Bischof Oster schrieb:
...ich glaube ehrlich gesagt, es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen dem christlichen Fundament und einer funktionierenden Demokratie. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass in den allermeisten Ländern, wo Demokratien funktionieren, eine christliche Kultur vorausgegangen ist, eine Kultur, die die Personenwürde achtet, die die Menschenwürde, die Freiheit der Menschen achtet, die auf Diskurs aus ist und aufbaut.
Es mag kleinlich erscheinen, aber es wurde in den meisten Beiträgen an der zentralen These vorbeidiskutiert. Im Kern sagt er, dass die Fundierung der Demokratie auf einer "Kultur" aufbaut, in deren Zentrum die Menschenwürde und die Freiheit der Menschen steht. Damit reklamiert er für die Kirche, dass sie maßgeblich dieses Verständnis der Menschenwürde mit errichtet hat und deswegen sich indirekt auch als Vorbereiter einer demokratischen Kultur ansehen kann.
Diesem wurde u.a. von mir mit Joas widersprochen, der sich explizit mit der historischen Entwicklung der Menschenrechte auseinandergesetzt hatte (vgl. z.B. Hunt, Joas und Menke). Bisher ist kein Autor in diesem Thread benannt worden, der relativ neutral, also nicht als Vertreter von Kircheninteressen, eine gegenteilige Position bezogen hätte.
Begibt man sich denn trotzdem auf "Spurensuche" nach einer expliziten demokratischen Tradition - bzw. den einzelnen Komponenten - als Fundament moderner demokratische Strukturen in der Kirche, dann wird man aus der Sicht der Literatur eher enttäuscht.
Folgt man z.B. der Auswahl von Hoerster, dann ergeben sich explizit Überlegungen zur Demokratie bei den antiken griechischen Klassikern. Für das Mittelalter wird man eher auf Augustinus und den "Gottesstaat" verwiesen. Ähnlich die Darstellung bei Flasch, der den Begriff "Demokratie" noch nicht einmal im Sachregister aufführt. Ähnlich die Darstellung bei Beyme (S. 19ff) für das Mittelalter. Einer Periode, die durch einen intensiven Machtkampf zwischen der Kirche und der weltlichen Macht gekennzeichnet war und es um autokratische Herrschaftsansprüche der einen wie der anderen Seite ging. Aber sicherlich nicht um die Fundierung einer demokratischen Praxis, basierend auf den Prinzipien der Menschenrechte. Die - auch christlichen - Exzesse der Kreuzzüge liegen gerade zurück und die "Hexenverfolgung" bzw. die von "Ketzern" durch die Inquisition lagen zum großen Teil noch in der Zukunft.
Folgt man der "Spurensuche" weiter durch den Verlauf der Geschichte, so schreiben Andresen und Denzler (S. 177), dass sich der Begriff der "Christlichen Demokratie" zur Zeit der Französischen Revolution ausbildet. Wie ohnehin von einzelnen Vertretern des Klerus (vgl. z.B. Abbe Sieyes) durch wichtige theoretische Beiträge zur Fundierung der Ideen der Französischen Revolution geleistet worden sind.
Aber es waren einzelne Personen, die in der Regel gegen die "Amtskirchen" agierten und diese demokratische Gedankengut entwickelte sich in einem weltlichen Kontext und teilweise im Antagonismus zur Amtskirche.
Dennoch ist auch anzumerken, dass die Amtskirche und ihre zentralen ideologischen Aussagen immer wichtige Bezugspunkte für die Entwicklung eigenständiger emanzipatorischer Theorien waren, wie bei Marx oder Engels deutlich ersichtlich.
Dieser Beitrag der Kirche als negative Folie der Entwicklung moderner demokratischer Theorien und Praxis ist hoch einzuschätzen, aber er wäre - im statistischen Sinne - mit einem negativen Vorzeichen versehen!!!
Der eigentliche Paradigmenwechsel der Kirche in Bezug auf demokratische Ideale fand erst nach dem WW2 statt
Und Bajohr ignoriert komplett die Rolle der Kirchen bei seiner Geschichte des demokratischen Zeitalter!
Andresen, Carl; Denzler, Georg; (2004): Wörterbuch Kirchengeschichte. Genehmigte und aktualisierte Lizenzausg. Wiesbaden: Marix.
Bajohr, Stefan (2014): Kleine Weltgeschichte des demokratischen Zeitalters. Wiesbaden: Springer VS
Beyme, Klaus von (2009): Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300 - 2000.Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
Flasch, Kurt (1986): Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart: Reclam.
Hunt, Lynn (2008): Inventing human rights. A history. New York : Norton.
Hoerster, Norbert (Hg.) (1997): Klassische Texte der Staatsphilosophie. München: Dt. Taschenbuch Verl.
Joas, Hans (2015): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte; mit einem neuen Vorwort. . Berlin: Suhrkamp
Joas, Hans (2015): Sind die Menschenrechte westlich?: Kösel.
Menke, Christoph; Raimondi, Francesca (Hg.) (2011): Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen. Berlin: Suhrkamp