Mir scheint das auch die plausibelste Variante zu sein, besprochenen Anhaltebefehl Hitlers zu begründen und zu erklären, denn niemand konnte erahnen oder voraussehen, wie die französischen Truppen reagieren oder wie sich die Schlacht entwickelt - bzw. wie schnell die Abwehrfront zusammen brach. Insofern bzw. auf dieser Basis ist Hitlers Befehl durchaus nachvollziehbar.
Saludos!
Mit etwas Verzögerung nun der Blick in den Feindlagebericht, Abteilung Fremde Heere West.
Danach bestanden im Ganzen exakte und zutreffende Vorstellungen von den alliierten Verbänden im Kessel. Interessant ist auch, dass ebenso treffende Vorstellungen von den Verbänden "außerhalb" bestanden, was das Problem der Flankengefährdung von Süden angeht. Als Hauptproblem wurde der mögliche Durch- und Ausbruch bei Arras in den Lagemeldungen gewürdigt. Hier auszugsweise die wichtigen Passagen:
Lagebericht West Nr. 319 vom 21.5.1940, 13.00 Morgenmeldung:
... In Gegend Douai-Arras trat
gegen den Durchbruch (!) hartnäckiger gruppenweiser Widerstand vorwiegend englischer Verbände in Erscheinung. ...
Starke Belegung der Häfen Dünkrichen und Boulogne und Abfahrt einer größeren Zahl von Transportern kann (!) darauf hinweisen, dass
außer Lagern und rückwärtigen Diensten auch englische Truppenteile von dort abbefördert werden. ...
Feindwiderstand bei der Wegnahme von 4 Brückenköpfen am Südufer der Somme (Anm.: das ist die Südsicherung) zwischen Abbeville und Amiens nur gering.
Lagebericht West Nr. 320 vom 21.5.1940, 23.45 Abendmeldung:
... Seit dem frühen Nachmittag waren Bewegungen aus Gegend westl. Lillers-Bethune-La Bassee
nach Süden festzustellen, aus denen sich ein Angriff gegen die Linie Hesdin-St.Pol-Arras entwickelte Bei der umschlossenen Feindgruppe wurde die Anwesenheit folgender französischer Divisionen bestätigt: ... An englischen Truppenteilen sind neu aufgetreten ...
Gegen die Südflanke des (Anm: eigenen) Durchbruchs zwischen der Küste und der Oise wurden
an keiner Stelle Gegenangriffe geführt... Luftaufklärung über dem Gebiet der franz. 6. Armee beobachtete nur sehr wenig Bewegung und geringfügige Ausladungen ...
Die Schiffsbelegung der Kanalhäfen hat in Dünkrichen und Calais abgenommen, dagegen in Boulogne, Dieppe zugenommen...
Lagebericht West Nr. 321 vom 22.5.1940, 12.15:
Feind
veteidigt unverändert zäh die Stellung Kanal von Gent bis Schelde. ...
Bei Arras wurde am späten Abend ein Angriff französischer Kräfte mit schweren PzKpfWagen abgewiesen. Ergebnisse der weiteren Kämpfe in der Nacht und des
heute um 9.00 an dieser Stelle begonnenen deutschen Angriffs lassen sich noch nicht übersehen. ...
Gebiet südlich Abbeville (Anm: Südflanke) ... bis zu einer Entfernung (=Tiefe) von 30 km feindfrei gemeldet. Lebhafte Flüchtlings- und Räumungsbewegung, dazwischen vielleicht auch einzelne militärische Kolonnen in Richtung auf die untere Seine...
Lagebericht west Nr. 322 vom 22.5.1940, 23.45 Abendmeldung:
In Flandern und Artois umschlosser Feind: ... wurden am 22.5. Bewegungen in westlicher und südwestlicher Richtung beobachtet (Anm: das sind Räumungsbewegungen!) ...
mehrere französische Durchbruchsversuche mit Panzern zwischen Cambrai und Arras nach Süden wurden
abgewiesen ... Einzelheiten über Lage und Truppenfeststellungen in dieser Gegend sind noch nicht bekannt; auch Angaben über Stärke des Feindwiderstandes zwischen Bethune und Boulogne fehlen noch. Durch Gefangene, die in den letzten Tagen zwischen Arras und Amiens gemacht wurden, wurde anwesenheit der franz. 4. Kolonial-ID und 1. Panzerdivision sowie der englischen 12. ID teil-mot., 23. ID mot. und 44. ID teil-mot. bestätigt, außerdem die der englischen 42. ID teil-mot. und 46. ID teil-mot. neu gemeldet (Anm: diese Meldung ist wegen der Durchmischung der Verbände völlig übertrieben!) ...
südlich Somme-Abschnitt zwischen Abbeville und Amiens war auch bis zum Nachmittag des 22.5. kein nennenswerter Feind festzustellen ...
