muck
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Einleitung
Das Mittelalter ist eine Epoche voller Widersprüche. Einer davon hat mich stets mehr fasziniert als die meisten: der Kontrast zwischen dem weit verbreiteten romantischen Bild von Ritterlichkeit und der verbürgten Realität mittelalterlicher Kriegsführung. Ich möchte diesen Beitrag nutzen, um mich dem Phänomen zu nähern, und die Frage aufwerfen, ob es sich wirklich um einen Widerspruch handelt.
Wohlgemerkt, dieser Text soll natürlich keine wissenschaftliche Arbeit werden, das überstiege meine Möglichkeiten und meinen Anspruch. Hauptsächlich möchte ich ein paar Gedanken ohne Gewähr auf Richtigkeit in den Raum werfen und das Echo hören, und nebenbei ein paar Leseempfehlungen teilen.
Vielleicht ist ja der eine oder andere ebenfalls an der Thematik interessiert.
Natürlich werde ich hier auch keine bahnbrechenden Erkenntnisse – oder auch nur einen halbwegs vollständigen Überblick – abliefern können, deswegen soll das Folgende vor allem als Einleitung für den eigentlichen Sinn und Zweck dieses Fadens dienen: Ich möchte Kurzbiographien zu Personen sammeln, die zeitgenössischen Quellen entweder als besonders ritterlich oder unritterlich galten. So kann sich jeder selbst ein Urteil dazu bilden, was Ritterlichkeit war – oder auch: nicht war.
Denn manchmal versteht sich die Meinung der Zeitgenossen fast von selbst (so bei Pierre du Terrail, auf den die Phrase "ohne Fehl und Tadel" gemünzt war), während der gute Ruf des unumgänglichen Richard Löwenherz nicht leicht nachzuvollziehen ist. Und in wieder anderen Fällen kommt uns Propaganda in die Quere: Wie kam z.B. Johannes Duns Scotus dazu, den damals unerfahrenen Robert Bruce als "zweiten Ritter der Christenheit" zu bezeichnen (direkt nach Kaiser Albrecht I.)?
Widersprüche
Zunächst etwas zu diesem hypothetischen "Kodex" des Rittertums, der längst eine so feste Größe in unserer Popkultur geworden ist, und seiner Widersprüchlichkeit.
Zwar gibt es aus meiner Sicht keinen vernünftigen Grund zur Annahme, dass Kriege im Mittelalter brutaler geführt worden seien als in den Jahrhunderten davor oder danach. Doch machen übertrieben düstere Bilder die offensichtlich schönfärberischen Darstellungen vieler zeitgenössischer wie auch nachgeborener Autoren nicht richtiger. Ihr Bild von Rittertum und Ritterlichkeit erscheint uns oft naiv.
So gibt es für den Troubadour Bertran de Born keinen "lieblicheren" Ort als das Schlachtfeld. Der große Chronist des 14. Jahrhunderts, Jean Froissart, bringt es gar fertig, die Verheerung ganzer Landstriche als "edle Unternehmung" zu bezeichnen. Und der Historienroman kannte lange Zeit gefühlt sowieso keine romantischere Ära als das Mittelalter mit seinen edlen Rittern und holden Damen.
Die Abweichung zwischen ihrer Darstellung des Rittertums und der Realität scheint Froissart und Konsorten wenig zu stören, nicht einmal die Kriegserfahrenen unter ihnen. Der Hunger und die Seuchen, unter denen die Heere im Feld oft litten, kommen bei ihnen ebenso selten zur Sprache wie das Leid einer Bevölkerung, deren Lebensgrundlage in Kriegszeiten gewohnheitsmäßig vernichtet wurde.
Nachwehen dieser romantischen Verklärung finden wir sogar noch in der älteren Forschung, etwa in Johan Huizingas (trotzdem) großartigem 'Herbst des Mittelalters'. Sein Bild von Rittern und Ritterlichkeit ist meiner Meinung nach von den Statuten des Ordens vom Goldenen Vlies beeinflusst.
