frankreich angetan hatten als sie die Postkutsche ins Exil bestiegen.

3. England. Bonaparte war weder Revolutionär noch Republikaner. Aber er verstand England als den einzigen ernsthaften Gegner Frankreichs. Machtpolitisch völlig richtig erkannt.
England hatte sich sich Frankreich nie ergeben, bei Trafalger einen historischen Sieg erzielt, von dem sich das bonapartische System nie erholte.
Dieses England verbesserte seine Situation mit dem Pariser Frieden und dem Wiener Kongress noch einmal, stieg damit zur ersten Weltmacht auf, wenn man diesen Begriff führen mag.

Das Ergebnis für Frankreich zeigt, dass ein Staat mit Ausrichtung auf Krieg über kurz oder lang verliert.

Grüße
excideuil
 
Leider habe ich derzeit wenig Zeit, um Dir antworten zu können. Ich möchte aber bei der von Dir geschilderten Entwicklungslinie Paris (Mai), London (Juni) und Wien (ab Sep.)
Ich denke, ich habe dem ersten geheimen Artikel zuviel Bedeutung beigemessen.

(...)

Und so war der 1. geheime Artikel schon im Vorfeld des Kongresses unterlaufen.
auf Folgendes hinweisen:


In London wurde beschlossen,
  • dass die Höfe der Vier (GB, Pr, Ru und ÖU) einen "Master-Plan" für Europa festsetzen,
  • dass dieser Plan in einem Ausschuss, der aus den Bevollmächtigten der Höfe der Sieben (GB, Pr, Ru, ÖU, F, Schweden und Spanien) besteht, beraten wird und
  • dass dieser Ausschuss dem Kongress das Projekt der Beschlüsse für Europa vorlegt.
Man beachte, dass die Vier in dem Ausschuss der Sieben die Mehrheit stellen würden. Dieser Trick funktionierte nur deshalb, weil man Portugal aussen vor liess.

Als der Zar frühzeitig aus London abreisen musste, verpflichteten sich die Höfe der Vier gegenseitig, bis zur neuen Begegnung der Herrscher nichts, was die künftigen und endgültigen Regelungen Europas angehe, vorwegzunehmen oder vowegnehmen zu lassen.

Am 22.09.1815 beschlossen die Höfe der Vier in Wien dann folgendes:
"1. Daß nur die vier Mächte untereinander sich über die Verteilung der Machtbefugnisse (Länder) einig werden können, die durch den letzten Krieg und durch den Frieden von Paris verfügbar geworden sind, daß aber die beiden anderen zugelassen werden sollen, um ihre Meinung abzugeben und, wenn sie es für angebracht halten, ihre Einwände zu erheben, die alsdann mit ihnen diskutiert werden;
2. daß, um nicht von dieser Linie abzuweichen, die Bevollmächtigten der vier Mächte mit den beiden anderen nur insoweit in Verhandlungen über diesen Gegenstand eintreten werden, als sie jeden der drei Punkte der Gebietsverteilung des Herzogtums Warschau, Deutschlands und Italien vollständig und bis zu vollkommenen Einvernehmen untereinander durchberaten haben."

Quelle: Guglielmo Ferrero, Wiederaufbau - Talleyrand in Wien (1814-1815), 1950, S. 143f. zu London und S. 159ff. zu den Beschlüssen vom 22.09.1814.
 
Am 22.09.1815 beschlossen die Höfe der Vier in Wien dann folgendes:
"1. Daß nur die vier Mächte untereinander sich über die Verteilung der Machtbefugnisse (Länder) einig werden können, die durch den letzten Krieg und durch den Frieden von Paris verfügbar geworden sind, daß aber die beiden anderen zugelassen werden sollen, um ihre Meinung abzugeben und, wenn sie es für angebracht halten, ihre Einwände zu erheben, die alsdann mit ihnen diskutiert werden;
2. daß, um nicht von dieser Linie abzuweichen, die Bevollmächtigten der vier Mächte mit den beiden anderen nur insoweit in Verhandlungen über diesen Gegenstand eintreten werden, als sie jeden der drei Punkte der Gebietsverteilung des Herzogtums Warschau, Deutschlands und Italien vollständig und bis zu vollkommenen Einvernehmen untereinander durchberaten haben."

