Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

So ist es aber wohl gewesen:
"Die Geschichte der Masturbationsbekämpfung lässt sich wie folgt umreißen: Um 1710 setzte sie in England ein; 25 Jahre später erschienen die ersten deutschen Publikationen. Im französischen Sprachraum begann die Kampagne um 1760, sie griff dann später auf -Deutschland über. Dagegen wurde im 19. Jahrhundert die Aktion von Deutschland nach Frankreich übertragen. Sie begann in ärztlichen Kreisen; es folgten die Erzieher und schließlich die Moraltheologen. Von 35 Autoren des 18. Jahrhunderts, über die Material vorliegt, waren siebzehn Ärzte, dreizehn Pädagogen, vier Geistliche und einer war Offizier, also 31 Nicht-Moraltheologen gegen vier Geistliche. Erst 1784 erschien ein katholisches Werk, in dem der Autor Interesse für die Kampagne zeigte."

Jos van Ussel: Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft, 2. Aufl. Gießen, Focus-Verlag 1977, S. 140
LG Frederuna
Spannend ! Vielen Dank.
 
So ist es aber wohl gewesen:
"Die Geschichte der Masturbationsbekämpfung lässt sich wie folgt umreißen: Um 1710 setzte sie in England ein; 25 Jahre später erschienen die ersten deutschen Publikationen. Im französischen Sprachraum begann die Kampagne um 1760, sie griff dann später auf -Deutschland über. Dagegen wurde im 19. Jahrhundert die Aktion von Deutschland nach Frankreich übertragen. Sie begann in ärztlichen Kreisen; es folgten die Erzieher und schließlich die Moraltheologen. Von 35 Autoren des 18. Jahrhunderts, über die Material vorliegt, waren siebzehn Ärzte, dreizehn Pädagogen, vier Geistliche und einer war Offizier, also 31 Nicht-Moraltheologen gegen vier Geistliche. Erst 1784 erschien ein katholisches Werk, in dem der Autor Interesse für die Kampagne zeigte."

Jos van Ussel: Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft, 2. Aufl. Gießen, Focus-Verlag 1977, S. 140
LG Frederuna
Da müsste man allerdings schon schauen, ob die Autoren nicht, auch wenn sie nicht aus der geistlichen Hierarchie kamen, moralisch-sittliche Beweggründe für ihre sexualrepressiven Äußerungen hatten.
 
Kann es sein, dass man schon früher der Ansicht war, übermäßiger Sex beeinträchtige das Sehvermögen?
Albertus Magnus schreibt, dass ihm ein Clemens von Böhmen erzählt habe, wie bei einem Mönch, der in einer Nacht 66 Mal mit einer Frau Geschlechtsverkehr hatte und am Morgen darauf starb, eine Autopsie vorgenommen worden sei und man dabei nicht nur ein verkümmertes Hirn vorfand, sondern auch die Augen gelitten hatten.

Et quidem narravit mihi magister Clemens de Bohemia, quod quidam monachus griseus accessit ad quandam dominam pulchram et sicut famelicus homo eam ante pulsam matutinarum expetivit sexaginta sex vicibus, in crastino decubuit et mortuus est eadem die. Et quia fuit nobilis, apertum fuit corpus eis, et repertum est cerebrum totum evacuatum, ita quod nihil de ipso mansit nisi ad quanitatem pomi granati, et oculi similiter annihilati.
Albertus Magnus, Questiones super de animalibus in Opera omnia 12
 
Ist die Befriedigung des Frömmigkeitsbedürfnisses kein Eingriff in den Alltag ?
Zum Frühstück konsumiere ich gern Milch, schon seit Kindesbeinen. Wenn keine Milch im Kühlschrank ist, fehlt mir was. In meiner Schulzeit gab es um die Ecke einen Bäuerin, die ein paar Kühe hatte und frische Milch vertickt hat, da habe ich regelmäßig eine Kanne abgeholt.
Erst Dein Beitrag hat mich auf die Idee gebracht, dass diese Bäuerin (bzw. die Landwirtschaft) sich da einen massiven Eingriff in meinen Alltag erlaubt hat, denn wer dem Säuglingsalter entwachsen ist, benötigt eigentlich keine Milch, das sind künstlich geweckte Bedürfnisse.

Sollen wir unter diesem Aspekt mal einen Thread eröffnen mit dem Titel "Wie weit in den Alltagleben reicht die Macht der Bauern?"

Wenn z.B. Thomas von Aquin findet, dass der Geschlechtsverkehr auch zwischen Eheleuten einzuschränken sei und der Ehefrau rät, ihren Ehemann durch "eifriges, aber kluges Bemühen von seinem
Vorhaben abzubringen"
... dann würde ich - sofern es um das Alltagsleben geht - danach fragen, wie viele Ehefrauen im 13. Jahrhundert die Werke des Thomas von Aquin auf ihrem Nachttisch liegen hatten und seine Ratschläge in den Alltag umzusetzen versuchten.
 
Albertus Magnus schreibt, dass ihm ein Clemens von Böhmen erzählt habe, wie bei einem Mönch, der in einer Nacht 66 Mal mit einer Frau Geschlechtsverkehr hatte und am Morgen darauf starb, eine Autopsie vorgenommen worden sei und man dabei nicht nur ein verkümmertes Hirn vorfand, sondern auch die Augen gelitten hatten.