Luftaufklärung war am 22.5.
durch Witterung behindert, neue wesentliche Feststellungen haben sich nicht ergeben. Nach mehreren Meldungen hat beschleunigt Überführung weiterer Divisionen aus Nordafrika nach Frankreich begonnen ...
Lagebericht West Nr. 323 vom 23.5.1940, 12.30 Morgenmeldung:
Seit 22.5. abends besteht eine Dauer-Funkverbindung zwischen Kriegsministerium London und (Anm: eingeschlossener) englischer Armee in Frankreich...
Zwischen Valenciennes und Arras wurde
nach Abweisung mehrerer neuer Durchbruchsversuche
der Ring um den Feind enger geschlossen. Er wurde hier auf und hinter den Schelde-Kanal, den Sensee-Kanal und die Scarpe geworfen. Durchbruchsversuche bei Cambrai am 22.5. wurden von einem gemischten französich-englischen Panzerverband geführt. Außerdem wurden in dieser Gegened erneut Teile der engl. 12. ID teil-mot und 23. ID mot. bestätigt. Am 23.5. morgens waren Ansammlungen mit Panzern südlich Lens,
nördlich davon jedoch kein Feind festzustellen...
In der Gegend St.Omer-Boulogne ... Feindabwehr nicht in einer zusammenhängenden Stellung, sondern (Anm: nur!) in örtlichen Widerstandsgruppen...
Transportbewegungen: in der Nacht vom 22./23.5. wurden Transportbewegungen durch Paris in Richtung Epernan in Tempo 72 (Anm: 72 Transport-Züge in 24 Stunden) beobachtet, dabei nach einer Truppenfeststellung wahrscheinlich neu aus Nordafrika überführte Einheiten...
Lagebericht West Nr. 324 vom 23.5.1940, 23.45 Abendmeldung:
Umschlossene Feindgruppe: ... südlich anschließend hat der Feind unter Druck des (deutschen) Angriffs die Schelde-Stellung aufgegeben. ... Teile der frz. 43. ID wurden nach Verschießen ihrer letzten Munition gefangen ... Bei Maubeuge wurde das letzte Fort genommen ... Am Schelde-Kanal starker Feinwiderstand, dort neben Festungstruppen Teile der frz. 1., 9., 15., und 25. ID., angeblich Teile der 4. und 10. ID (sehr zweifelhaft, vielleicht Marschbataillon?)
...
bei Arras halten die Engländer noch den Stadtrand, außerdem in dieser Gegend noch gemischter frz.-engl. Panzerverband, der mehrere erfolglose Vorstöße nach Westen und Südwesten unternahm. (Anmerkung: nun ein wichtiger Hinweis, der Hitlers Entscheidung am 24.5. mittags und der HG A-Rundstedt morgens vorlag: )
Feststellungen im Funkverkehr lassen
es als möglich erscheinen dasss umschlossene Feindkräfte einen Vorstoß gegen rückwärtige Verbindungen der nach Norden angreifenden Panzergruppe Kleist beabsichtigen. Bis zum Abend des 23.5. lagen jedoch noch keine Meldungen vor, dass ein derartiger Durchbruchsversuch begonnen hat. ...
Der (deutsche) Panzerangriff auf Lillers-St.Omer-Valias-Boulogne traf an mehreren Stellen auf hartnäckigen, jedoch unzusammenhängenden Widerstand... Reste der 1. und 2. frz. Panzerdivision wurden in einem frz. Armeebefehl vom 18.5. als "Trümmer" bezeichnet. In der umschlossenen Feiundgruppe ... sind mindestens 10 weitere Divisionen schon jetzt als fast aufgelöst anzunehmen (Anm: neben der frz. 68. ID). ...
Südfront: nichts Neues
Lagebericht West Nr. 325 vom 24.5.1940, 12.30 Morgenmeldung ), Anm: lag im OKH, Abteilung Fremde Heere West vor, kann bei Heeresgruppe A und Hitler um diese Zeit, zu der der Haltebefehl durch Hitler bestätigt wurde, NICHT vorgelegen haben:
... Zwischen Denain und Arras zäher Feindwiderstand,
der jedoch am Kanal (!) südwestlich Denain und an der Scarpe ostwärts Arras durch unseren Angriff gebrochen wurde ... Über Feindeindruck im Gebiet zwischen Arras und Boulogne liegen keine neuen Meldungen vor. Anzeichen für Absichten eines
neueren größeren Durchbruchsversuches aus dieser Gegend sind bis gestern Abend n i c h t zu erkennen gewesen. Mehrere Funksprüche und Gefangenenaussagen zeigen, dass bei eingeschlossener Feindgruppe Mangel an Munition, Verpflegung und Betriebsstoff eingetreten ist.
