Die generelle Fragestellung findet sich so in der historischen Diskussion nicht wider, da das Parteienspektrum im Kaiserreich die fünf zentralen politischen Bewegungen widerspiegelte, die sich bereits seit dem "Vormärz" auskristalisiert haben. Und insofern gab es eine ideengeschichtliche Kontinuität der wichtigsten politischen Gruppierungen.
Zu diesem Zeitpunkt wurden sie bereits von Zeitgenossen als "Parteien" wahrgenommen (vgl. Ritter, S. 10ff). Organisatorisch verankert war die Herausbildung im "Vereinswesen" und der zunehmenden Bedeutung einer politischen Publizistik. (vgl. z.B. Habermas: Strukturwandel). In diesem Kontext waren "Honoratioren" die Träger der frühen Ausbildung des Parteiensystems in Deutschland.
Relevant ist dieser Aspekt insbesondere dadurch, da der Übergang von den "Honoratiorenparteien" des Bürgertums gekennzeichnet war durch die massive organisatorische Unterstützung einzelner Parteien durch gesellschaftliche oder wirtschaftliche "Organisationen". So kam es zu "Übernahmen" von Parteien durch Interessenorganisationen, die im wesentlichen die partikularen Interessen der jeweiligen Organisationen vertraten. Und in der Konsequenz die von Lepsius beschriebenen "sozialmoralischen Milieus" ausprägten die die politischen Konfliktlinien im Deutschen Reich mit geprägt haben (vgl. zur empirischen Analyse Henning) . Und die Zusammenarbeitung der Parteien nachhaltig erschwert haben.
https://www.ssoar.info/ssoar/bitstr...ialmoralische_Milieu_und_seine.pdf?sequence=1
Dieser Aspekt ist insofern hoch bedeutsam, da er die Struktur des Parteiensystem maßgeblich mit beeinflußt hat. Und in seiner Bedeutung - der egoistischen Betonung partikularer Interessen - bis Ende der zwanziger Jahre den Niedergang der Demokratie von Weimar mit erklären kann.
Nach einer Dekade des Zurückbildens der Parteienlandschaft setzte ca. 1860 - konzentriert auf Preußen - eine massive Politisierung im Zuge der Polarisierung während des preußischen Heeres- und Verfassungskonflikts ein. Und kann als der erneute Startpunkt der Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland gedeutet werden.
Die eigentliche Veränderung setzte ca. 1889 ein im Zuge der schweren ökonomischen Krise. Und die politische Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten durch alle Parteien wurde zur gängigen Praxis im Zuge der Wahlkämpfe und kann an der zunehmenden Wahlbeteiligung bis 1912 leicht abgelesen werden (steigt von ca. 50% in 71 auf über 80" in 1912 an (vgl. Ritter, S. 25)).
Folgt man der Diskussion des Forschungsstands bei Kühne (S. 17) dann können im wesentlichen zwei Sichten auf die Entwicklung des Parlamentarismus im Deutschen Reich diagnostiziert werden. Eingebettet ist diese Diskussion in die "Sonderweg-Kontroverse".
Die eine Sicht betont im wesentlichen die pseudodemokratischen Strukturen, da die Parteien nicht wie in England oder Frankreich in die reale Regierungsverantwortung genommen worden sind. Und erklärt aus dieser Sicht auch das Scheitern von Weimar (vgl. z.B. Fischer, Wehler etc.)
Die revisionistische Sicht betont dagegen, dass es durchaus eine evolutionäre Entwicklung des Parteiensystems im Deutschen Reich gab, die als "Lehrjahre" beispielsweise von Anderson bezeichnet worden sind. (vgl. Eley, Anderson etc.) Und Anderson betont, dass es bezeichnend ist, dass trotz der Gefahr eines "Staatsstreichs" in den neunziger Jahren, es nach 1898 als Option nicht mehr in Frage kam. Und somit ein wichtiger Indiz für die qualitative Veränderung des Parlamentarismus im Deutschen Reich war. (Anderson, S. 506)
An dieser Diskussion entzündet sich weitgehend die historische Diskussion, wobei derzeit die "Revisionisten" Konjunktur haben.
Anderson, Margaret Lavinia; Hirschfeld, Sybille (2009): Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart: Steiner
Kühne, Thomas (1994): Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preussen. 1867-1914 : Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt. Düsseldorf: Droste
Ritter, Gerhard A. (1985): Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien u. Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht