Eine Erklärung für die geringe Zahl habe ich nicht. Aber damit ist klar, dass des Schlachtfeld von Kalkriese wiederholt von Römern betreten wurde. Der von den Anthropologen bestimmte Zeitraum von 2 bis 10 Jahren passt geradezu wie die Faust aufs Auge zu den 6 Jahren zwischen der Varusschlacht und dem Feldzug des Germanicus.
Ich bin zwar der Meinung, dass es sich bei den 17 nachgewiesenen Individuen um von Römern bestattete Römer handelt, also Kalkriese ein Schauplatz der Varusschlacht ist, aber "klar" ist das damit noch nicht. Es ist ein Indiz. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Die Erklärung für die geringe Anzahl der in Kalkriese bislang nachgewiesenen Individuen liegt
womöglich darin, dass man noch nicht alle Bestattungsplätze gefunden hat.
Sicher ist aber, dass die Erhaltungsbedingungen für Knochen und Zähne in Kalkriese aufgrund der Bodenverhältnisse außerordentlich schlecht sind. Den Erhalt der bisherigen Knochenfunde (die leider zu schlecht erhalten sind, um DNA aus ihnen zu gewinnen (theoretisch bis 5000 Jahre möglich)), verdanken wir der Auskleidung der Knochengruben mit Kalksteinen, welche den Prozess der Kalzium-Entziehung verlangsamten.
Ein Individuum ließ sich anhand seines Schädels nachweisen. Also der Schädel an sich war gar nicht mehr da, aber die Zähne - als härtestes und dauerhaftestes Material des menschl. Köpers - fanden die Archäologen im Wallmaterial, wie sich das aus zahnärztlicher Sicht gehört (außer eben, dass die Kieferknoche mit dem Rest des Schädels verwest waren).
Das ist ein Punkt, aber er passt nicht zu der nach den Berichten zu vermutenden Anzahl der Opfer. Auch nicht zu dem Bericht der Bestattung der Opfer in einem Grabmal. Da der Fund also von den Quellen abweicht, kann ich nur vermuten, dass hier wiederholt Truppen des Germanicus das am Hellweg unter dem Berg gelegene Schlachtfeld betreten haben. Z.B. bei Schlacht an den Pontes longi...
Die Schlacht an den
pontes longi muss südlich oder westlich der Ems stattgefunden haben, denn Germanicus kehrte nach der Bestattung der varianischen Truppen und einem kurzen Scharmützel mit Arminius an die Ems zurück, wo er die Truppen für die Heimkehr aufteilte.
Zudem wäre für die
pontes longi zu erwarten, dass man im Münzhorizont Münzen der zweiten Lyoner Altarserie finden würde (Lugdunum II-Asse, Lugdunum II-Dupondien), in Kalkriese findet man aber nur Münzen der ersten Lyoner Alterserie und Gaius/Lucius-Denare bzw. Aurei als Schlussmünze.
Interessant wäre, ob es Hinweise zur Lage von solchen Gräbern in oder bei den Marschlagern gibt.
Cicero schreibt, dass die Bestattung in einer Stadt verboten sei. Und das entspricht auch weitestgehend dem archäologischen Befund von römischen Gräbern. Nur Kinder findet man hin und wieder auch innerstädtisch bestattet, v.a. Kleinkinder. Meistens befinden sich die Grabstellen entlang der Verkehrswege, da es den Römern wichtig war, in Erinnerung zu bleiben. Daher auch die teils selbst von mittleren und unteren Schichten so oppulent gestalteten Grabmale. Dabei ist interessant zu bemerken, dass die Römer auf Grabbeigaben offenbar wenig wert legten (anders als Gallier und Germanen z.B.), dafür aber selbst Handwerker (und wenn sie das Geld hatten sogar Sklaven) sich Grabsteine schaffen ließen, die von ihrem Leben erzählten.
Wir finden das auch bei Standlagern so. Die Gräber befinden sich i.d.R. an der Ausfallstraße außerhalb des Lagers. Bei Marschlagern ist das schwieriger. Die bestanden ja i.d.R. nur eine oder wenige Nächte und gestorben wurde i.d.R. nur bei Krankheiten und Schlachten oder eben in Ausnahmefällen. Ein 25jähriger kann aus dem Nichts heraus tot umfallen, aber die Regel ist das eben nicht. Daher dürfte der Nachweis von Bestattungen bei Marschlagern äußerst schwer sein. Ein umkämpftes Lager - für die Varusschlacht haben wir das nicht positiv überliefert, aber sowohl bei den
pontes longi als auch bei Idisavisto wurde nachts gekämpft bzw. von Seiten der Römer angenommen, dass es zu nächtlichen Angriffen kommen könne - wird wohl kaum verlassen werden, um draußen eine Begräbniszeremonie zu veranstalten. Eine gebeutelte römische Armee, die seit mehreren Tagen entlang von Sümpfen und Gebirgszügen entlang sich ihren Weg in Richtung Rhein erkämpft und die es geschafft hat, ein Lager zu errichten, wird zusehen, dass die noch kampffähigen Soldaten möglichst noch einen Happen zu Essen bekommen und vielleicht auch ein Teil der Soldaten eine Mütze voll Schlaf, bevor der nächste Angriff kommt oder man am kommenden Morgen weitermarschiert. Irgendwann geht die Pietät gegenüber den Kameraden einfach verloren, wenn es nur noch ums nackte Überleben geht.
Was speziell Varus angeht, so scheinen die Römer ja tatsächlich noch versucht haben, ihn zu verbrennen, zumindest war sein Leichnam laut dem Zeugnis des Velleius Paterculus halbverbrannt:
Vari corpus semiustum. Andere Szenarien würde ich aber nicht völlig ausschließen.
Ob der südliche Wall mit seinem unregelmäßigen Verlauf wirklich von den Römern angelegt wurde, ist schwer vorstellbar.
Ich war immer - und bin es auch eigentlich noch - Anhänger der Germanenwallhypothese. Jedoch muss ich einräumen, dass zur Zeit die Indizien eher in die andere Richtung zu weisen scheinen, dass es sich um einen römischen Lagerwall handelt. Lass mich dir helfen diese Deutungsmöglichkeit weniger schwer vorstellbar zu machen und schau dir mal den Aufbau des Lagers von
Plumpton Head an.
Was die beiden bei Tacitus beschriebenen Lager und die Parallellesung mit Cassius Dio anbelangt:
Auch wenn Cassius Dio detaillierter als alle früheren Autoren ist (bzw. zu sein scheint) - was per se schon ein Grund zur Vorsicht sein sollte - so ist sein Text doch keineswegs ein Protokoll der Schlacht. Dass er es nicht für nötig hielt, für alle drei (bzw. vier) Marschtage den Bau eines Lagers gesondert zu erwähnen bedeutet nicht, dass die Römer an den drei ersten Marschtagen keines gebaut hätten. Es ist zumindest als wahrscheinlich anzunehmen, dass die Römer noch Lager (welcher Güte auch immer) bauten, keines zu bauen wäre wie ein Offenbarungseid gegenüber dem angreifenden Feind gewesen, hätte diesem signalisiert, dass die geschwächte Armee nicht mehr in der Lage sei, ihren Routinen zu folgen und
sich zu schützen.