Und hier stoßen wir bereits auf Interpretationsschwierigkeiten. Denn zwar hatte der Orden wirklich einen Verhaltenskodex und nahm ihn überaus ernst, wie das Beispiel der öffentlichen Bestrafung wegen Ehebruchs beweist, die Herzog Karl der Kühne von Burgund 1468 in strikter Befolgung der Statuten gegen seinen Lieblingshalbbruder Anton aussprach. Andererseits lässt sich anhand solcher Anekdoten nichts über das Rittertum im Allgemeinen aussagen, sondern nur über diesen Orden.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint sich das bis zur Romantik vorherrschende Bild des Rittertums völlig ins Gegenteil verkehrt zu haben, so jedenfalls mein Eindruck. Ob es so etwas wie einen Ritterkodex gab, diese Frage stellt sich vielen Fach- und Romanautoren nicht mehr.
Für David S. Bachrach versteckt sich hinter dem Begriff "code of chivalry" kaum mehr als Fan Fiction, vom Adel zur Selbstüberhöhung fabriziert. Frühere Historiker, findet er, hätten zu oft in der Artussage geschmökert und zu selten in zeitgenössischen Tatsachenberichten und archäologischen Quellen.
(Allerdings sei in diesem Zusammenhang erwähnt: Bachrach betont an anderer Stelle auch, fiktive Werke würden durchaus als Quellen taugen, da sie dem Leser plausibel erscheinen und also die Realität als Richtschnur akzeptieren mussten, um sein Interesse zu wecken.)
Die gleiche Ablehnung zeigt sich auch in neueren populärwissenschaftlichen und belletristischen Werken, über die man annehmen könnte, sie wären eher bereit, an beliebten Klischees festzuhalten.
So urteilt der Autor und Amateurhistoriker Shad M. Brooks auf seinem reichweitenstarken YouTube-Kanal Shadiversity, es habe niemals einen "Kodex" der Ritterlichkeit gegeben. Ein guter Ritter sei nach den Normen der Zeit schlicht einer gewesen, der tat, was man ihm abverlangte, morality be damned.
Und was den historischen Roman anlangt, genügt wohl zu wiederholen, was der Historiker Bernd Schneidmüller einmal zu mir über Bernard Cornwell gesagt hat, den heute weltweit meistgelesenen Autor des Genres: "Unter einem Absatz Blut pro Seite macht er's halt nicht."
Welcher Standpunkt ist nun zutreffend?
Und was meine ich, wenn ich behaupte, die oft völlig entgegengesetzte Realität widerspricht nicht notwendigerweise der Existenz eines Ideals von Ritterlichkeit?
Orientieren wir uns doch an den Eliten unserer Zeit, und denken z.B. an Leonardo DiCaprio. Der mit dem Privatjet zu einer Preisverleihung fliegt, um eine Rede über die Gefahren des Klimawandels zu halten. Was sagt er damit über sich aus: Vertritt er opportunistisch Werte, die er nicht beherzigt? Glaubt er, dass Regeln, die er für wichtig hält, für ihn nicht gelten? Ist er bloß faul?
Was auch immer davon zutreffen mag – im Tun aller Menschen klafft hin und wieder ein Riss zwischen moralischem Anspruch und schnöder Wirklichkeit. Und dieser Riss wird bei den Mächtigen oft zur Kluft.
Damit ist freilich noch nichts über die Existenz und Gültigkeit des verfehlten Ideals ausgesagt. Und streng genommen nicht einmal über die Aufrichtigkeit der Überzeugung dessen, der das Ideal propagiert, ihm aber nicht gerecht wird. Zunächst sehen wir nur, dass das Ideal schwer zu erreichen ist.
Zu den großen Missverständnissen in diesem Zusammenhang zählt außerdem die Annahme, es müsse – nach den Maßstäben seiner Zeit – überhaupt einen Widerspruch darstellen, wenn ein Ritter hier ein Prinz Eisenherz war und dort der Schlächter eines Weilers. In der ständischen Ordnung des Mittelalters war es alltäglich, einer Personengruppe Privilegien zuzugestehen, die man einer anderen verweigerte.
