@Dion (& indirekt
@Reinecke):
Bei der Frage, ob Luthers Antijudaismus dem Antisemitismus Vorschub geleistet haben könnte, war ich ja durchaus bei Dir, aber hier übertreibst Du meiner Ansicht nach. Du bist offensichtlich schon insofern im Irrtum, als dass im 20. Jahrhundert der überwältigende Anteil der christlichen Welt
gegen den Faschismus kämpfte, in Wahlen und in Kriegen. Wer handelte nun christlich und wer unchristlich, die Deutschen und Italiener, oder die Vielzahl der christlichen Nationen, die gegen sie zu Felde zogen?
Es stimmt ja, dass gerade der Klerikalismus eine Nähe zum Faschismus aufweist, trotzdem ist es absurd, den Faschismus zur Ausformung des Christentums zu machen. Insbesondere der Nationalsozialismus ist nicht einmal eine Entartung des Christentums, sondern steht dessen Lehren diametral entgegen, wie sich schon im Konflikt zwischen den Nazis und dem österreichischen Ständestaat zeigte, dessen dediziert christliche Staatsordnung nach dem Anschluss rasch abgewickelt wurde.
Es wurde durch andere schon vielfach auf klügere Weise betont, trotzdem schadet die Wiederholung nicht: Die Nazis bedienten sich eines christlichen Anstrichs nur in der Zeit vor ihrer Erlangung der totalen Macht. Die antichristliche Konzeption der Ideologie ist bereits in ihrem Symbol angelegt, dem Hakenkreuz, das Hitler als Antwort auf das Kreuz der Christen entwarf, ein, wie er meinte, kraft- und lebloses Symbol der Schwäche. Die Christen, so Hitler in 'Mein Kampf' sinngemäß, hätten das germanische Sonnenrad angehalten, er werde es wieder in Gang bringen.
Deutsche Christen, die die Nazis unterstützten, handelten ihrer Religion zuwider, also müssen sie sie verworfen haben – oder sie schlossen aus antikommunistischen Motiven einen Pakt mit dem Teufel. Dies dürfte übrigens ein Hauptgrund für viele gläubige Christen und Kleriker gewesen sein, sich den Nazis anzudienen. Was nichts an der Unvereinbarkeit ihres Tuns mit den religiösen Dogmen ändert.
Der Höflichkeit halber, noch ein paar nachgereichte Antworten:
Das kann man für Europa so attestieren. In den USA sieht es mit den Evangelikalen mE anders aus.
Die Evangelikalen sind keine Kirche im christlichen Sinne, sondern ein loser Verbund von Sekten, religiösen Vereinen und den Erben von Reformbewegungen wie den Herrnhutern. Sie bilden eher politisch als theologisch eine Einheit, und auch dies nur im Konflikt mit der Linken.
Was ihren Grad an Liberalität oder Illiberalität angeht, das mag man für eine Wertungsfrage halten, aber wenn diese Organisationen 2023 nicht liberaler wären als ihre Vorgänger 1923 oder 1823, so würden sie gewiss nicht unverheiratete Frauen in den Kongress wählen.
Nun, ich für meinen Teil verstehe unter "Aufklärung" vor allem einen bestimmten sozialen Habitus und damit ein eher kulturgeschichtliches Phänomen, dessen Wirkmächtigkeit im Hinblick auf große Umbrüche ich für meinen Teil eher bezweifle.
Deine Definition widerspricht der meinen nicht, soweit ich das überblicken kann. Der Einfluss der Aufklärer auf Zeitgenossen (gerade auf die breite Masse) wird meines Erachtens in der Tat überschätzt, doch lässt sich in meinen Augen auch nicht bestreiten, dass ihr Wirken im weiteren Verlauf der Geschichte Früchte trug. Eher schon würde ich hinterfragen wollen, ob das sogenannte Zeitalter der Aufklärung seine Bezeichnung insofern verdient, als Newton, Voltaire und Co. keine Philosophie der Rationalität aus dem Nichts erschufen, sondern ihrerseits auf den Schultern anderer standen.
