[...] Matthäus und Lukas. Aber auch hier, was das Privatleben angeht: Fehlanzeige.
Das ist ganz richtig. Sowohl dieser Punkt als auch die in den Evangelien fehlende Charakterbeschreibung bringen mich auch zu der Einsicht, dass die Meinung, die Evangelien seien nicht unter die antike Biographien zu zählen, begründet ist.
Ist das so? Schauen wir uns die kanonischen Evangelien doch mal an:
2/4 berichten die Geburtsgeschichte, nämlich Matthäus und Lukas.
Matthäus berichtet vom Kindermord von Bethlehem und der Flucht nach Ägypten, Lukas berichtet vom zwölfjährigen im Tempel
Markus und Johannes berichten nur vom Wirken Jesus ab seinem dreißigsten Lebensjahr, also seine letzten drei Lebensjahre. Dies ist auch der Schwerpunkt von Matthäus und Lukas. Aber auch hier, was das Privatleben angeht: Fehlanzeige.
Es wird berichtet, wo er aneckt, wo er mit den Pharisäern in Streit gerät, Predigten und Wunder. Und sonst? Sein Tod, der wiederum notwendig ist zum Bericht seines Hauptwunders, nämlich seiner Wiederauferstehung.
Berechtigt an dem Rest Deines Einwandes ist vor allem die Tatsache, dass Markus und Johannes anders als Matth. und Luk. eben nichts über die frühe Lebenszeit Jesu berichten.
Aber, wenn ich mich mal auf Matthäus und Lukas stütze, so ist es beinah schon die Regel, dass in der antiken Biographie die Stoffmenge erst mit dem Auftreten der Hauptperson i. d. Öffentlichkeit erheblich zunimmt.
Gucken wir uns z. B. Suetons Augustus-Biographie an, so begegnet da weitgehend dieselbe Situation:
Kap. 1-8: Herkunft u. Familie, Geburt, Kindheit, Jugend, Asbildung
Kap. 9-101 handeln über den erwachsenen in der Öffentlichkeit stehenden Oktavian/ Augustus
– mit Ausnahme von Kap. 94, wo über die wunderbaren Umstände der Geburt und über die Vorzeichen der Herrschaft bereits i. d. Kindheit des Augustus berichtet wird.
Zu Beginn des 9. Kapitels sagt Sueton, dass er bis hierhin „eine Zusammenfassung seines [des Augustus] Lebens“ geboten habe und jetzt gewissermaßen über das Wirken des erwachsenen Augustus Auskunft geben wolle. Sueton hebt mit der Rückkehr des Oktavian aus Apollonia nach Rom nach der Ermordung Caesars an, weil hier das öffentliche politische Wirken u. Leben des Augustus seinen Anfang nimmt. Ein vergleichbarer Punkt im Leben der Hauptperson ist in den Evangelien Jesu Begegnung mit Johannes dem Täufer bzw. die Taufe Jesu.
Nimmt man bei Sueton: Augustus die Kapitel 1-8 + 94 zusammen, so hat man nur 9 Kapitel, die über die „Lebensstationen“ Herkunft/ Famile, Geburt, Kindheit u. Jugend handeln. Dem stehen 92 Kapitel gegenüber, die über das Wirken und Leben des erwachsenen Augustus handeln. Also ca. 91 % der Kapitel zu Augustus als öffentliche erwachsene Person, und nur knapp 9 % zu allem Vorherigen im Leben der Hauptperson.
(Wende ich diese – freilich sture und deshalb fragwürdige – Rechnerei auf das Matth.- und das Lukasevangelium an, so ergibt sich: Ca. 92-93 % der Kapitel handeln über den Zeitraum, in welchem Jesus öffentlich wirkte, 7-8 % der Kapitel über den früheren Zeitraum. Also kein nennenswerter Unterschied zur Augustus-Biographie Suetons).
Ich habe mir mit der Augustus-Biographie nicht extra eine herausgesucht, die sich in jener Hinsicht mit den Evangelien vergleichen lässt, sondern wirklich die erste, die mir in die Hände fiel, gemustert. Ich schätze aber, dass dieses quantitative „Mißverhältnis“ zwischen Geburt/Kindheit/Jugend-Stoff auf der einen Seite und Öffentlich-Wirken-Stoff auf der anderen Seite in den allermeisten antiken Biographien besteht (als ein Gegenbeispiel fällt mir da allerdings gerade die Augustus-Biographie des Nikolaos v. Damaskus ein). Bei Plutarchs Cicero-Biographie z. B. komme ich ungefähr auf ein Verhältnis 10 % (Kap. 1-4/5) zu 90 % (Kap. 5/6-49).
Im Übrigen stand Augustus sehr viele Jahre länger i. d. Öffentlichkeit als Jesus, der später in die Öffentlichkeit trat als Augustus und schon in viel jüngerem Alter verstarb, weshalb das hier:
Sprich: Aus einem 33jährigen Leben haben wir über dreißig Jahre Funkstille. Anders ausgedrückt: Nicht einmal zehn Prozent der Lebenszeit werden durch die Evangelien abgedeckt.
in meinen Augen nicht so aussagekräftig ist.