Das Mittelalter ist eine Epoche voller Widersprüche. Einer davon hat mich stets mehr fasziniert als die meisten: der Kontrast zwischen dem weit verbreiteten romantischen Bild von Ritterlichkeit und der verbürgten Realität mittelalterlicher Kriegsführung. Ich möchte diesen Beitrag nutzen, um mich dem Phänomen zu nähern, und die Frage aufwerfen, ob es sich wirklich um einen Widerspruch handelt.
Wohlgemerkt, dieser Text soll natürlich keine wissenschaftliche Arbeit werden, das überstiege meine Möglichkeiten und meinen Anspruch. Hauptsächlich möchte ich ein paar Gedanken ohne Gewähr auf Richtigkeit in den Raum werfen und das Echo hören, und nebenbei ein paar Leseempfehlungen teilen.
Vielleicht ist ja der eine oder andere ebenfalls an der Thematik interessiert.
Natürlich werde ich hier auch keine bahnbrechenden Erkenntnisse – oder auch nur einen halbwegs vollständigen Überblick – abliefern können, deswegen soll das Folgende vor allem als Einleitung für den eigentlichen Sinn und Zweck dieses Fadens dienen: Ich möchte Kurzbiographien zu Personen sammeln, die zeitgenössischen Quellen entweder als besonders ritterlich oder unritterlich galten. So kann sich jeder selbst ein Urteil dazu bilden, was Ritterlichkeit war – oder auch: nicht war.
Denn manchmal versteht sich die Meinung der Zeitgenossen fast von selbst (so bei Pierre du Terrail, auf den die Phrase "ohne Fehl und Tadel" gemünzt war), während der gute Ruf des unumgänglichen Richard Löwenherz nicht leicht nachzuvollziehen ist. Und in wieder anderen Fällen kommt uns Propaganda in die Quere: Wie kam z.B. Johannes Duns Scotus dazu, den damals unerfahrenen Robert Bruce als "zweiten Ritter der Christenheit" zu bezeichnen (direkt nach Kaiser Albrecht I.)?
Widersprüche
Zunächst etwas zu diesem hypothetischen "Kodex" des Rittertums, der längst eine so feste Größe in unserer Popkultur geworden ist, und seiner Widersprüchlichkeit.
Zwar gibt es aus meiner Sicht keinen vernünftigen Grund zur Annahme, dass Kriege im Mittelalter brutaler geführt worden seien als in den Jahrhunderten davor oder danach. Doch machen übertrieben düstere Bilder die offensichtlich schönfärberischen Darstellungen vieler zeitgenössischer wie auch nachgeborener Autoren nicht richtiger. Ihr Bild von Rittertum und Ritterlichkeit erscheint uns oft naiv.
So gibt es für den Troubadour Bertran de Born keinen "lieblicheren" Ort als das Schlachtfeld. Der große Chronist des 14. Jahrhunderts, Jean Froissart, bringt es gar fertig, die Verheerung ganzer Landstriche als "edle Unternehmung" zu bezeichnen. Und der Historienroman kannte lange Zeit gefühlt sowieso keine romantischere Ära als das Mittelalter mit seinen edlen Rittern und holden Damen.
Die Abweichung zwischen ihrer Darstellung des Rittertums und der Realität scheint Froissart und Konsorten wenig zu stören, nicht einmal die Kriegserfahrenen unter ihnen. Der Hunger und die Seuchen, unter denen die Heere im Feld oft litten, kommen bei ihnen ebenso selten zur Sprache wie das Leid einer Bevölkerung, deren Lebensgrundlage in Kriegszeiten gewohnheitsmäßig vernichtet wurde.
Nachwehen dieser romantischen Verklärung finden wir sogar noch in der älteren Forschung, etwa in Johan Huizingas (trotzdem) großartigem 'Herbst des Mittelalters'. Sein Bild von Rittern und Ritterlichkeit ist meiner Meinung nach von den Statuten des Ordens vom Goldenen Vlies beeinflusst.
