Ich erlaube mir hierauf mit einer Gegenfrage zu antworten: Warum sollten die Verfasser des Exodus und Levitikus den Narrativ der Wanderung ihres Volkes wählen, wenn sie ihn für ahistorisch gehalten hätten?
Dass sich Wanderhirten im Ägypten aufhielten, war in der Zeit vom 15. bis zum 12. Jh. v. Chr. keine Seltenheit. Verschlechterten sich die Lebensbedingungen in der Steppe oder der Wüste, zogen solche Gruppen in das Land am Nil, wo das Nildelta reiche Nahrungsquellen bot. Solche Züge liefen durchaus geordnet ab, d.h. die ägyptischen Grenzposten registrierten die Ankömmlinge und wiesen ihnen einen Aufenthaltsort zu. Als Gegenleistung zogen die Ägypter solche Nomaden zu Dienstleistungen heran, wozu besonders Bauvorhaben zählten.
Zu solchen Nomaden haben vermutlich die Gruppen gehört, die in die spätere Überlieferung der Hebräer den Aufenthalt in Ägypten einbrachten. Die Flucht einiger Hebräer aus Ägypten wurde zum Angelpunkt späterer Erzähltradition, weil sie entgegen der Macht des Pharao gelang. Das Entkommen wurde als ein Wunder dargestellt und in immer reicherer Form ausgeschmückt. Und da auch ein Anführer notwendig war, der göttliche Hilfe erhielt, wurde Moses aufgebaut, dessen Vita immer mehr Lgenden umwucherten.
Der Auszug aus Ägypten stiftete somit eine hebräische Identität, die in Erzählungen verbreitet und im Passahfest als kultisches Ereignis gefeiert wurde. [1]
Das Fehlen jeder direkten außerbiblischen Nachricht über den Auszug aus Ägypten und die Eroberung Palästinas bildet kein durchschlagendes Argument, die biblische Überlieferung abzulehnen, sondern beruht auf der Tatsache, dass diese Vorgänge im internationalen Maßstab zu belanglos waren, als dass sie in den zeitgenössischen Quellen Spuren hinterlassen hätten. Allerdings fand der Exodus nicht so farbenreich statt, wie ihn die Bibel schildert, und er war vermutlich weitaus weniger spektakulär.
Sicher war es nicht ein ganzes Volk, das wanderte und es gibt ohnehin eine Reihe von Historikern, die die Ethnogenese des jüdischen Volks erst in Kanaan/Palästina annehmen und nicht glauben, dass bereits ein "Volk der Hebräer" in Palästina einwanderte. Man kann im übrigen davon ausgehen, dass längst nicht alle nomadischen Hebräer an den Nil migriert waren, sondern ein beträchtlicher anderer Teil in Palästina zurückgeblieben war und die hebräischen Neuankömmlinge bei der Besetzung und Besiedlung Kanaans tatkräftig unterstützte.
[1] Manfred Clauss, Das Alte Israel, München 1999