Man muss es gar nicht an den Inhalten totalitärer Systeme festmachen, es reicht eigentlich die religiösen Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen im 19. Jahrhundert annzuschauen, den zur Wende des 20. Jahrhunderts immer populärer werdenden Spiritismus mit seinen esoterischen Auswüchsen etc. etc.
Damit wiederum gehe ich nicht konform, denn wie wirkmächtig waren diese Bewegungen in ganzen Zahlen, inwieweit prägten sie Politik und Gesellschaft?
Davon abgesehen lässt sich diese Pluralisierung mit all ihren Auswüchsen, die Du richtig konstatierst, ja gerade als starken Hinweis darauf deuten, dass die Religion an sich in jener bereits auf dem Rückzug war, wie Nietzsche es verkündet hatte, und dass sich gerade diejenigen Charaktere, die für abseitiges oder radikales Gedankengut empfänglich waren, auf Sinnsuche begaben, weil ihnen der klassische Glaube nicht mehr streng, nicht mehr mächtig, nicht mehr stabilisierend genug war.
Hinsichtlich der Liberalisierung des Christentums und dem Vergleich mit der muslimischen Welt:
Ist die (graduelle, davon wirklich liberal im modernen Sinne zu sein, ist es ja mitunter weit entfernt) Liberalisierung des Christentums tatsächlich Ergebnis von Aufklärung?
Alles in allem würde ich sagen: Ja.
Der wissenschaftliche Fortschritt, den die Aufklärer so entscheidend vorantrieben, hat den Anspruch der Religionen unhaltbar gemacht, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Wir werden in philosophischer und empirischer Hinsicht nicht beweisen können, dass es Gott nicht gibt, aber wir sind bereits ziemlich nahe dran, jeden menschlich denkbaren Beweis für seine Existenz entkräftet zu haben.
Ich würde behaupten, dass die Transformation der christlich geprägten Gesellschaften Europas durch die Industrialisierung und die Veränderung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung da eine weit mächtigere Triebfeder gewesen sein mögen, als die Aufklärung als ideengeschichtliches oder kulturhistorisches Phänomen, weil dadurch die gesellschaftlichen und materiellen Grundlagen, auf der die christliche Religion einmal aufgerichtet worden war ihr Fundament verlor und daher um eine Reform nicht herum kam.
Wenn in weiten Teilen der muslimisch geprägten Welt eine entsprechende Liberalisierung nicht stattgefunden hat, würde ich eher fehlende Industrialisierung als Transformator der materiellen Grundlagen der Gesellschaft als Ursache betrachten, als fehlende Aufklärung.
Der materielle Fortschritt, der gestiegene Lebensstandard und, vor allem, die gesunkene Sterblichkeit haben sicherlich eine Rolle gespielt, aber ich bezweifle, dass sie die stärkere oder auch nur eine starke Triebfeder waren. Und selbst wenn Du Recht haben solltest, ließe sich immer noch Dein Umkehrschluss auf die islamische Welt bezweifeln. Denn anders lässt sich für mich z.B. der exorbitante Wohlstand, den alle saudischen Bürger genießen, nicht mit der Tatsache vereinen, dass man in Saudi-Arabien noch für Zauberei mit dem Schwert öffentlich hingerichtet werden kann. Einige der reichsten und – zumindest in sozialen, wenn auch nicht in politischen – Markern am höchsten entwickelten Staaten dieser Welt sind die arabischen Monarchien, deren selbst liberalste streng konservativ islamisch und religiös intolerant sind.
Wieso gibt es "säkulare Muslime" nur in der Türkei? Ich denke, die gibt es in jedem Land, in dem Muslime leben. Bei einem Aufenthalt im Iran konnte ich feststellen, dass dort sehr viele Muslime sehr säkular denken und sich auch möglichst so verhalten. Sie gehen nicht oder nur selten in die Moschee und beten nicht 3x am Tag. Die Emanzipationsbewegung iranischer Frauen gegen den Kopftuchzwang in der Öffentlichkeit ist ja sogar hier durch die Medien gegangen.
Stimmt, da hatte ich zu sehr verallgemeinert. Mea culpa. Allerdings denke ich nicht, dass dadurch meine Bemerkungen an sich entkräftet werden.