Um die konstruktive Diskussion noch ein wenig weiter zu führen als Ergänzung zu Scorpio und Silesia noch ein paar zusätzlich Punkte.
Die NS-Ideologie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern adaptierte und radikalisierte eine Vielzahl von Ideen und Werten, die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik durchaus eine breite Akzeptanz gefunden haben. Dieses wird zumindest mehr als deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Ideen zur Eugenik in den zwanziger und dreißiger Jahren ansieht, und die Darstellung bei Aly (2013) ist da hilfreich für das Verständnis.
In seiner Darstellung wird deutlich wie breit die Zustimmung zu Zielsetzungen im Bereich der Eugenik in der deutschen Gesellschaft vorhanden waren und nicht einfach dem links-rechts-Schema folgten, sondern auch durch - sozialistische - Mediziner durchaus ernsthaft diskutiert und unter bestimmten Bedingungen für akzeptabel gehalten wurden.
In diesem Sinne waren die Zielsetzungen des NS-Staates im Rahmen der Eugenik durchaus in einer gewissen Übereinstimmung vor allem mit dem säkularisierten Teil der Bevölkerung. Der Widerstand - vgl. die Darstellung bei Scorpio - kam vor allem aus dem Umfeld der katholischen Kirche und speiste sich aus ihrem spezifischen konservativen Werteethos.
Dennoch bezog sich auch die Rechtfertigung nach dem WW2 nicht selten auf die Umfrage unter ca. 200 Elternpaaren von jungen Patienten, in denen sie zumindest teilweise einer Tötung grundsätzlich zustimmten, sofern damit Leiden verkürzt wird. Das belegt m.E. dass es zumindest eine zwiespältige Haltung in der deutschen Bevölkerung zur Eugenik gab. Sicherlich keine Zustimmung zur Tötung durch Gas!
Die Problematik und Widersprüchlichkeit dieser Diskussion wird deutlich, wenn man einerseits betrachtet, dass links-liberale Protagonisten auf der einen Seite sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzten und auch in anderen politischen Arenen "moderne Reformvorschläge" formuliert haben, aber aus diesem Umfeld auch eine Bejahung der Tötung von bestimmten - behinderten - Patienten kam.
Insofern ist die Zielsetzung der späteren Aktion T4 und ihre ideologische Begründung aus einem gewissen politischen Konsens hervorgegangen. Dieser Konsens speiste sich dabei sehr stark aus sozialdarwinistischen Vorstellungen, die nicht alleine auf das rechte politische Spektrum reduziert waren. Und die daraus für die sozialpolitische Praxis drastische Konsequenzen ableiteten.
Und diesem Kontext der instrumentellen Umsetzung spielten dann vor allem auch wirtschaftliche Berechnungen eine Rolle, die dann in ihrer technokratischen Radikalität bei den "Vordenkern der Vernichtung" aufgegriffen und zugespitzt worden sind. In diesem Sinne wurde durch das NS-Regime nichts neu erfunden, sondern nur extrem radikalisiert und zugespitzt. Und in dieser radikalen Zuspitzung die Grenzen einer universellen Ethik - die als Konsens für die meisten europäischen Länder unterstellt werden kann - überschritten und entsprechende Ablehnung erfuhr.
Einen wichtigen Meilenstein bildetet dabei die Denkschrift "Vernichtung lebensunwerten Lebens" von Hitlers Leibarzt Morell im Sommer 1939. Und in dem zweiten Teil der Denkschrift wird der Mord an Patienten in einer volkswirtschaftlichen Beispielrechnung illustriert. Dabei wird die Bedrohung durch den antizipierten Mangel im Rahmen einer Kriegsführung zum zentralen Paradigma, um die Sinnhaftigkeit dieser Rechnung zu begründen.
In diesem Sinne sagte V. Brack, (bei Hitler zuständige Mitarbeiter für Euthanasie), dass Hitler durch die Aktion T4 "nutzlose Esser los werden will und die freiwerdenden Krankenhauskapazitäten im Rahmen der Kriegsführung effektiver nutzen will.
Morell rechnete zudem ein Beispiel durch. 5000 Patienten , die jeweils ca. 2000 RM p.a. benötigen kosten 10 Mio RM pa. "Folgt man Morells Modellrechnung, dann ergab der Mord an 200000 [die Plangröße] kranken und geschädigten Deutschen bis 1945 ein ....Kapital von acht Milliarden Reichsmark.(Aly, 2013, Pos. 430).
Dieses Rechenbeispiel hat einen Vorläufer in den Darstellungen des Rassehygienikers A. Plotz, der bereits 1910 formuliert hatte, dass "die Erhaltung der Lebensuntüchtigen ein Luxus" sei (vgl. Aly, ebd.). Ähnlich als Vorläufer Potthoff.
In Bezug auf diese Rechenbeispiele sollte man jedoch nicht die ideologische Fundierung und die damit zusammenhängende Zielsetzung mit der Ausformulierung der Planungen, also den eigentlichen "Machbarkeitsstudien" verwechseln.
Die planerische Erfassung der Vernichtungsmaschinerie war ein zentraler Aspekt der Interaktion der zentralen staatlichen Säulen, wie Neuman es zutreffend im Behemoth beschrieben hatte.
In diesem Sinne wurde die gesamte Planung des Vernichtungskrieges und seiner kriegswirtschaftlichen Aspekte und Konsequenzen beispielsweise durch ca. 1600 Geheimgutachten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft in seinen Dimensionen erfaßt (Aly, 2001, S. 12).
Somit ist präzise für die Aktion T4 zwischen den ideologisch determinierten Zielen und den Aspekten der Umsetzung zu unterscheiden.
Ansonsten ist aber auch sehr deutlich zu betonen, wie auch in früheren Diskussion, noch mit Melchior, dass das destruktive Agieren der SS unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zweckrational nicht zu erfassen sei und die Vernichtung von Menschen mit einem jüdischen Glauben objektiv dysfunktional war für die deutsche Volkwirtschaft im Dritten Reich.
Eine kurze Darstellung der juristischen Aufarbeitung liegt bei Eckart vor.
Aly, Götz (2013): Die Belasteten. Euthanasie 1939 - 1945; eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag
Aly, Götz; Heim, Susanne (2001): Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag
Eckart, Wolfgang U. (1999): Fall 1: Der Nürnberger Ärzteprozeß. In: Gerd R. Ueberschär (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943 - 1952. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. , S. 73–85.