Und hier stoßen wir bereits auf Interpretationsschwierigkeiten. Denn zwar hatte der Orden wirklich einen Verhaltenskodex und nahm ihn überaus ernst, wie das Beispiel der öffentlichen Bestrafung wegen Ehebruchs beweist, die Herzog Karl der Kühne von Burgund 1468 in strikter Befolgung der Statuten gegen seinen Lieblingshalbbruder Anton aussprach. Andererseits lässt sich anhand solcher Anekdoten nichts über das Rittertum im Allgemeinen aussagen, sondern nur über diesen Orden.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint sich das bis zur Romantik vorherrschende Bild des Rittertums völlig ins Gegenteil verkehrt zu haben, so jedenfalls mein Eindruck. Ob es so etwas wie einen Ritterkodex gab, diese Frage stellt sich vielen Fach- und Romanautoren nicht mehr.
Für David S. Bachrach versteckt sich hinter dem Begriff "code of chivalry" kaum mehr als Fan Fiction, vom Adel zur Selbstüberhöhung fabriziert. Frühere Historiker, findet er, hätten zu oft in der Artussage geschmökert und zu selten in zeitgenössischen Tatsachenberichten und archäologischen Quellen.
(Allerdings sei in diesem Zusammenhang erwähnt: Bachrach betont an anderer Stelle auch, fiktive Werke würden durchaus als Quellen taugen, da sie dem Leser plausibel erscheinen und also die Realität als Richtschnur akzeptieren mussten, um sein Interesse zu wecken.)
Die gleiche Ablehnung zeigt sich auch in neueren populärwissenschaftlichen und belletristischen Werken, über die man annehmen könnte, sie wären eher bereit, an beliebten Klischees festzuhalten.
So urteilt der Autor und Amateurhistoriker Shad M. Brooks auf seinem reichweitenstarken YouTube-Kanal Shadiversity, es habe niemals einen "Kodex" der Ritterlichkeit gegeben. Ein guter Ritter sei nach den Normen der Zeit schlicht einer gewesen, der tat, was man ihm abverlangte, morality be damned.
Und was den historischen Roman anlangt, genügt wohl zu wiederholen, was der Historiker Bernd Schneidmüller einmal zu mir über Bernard Cornwell gesagt hat, den heute weltweit meistgelesenen Autor des Genres: "Unter einem Absatz Blut pro Seite macht er's halt nicht."
Welcher Standpunkt ist nun zutreffend?
Und was meine ich, wenn ich behaupte, die oft völlig entgegengesetzte Realität widerspricht nicht notwendigerweise der Existenz eines Ideals von Ritterlichkeit?
Orientieren wir uns doch an den Eliten unserer Zeit, und denken z.B. an Leonardo DiCaprio. Der mit dem Privatjet zu einer Preisverleihung fliegt, um eine Rede über die Gefahren des Klimawandels zu halten. Was sagt er damit über sich aus: Vertritt er opportunistisch Werte, die er nicht beherzigt? Glaubt er, dass Regeln, die er für wichtig hält, für ihn nicht gelten? Ist er bloß faul?
Was auch immer davon zutreffen mag – im Tun aller Menschen klafft hin und wieder ein Riss zwischen moralischem Anspruch und schnöder Wirklichkeit. Und dieser Riss wird bei den Mächtigen oft zur Kluft.
Damit ist freilich noch nichts über die Existenz und Gültigkeit des verfehlten Ideals ausgesagt. Und streng genommen nicht einmal über die Aufrichtigkeit der Überzeugung dessen, der das Ideal propagiert, ihm aber nicht gerecht wird. Zunächst sehen wir nur, dass das Ideal schwer zu erreichen ist.
Zu den großen Missverständnissen in diesem Zusammenhang zählt außerdem die Annahme, es müsse – nach den Maßstäben seiner Zeit – überhaupt einen Widerspruch darstellen, wenn ein Ritter hier ein Prinz Eisenherz war und dort der Schlächter eines Weilers. In der ständischen Ordnung des Mittelalters war es alltäglich, einer Personengruppe Privilegien zuzugestehen, die man einer anderen verweigerte.