Lagebericht West Nr. 326 vom 24.5.1940, 23.45 Abendmeldung:
... zwischen Valenciennes und Arras leisteten Franzosen zähen Widerstand. Nordostwärts Arras
ließ er jedoch vor unserem Angriff nach, Feind geht hier nach Norden zurück. Truppenfeststellungen ergaben beginnende Vermischung (Anm: als Zeichen der Auflösung und Vernichtung) auch bei englischen Verbänden. ... Vermischung der Verbände nimmt immer mehr zu, ihr Kampfwert ist vermindert. ... Boulogne wurde dem Feind .... genommenm um Calais wird hart gekämpft.
Neue französische Kräftegruppe zwischen Küste und Oise: ... Heranführen von Reserven aus Südfrankreich ...
Soweit die Meldungen im Originaltext.
Wenn man etwas tiefer in die Lage bei Dünkirchen und Arras einsteigt, so wie dass in den Schriften von Jacobsen erfolgt ...
Jacobsen, Dünkirchen, Neckargemünd 1958 (Reihe DWiK Nr. 19)
Jacobsen, Fall Gelb, Wiesbaden 1957, der Kampf um den deutschen operationsplan zur Westoffensive 1940
Jacobsen, Dokumente zur Vorgeschichte des Westfeldzuges 1939-1940 und Dokumente zum Westfeldzug 1940 (Studien und Dokumente zur Geschichte des ". Weltkrieges, Bände 2a und 2b), Göttingen 1956 und 1960
Jacobsen, Dünkirchen 1940, in: Entscheidungsschlachten des 2. WK, hrsg. von Jacobsen/Rohwer, S. 7-57 ...
sind dieses wohl die Schlüsselmeldungen der Abteilung FHW, aufgrund deren das OKH Entscheidungen treffen mußte.
Es handelt sich bei allen Meldungen also lediglich um das Problem des Ausbruchs aus dem Kessel, nicht eines südlichen Gegenangriffs zum Aufschluss des Kessels.
Frieser führt das Ganze für meinen Eindruck zu sehr auf ein "gruppenpsychologisches" Problem zurück. Wenn man einmal die klaren Regelungsstrukturen berücksichtigt, mag es einen Meinungsstreit gegeben haben, der
1. in der hierachischen Organisationstruktur "Korps-Armee-Heeresgruppe-führendes(!) OKH" eine klare Lösung beansprucht hätte, nämlich die des zuständigen OKH
2. der von Rundstedt unter Umgehung der Führungsstruktur in Ansprache Hitlers gelöst wurde.
Man kann den Operationsplan nicht auf den bloßen Durchstoß zum Kanal reduzieren, sondern zum Verständnis gehört auch das Hammer-Amboß-Prinzip in der Aufgabenverteilung zwischen Heeresgruppe A und B. Dieses Grundprinzip wurde durch den Haltebefehl verletzt, obwohl herausragende Feindaufklärungsergebnisse vorlagen, deren Richtigkeit bekannt war und nicht gegen die Fortführung der Operation sprachen.
Man könnte es auf den Punkt bringen: Rundstedt hatte hier hinsichtlich "Haltebefehl" nichts zu befehlen, er hat die Befehlsstruktur umgangen, Hitler hatte gegen die für die Tragweite der Anordnung allein fachlich kompetete Stelle (nämlich das mit der Führung der Gesamtoperation aller drei Heeresgruppen beauftragte OKH) entschieden.
Der Abtransport (der Gegenangriffe völlig unwahrscheinlich werden ließ) wurde schließlich mit Lagebericht 26.5., 12.15 Morgenmeldung glasklar erkannt:
... In Dünkirchen wurden 26.5. morgens 13 Kriegsschiffe und 9 Transporter beobachtet. um 7.30 liefen 6 Transporter zu je etwa 10.000 to aus. Auch in der vergangenen Nacht war Verkehr von Tranportern über den Kanal zu beobachten. Diese Feststellungen in Zusammenhang mit den Beobachtungen von Bewegungen in dem umschlossenen Raum nach Norden, des Herausziehens der englischen Verbände sowohl an der Lys wie aus Gegend Arras und am LaBassee-Kanal, endlich der Wortlaut des Befehls an den Kommandanten von Calais machen es wahrscheinlich,
dass der A b t r a n s p o r t d e s b r i t i s c h e n E x p e d t i o n s k o r p s (Anm: Sperrschrift im Original) begonnen hat.
Quelle: Generalstab des Heeres, Lageberichte West der Abteilung Fremde Heere West vom 10.5. bis 30.6.1940, hrsg. durch den Abteilungschef, Oberstleutnant Liss.
Abschließend: Feind-Lagekarte 21.5.1940 der Abteilung FHW:
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