"Mythos
Das Kaiserreich war moderner als gedacht
Von Eberhard Straub
Dieser Sammelband führt mitten hinein in die brüchigen Mythen der Modernisierungsideologie. Sven Müller und Cornelius Torp entlarven in " Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse" das negative Bild dieser Epoche als ein Vorurteil. Leider fehlt ein Beitrag zur Sozialdemokratie.
Langsam wandelt sich auch in Deutschland das Bild vom Kaiserreich. Das dokumentieren die Beiträge in dem von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp herausgegebenen Band „Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse“. Der so oft beschworene Junker-, der Militär- und der Obrigkeitsstaat erweist sich bei einer gründlicheren Analyse als polemische Konstruktion. Die Junkerklasse war nie eine Einheit, weil die Interessen der reichen und wirtschaftlich erfolgreichen Aristokraten sich von denen der verarmten Adeligen unterschied oder den verbeamteten, die im Staatsdienst ihr Auskommen suchten. Auch der Junker musste sich den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft in einem Rechts- und Verwaltungsstaat anpassen, studieren und Examina machen.
Er musste mit der Rechtsentwicklung vertraut sein und damit mit dem von Liberalen geprägten Recht. Wer auf dem Lande blieb, konnte sich neuen Methoden in der Landwirtschaft nicht verschließen; wer in die Armee eintrat, durfte sich nicht der „Verwissenschaftlichung“ des Militärwesens und der Technisierung verweigern.
Adelige Offiziere, Agrarunternehmer oder Beamte erwiesen sich als vertraut mit neuen Methoden, eben modernen und hielten in keiner Weise den Prozess der Modernisierung auf. Wie alle Klassen wurde auch der Adel von der allgemeinen Politisierung ergriffen, die nach dem Sturz Bismarcks die Deutschen in Massenverbänden mobilisierte. Der Untertan ist eine Karikatur Heinrich Manns, der den Staatsbürger und den Rechts-, Kultur- und Sozialstaat seiner Gegenwart nicht begriff. Heinrich Manns Roman ersetzte lange Zeit Forschungen über den Bürger und den Adel als soziale Gestalten.
Mittlerweile erweist sich der bürgerliche Sozialtypus als ebenso variationsreich wie der des Junkers oder Adeligen. Der Pluralismus und eine mit ihm verbundene Unübersichtlichkeit, sehr moderne Erscheinungen, erlauben keine einseitigen Idealtypisierungen in der sich entwickelnden Massengesellschaft. Darauf verweisen die Beiträge meist britischer Historiker oder deutscher an britischen Universitäten. (...)
Quelle und ganzer Artikel in der WELT:
Das Kaiserreich war moderner als gedacht