Ammianus hätte sich doch lächerlich gemacht, wenn er über ein großes Gotenreich unter einem König Ermanarich geschrieben hätte, obwohl es weder noch gab. Immerhin war das ein zeitgenössisches Ereignis, und er schrieb für das Publikum seiner Zeit. Glaubst Du, den Lesern wäre nicht aufgefallen, wenn er da über ein Reich und einen König in der Nachbarschaft des Römischen Reiches schreibt, von dem noch nie jemand etwas gehört hat? [/QUOTE]
Haben sich die Spanier laecherlich gemacht, als sie aus der Neuen Welt von einem Koenig der Atzteken berichteteten, der in Wirklichkeit nur Sprecher des Regierungsrates der Atztekenrepublik war? Nein, in Spanien hat man ihnen ihre Projektion spanischer Verhaeltnisse auf die Atzteken auch in gebildeten Kreisen abgekauft. Noch heute faseln manche Historiker von einem atztekischen Adel, als sei das Atztekenreich tatsaechlich eine Kopie europaeischer oder maurischer Feudalverhaeltnisse.
Gleiches kann man fuer Ammianus annehmen. Das Publikum, fuer welches er schrieb, kannte die Barbaren in erster Linie als Krieger und Pluenderer, nicht als Traeger einer Rom vergleichbaren Kultur. Verhandlungspartner waren die jeweiligen Heefuehrer, wenn einer von ihnen wieder eine Kriegergruppe auf roemisches Gebiet fuehrte, um Beute zu machen oder Handel zu treiben. Deshalb liegt es nahe, in den Kriegshaeuptlingen vermeintliche Herrscher auch in Friedenszeiten zu erkennen und in kriegerischen Buendnissen fest gefuegte Reiche. Die wahrscheinliche Abhaengigkeit dieser Kriegsherren von thingaehnlichen Versammlungen der jeweiligen Stammesgruppe ausserhalb der Kriegszuege konnte auch weggelassen werden. Eine derartige Abhaengigkeit des roemischen Kaisers als oberster Heerfuehrer war den Roemern zur Zeit Ammianus auch in gebildeten Kreisen fremd.
Bei Dir beißt sich die Katze in den Schwanz. Waren die Hunnen nun stark genug, um die germanischen Völkerschaften unter ihrer Herrschaft zum Gehorsam zu zwingen, solange die Hunnen einig waren, oder nicht? Natürlich wurde Attila durch seine germanischen Vasallen noch stärker, aber er muss auch mit seinen Hunnen stark genug gewesen sein, um die Germanen zum Gehorsam zu zwingen. Das bedeutet aber, dass die Hunnen unter einheitlicher Führung sehr wohl für sich allein schon eine Macht gewesen sein müssen, stark genug, um z. B. ein großes Gotenreich am Schwarzen Meer zu zerschlagen.
Du meinst ja auch, in der Schlacht am Nedao hätten fast nur Germanen gegeneinander gekämpft. Wo sollen denn da die Hunnen gewesen sein? Immerhin ging es da um den Erhalt ihrer Oberherrschaft. Und da sollen die Hunnen abseits gewartet haben, und als sie sahen, dass ihre Germanen gegen die aufständischen Germanen verloren haben, haben sie sich kampflos verkrümmelt? Das ergibt doch keinen Sinn.[/QUOTE]
Solange wir hier Herrschaft nicht im germanischen Sinne der Zeit der Voelkerwanderung verstehen, sondern eine Herrschaft des Mittelalters oder noch schlimmer der Neuzeit auf die Fruehgeschichte projektieren, kommen wir da nicht weiter. Jeder einzelne Krieger war gegenueber seinem Heerfuehrer gleichwertig. Er unterstellte sich diesem nur, wenn der Heerfuehrer durch strategisches Vermoegen reiche Beute im Kriegszug zu machen versprach. Ein Adel, der Kraft seiner Geburt Vorrechte beanspruchen konnte, gab es noch nicht. Deshalb mussten die Soehne Atilas erst unter Beweis stellen, die strategische Begabung ihres Vaters geerbt zu haben, wenn sie von den Vasallen des Vaters als Heerfuehrer anerkannt werden wollten.
Die Bindung der Vasallen an den Heerfuehrer bestand darin, einen Anteil an der Kriegsbeute oder an den Tributzahlungen der Unterworfenen zu erhalten. Blieben diese aus, so bestand keinerlei Bindung mehr an diesen zentralen Heerfuehrer, seinen Hof oder seine Sippe. Deshalb bestand das sogenannte Reich der Hunnen nur solange, wie es von Atila gefuehrt wurde. Seine Soehne jedoch als Abkoemmlinge eines Koenigshauses zu verstehen, dem die Vasallen des Vaters verpflichtet seien, missversteht die Epoche und projektiert spaetere feudale Verhaeltnisse des Mittelalters in die Fruehzeit.