Quelle: Guglielmo Ferrero, Wiederaufbau - Talleyrand in Wien (1814-1815), 1950, S. 143f. zu London und S. 159ff. zu den Beschlüssen vom 22.09.1814.
Bei Ferrero (S. 160) findet sich noch folgende Begründung dieser Beschlüsse, die von den Vier Höfen ins Protokoll aufgenommen wurde:

„Die Verfügung über die eroberten Provinzen gebührt ihrem Wesen nach den Mächten, deren Bemühungen die Eroberung gelungen ist. Dieses Prinzip ist durch den Vertrag von Paris selbst bestätigt worden, und der französische Hof hat ihm vorher zugestimmt; denn der erste Geheimartikel des Vertrags von Paris besagt auf die präziseste Art, ,daß die Verfügung über die Gebiete auf dem Kongreß gemäß den von den verbündeten Mächten untereinander festgelegten Grundlinien geregelt werden wird. Die Ausdrücke »festgelegt« und »untereinander festgelegt« drücken ganz klar aus, daß es sich hier nicht um einfache Verfügungen oder Auseinandersetzungen handelt, an denen Frankreich teilnehmen würde. Es ist auch nicht ausgesprochen, wo und wie diese Grundlinien festgelegt werden sollen, und es wäre eine vollkommen willkürliche und unrichtige Auslegung, wenn man behaupten wollte, man habe darunter nichts anderes als den Inhalt des bereits zwischen den Verbündeten bestehenden Vertrages verstanden.

Da Frankreich aber zu einer legitimen Regierung übergegangen ist, beabsichtigen die vier verbündeten Mächte nicht, es (Frankreich) oder Spanien von jeder Diskussion über die Verteilung der Gebiete fernzuhalten, insoweit diese Mächte ein besonderes Interesse daran haben oder aber sie (die Verteilung) das Interesse ganz Europas betrifft, so wie sie Frankreich ferngehalten hätten, wenn der Friede mit Napoleon geschlossen worden wäre. Von den drei Abstufungen, die man in Bezug auf diesen Punkt-hätte festlegen können, nämlich-überhaupt nicht zugelassen zu werden, erst zugelassen zu werden, wenn die andern Parteien sich untereinander geeinigt haben, im vorhinein alles anzuerkennen, was die andern beschließen würden, ist die zweite offenbar diejenige, auf die Frankreich Anspruch erheben kann, mit der es sich aber auch begnügen muß.

Anders vorzugehen, wäre übrigens äußerst nachteilig gewesen. Wenn Frankreich erst zugelassen wird, nachdem die vier Mächte untereinander bereits einig sind, wird es darum nicht minder alle Einwände erheben, die es wegen und im allgemeinen Interesse Europas für angemessen hält; es wird aber keine andern erheben.

Wenn es bei der ersten Besprechung anwesend ist, wird es für oder gegen jede Frage Stellung nehmen, ob sie nun mit seinen eigenen Interessen in Verbindung steht oder nicht, es wird den oder jenen Fürsten seinen (Frankreichs) besonderen Anschauungen entsprechend begünstigen oder ihm entgegenwirken, und die kleinen Fürsten von Deutschland werden dadurch, ermuntert werden, jenes ganze Spiel von Intrigen und Ränken von neuem zu beginnen, das zum großen Teil das Unglück der letzten Jahre verschuldet hat.

Darum ist es von äußerster Wichtigkeit, mit den Bevollmächtigten Frankreichs nicht in Verhandlungen einzutreten, bevor dieser Gegenstand vollkommen erledigt ist“.

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Ein Tag später - am 23.09.1814 - traf Talleyrand in Wien ein.
 
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Artikel I. Die Verfügung über die Gebiete, denen Se. allerchristliche Majestät durch den 3. Artikel des öffentlichen Vertrages entsagt, und die Beziehungen, aus denen ein wirkliches und dauerhaftes System des Gleichgewichts in Europa hervorgehen soll, werden von den verbündeten Mächten auf den unter sich festgestellten Grundlagen und nach den in den folgenden Artikeln enthaltenen allgemeinen Bestimmungen geregelt werden.
Nach den Quellen möchte ich nun zur Bewertung des o.g. Artikels schreiten und zunächst einmal mit Ferreros [#15, S. 130] Sicht der Dinge anfangen.

Ferrero weist zunächst darauf hin, dass dieser Artikel von Houssaye (einem viel gelesenen frz. Historiker um das Ende des 19. Jh.) so bewertet wurde, dass sich aus diesem Artikel für Frankreich die Zusage und Verpflichtung ergeben hätte, im vornhinein alle Entscheidungen der anderen Bevollmächtigten gutzuheißen (S. 130).

Hiervon grenzt sich Ferrero wie folgt ab: Die wichtigsten Prinzipien, aus denen Europa wiederaufgebaut werden sollte, seien bereits in dem Vertrag vom 30.05.1814 festgelegt worden: die Unabhängigkeit Deutschlands, der Schweiz, des nichtösterreichischen Italiens etc. etc. Über diese Prinzipien hätte Frankreich mit den anderen Signaturmächten diskutieren können. Es habe aber diese Prinzipien mit dem Geheimartikel 1 angenommen, weil diese weise gewesen wären. "Das europäische System, das aus langen Verhandlungen in Wien hervorgehen sollte, ist in nuce bereits im Vertrag vom 30.05.1814 enthalten" (S. 131).

IMHO: Hier muss man allerdings berücksichtigen, dass der Geheimartikel 1 "zweideutig und sybillinisch" (so auch Ferrero) abgefasst war. Damals gab es noch keine verbindlichen Regelungen über die Auslegung vertraglicher Vereinbarungen. Es war vielmehr üblich, über die Auslegung solcher Vereinbarungen weitere Vereinbarungen zu treffen oder gewohnheitsrechtliche Präjudizien zu schaffen. Einer mehrdeutigen Formulierung kam deshalb in einem Vertragswerk die Funktion einer Schraube zu, an der stets gedreht wurde.

Interessant ist daher die Richtung, in die geschraubt wurde:

Paris (Mai 14): Frankreich soll die zwischen den "verbündeten Mächten" (inkl. Schweden, Spanien und Portugal) "festgelegten Grundlinien" (vage, deshalb weite Handlungsfreiheit) annehmen.

London (Jun 14): die vier Höfe (Rußland, Preußen, Österreich-Ungarn und England) legen den Plan fest, um ihn nachher mit Frankreich, Spanien und Schweden (also ohne Portugal) zu besprechen und ggf zu überarbeiten und ihn anschliessend dem Kongreß gemeinsam (jedenfalls mit 4:3 Stimmen) vorzulegen.

Wien (22.09.14): die vier Höfe entscheiden. Spanien darf über seine eigenen Fragen mitreden. Frankreich wird lediglich zugelassen, um Bemerkungen vorzubringen. Schweden und Portugal bleiben aussen vor.

Wien - so Ferrero - leugnete Paris und London.
IMHO: London und Wien waren in Paris bereits angelegt.
 
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England ist eine Insel, völlig klar, dass es einen möglichst starken Verbündeten auf dem Kontinent brauchte, um nicht Gefahr zu laufen, isoliert zu werden. Und bei Talleyrand als Gegenpart durfte man sicher sein, dass ein dauerhafter Frieden nicht nur gewünscht war.
Spielten dabei die deutschen Ambitionen Englands auch eine Rolle?

Ich meine, der Vormarsch Preußens in Nordwestdeutschland zeichnete sich ja ab. Wer sonst, außer das ehemalige Kurhannover und damit indirekt Englands Einfluss in Dtl., sollte davon bedroht sein?
 
Spielten dabei die deutschen Ambitionen Englands auch eine Rolle?

Ich meine, der Vormarsch Preußens in Nordwestdeutschland zeichnete sich ja ab. Wer sonst, außer das ehemalige Kurhannover und damit indirekt Englands Einfluss in Dtl., sollte davon bedroht sein?

"Solange noch in Deutschland der Krieg um die Zukunft Europas ausgefochten wurde, bestimmten die kriegsführenden Mächte wesentlich allein die Ziele ihres Bundes. Es gelang der englischen Politik nicht, in den Subsidienverträgen, die im Lauf des Jahres 1813 mit den Verbündeten geschlossen wurden, umfassende politische Zusagen zu erkaufen. Nur die Vergrößerung Hannovers um 250000 bis 300000 "Seelen", vor allem um das alte Fürstbistum Hildesheim, musste Preußen dabei zugeben, um seine Wiederherstellung nach dem Stande von 1805 in dem Vertrag vom 14. Juni 1813 zugesichert zu erhalten." [1]

Das Thema Hannover war demnach schon vor dem Pariser Frieden erledigt.

Grüße
excideuil

[1] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942) Seiten 61-62
 
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