66 Mal? Da würde ich mich fragen, womit sich der Mönch gedopt hat.

Andererseits: Manchmal reicht auch schon einmal (aber kräftig):
https://www.focus.de/gesundheit/kei...mann-erblindet-auf-einem-auge_id_7892565.html

Hier der wissenschaftliche Artikel dazu:
Postcoital visual loss due to valsalva retinopathy - PubMed
 
Da müsste man allerdings schon schauen, ob die Autoren nicht, auch wenn sie nicht aus der geistlichen Hierarchie kamen, moralisch-sittliche Beweggründe für ihre sexualrepressiven Äußerungen hatten.

Die Ärzte, die die Anti-Masturbationskampagne im 18. Jahrhundert begannen, sahen Masturbation als Krankheit an, die weitere schwere Krankheiten nach sich ziehen konnten. Dabei beriefen sie sich auf die schon in der Antike entwickelte Lehre von den Körpersäften:

"Tissots Ansichten waren allerdings abenteuerlich und stützten sich hauptsächlich auf die medizinische Theorie der Körpersäfte. Diese stammt aus der Antike und besagt, dass die menschlichen Säfte in einem Gleichgewicht stehen müssen. Wer zu viel Saft abgibt, schwächt seinen Körper und wird letztlich krank. Männliche Selbstbefriedigung war für den Arzt aus Lausanne eine Verschwendung von Körpersaft.
Samuel Auguste Tissot untermauerte seine Theorie mit der alten anatomischen Auffassung, dass die Samenflüssigkeit ursprünglich aus dem Gehirn stamme und durch die Wirbelsäule in den Penis gelange. Wer also masturbiert, so der Arzt, «opfere» einen Teil seiner Hirnflüssigkeit. Die Folgen: unzählige Gebrechen und Krankheiten, eine Schädigung des Nervensystems sowie die Beeinträchtigung des Gedächtnisses und des Denkvermögens."
https://www.watson.ch/wissen/sex/78...krank-was-ein-lausanner-arzt-von-onanie-hielt


Zur Bekämpfung dieser "Krankheit" empfahlen sie Diäten, Hydrotherapie, Medikamente und sogar chirurgische Eingriffe, sie entwickelten spezielle Kleidung und Apparate, die Masturbation verhindern sollten. Die Religion wurde nur selten bemüht.
LG Frederuna
 
Zum Frühstück konsumiere ich gern Milch, schon seit Kindesbeinen. Wenn keine Milch im Kühlschrank ist, fehlt mir was. In meiner Schulzeit gab es um die Ecke einen Bäuerin, die ein paar Kühe hatte und frische Milch vertickt hat, da habe ich regelmäßig eine Kanne abgeholt.
Erst Dein Beitrag hat mich auf die Idee gebracht, dass diese Bäuerin (bzw. die Landwirtschaft) sich da einen massiven Eingriff in meinen Alltag erlaubt hat, denn wer dem Säuglingsalter entwachsen ist, benötigt eigentlich keine Milch, das sind künstlich geweckte Bedürfnisse.

Sollen wir unter diesem Aspekt mal einen Thread eröffnen mit dem Titel "Wie weit in den Alltagleben reicht die Macht der Bauern?"

... dann würde ich - sofern es um das Alltagsleben geht - danach fragen, wie viele Ehefrauen im 13. Jahrhundert die Werke des Thomas von Aquin auf ihrem Nachttisch liegen hatten und seine Ratschläge in den Alltag umzusetzen versuchten.

Also ich kann Dir auch blöd kommen.

Dein Bedürfnis nach Frömmigkeit ist Dir natürlich wie dein Bedürfnis nach Milch in die Wiege gelegt worden - dieses hast Du ganz allein ohne irgendwelche Vermittlung entwickelt. Ein körperliches Bedürfnis nach Frömmigkeit sozusagen.

Und dein Verlangen nach Milchkonsum ist so gross dass Du - soweit reicht die Macht der Bauern - von ganz allein auf Idee kommst, deiner Bäuerin aus der Schulzeit testamentarsich deinen Garten zu vermachen, damit sie daraus eine zusätzliche Wiese für ihre Kühe machen kann und sich im Gegenzug dazu verpflichtet, deine Milchversorgung im Jenseits resp. im Höllenfeuer sicherzustellen. Das wäre die Analogie zur mittelalterlichen Schenkung

Und es ist natürlich völlig abwegig, dass sich Leutpriester oder Dorfpriester Thomas von Aquin als Leitfaden für ihre Predigten vorgenommen hätten und die Ehefrauen ihrer Gemeinde entsprechend indrokiniert hätten. Wer braucht schon die Theologie, das richtige Frömmigkeitsbedürfnis wird ja mit der Muttermilch eingesogen.

Und folgerichtig ist es natürlich erst recht abwegig, dass die Ehefrauen in der Beichte nach ihrer sexuellen Aktivität während kirchlichen Feiertagen oder wie oft sie den Beischlaf vollziehen würden, gefragt worden wären. Denn sie hatten ja den Thomas von Aquin nicht auf dem Nachttisch. Und wenn, sie konnten ja eh nicht lesen und schon gar kein Latein. Ihre Pfarrer und Beichtväter konnten zwar Beides, hatten den Aquin aber auch nicht auf dem Nachttisch, weil es erstens diesen noch nicht gab und zweitens der Aquin zwar in illuminierter aber nur in äusserst limitierter Kloster-Auflage vorlag.

Also ja, unter diesen Umständen völlig absurd anzunehmen, die Kirche hätte irgendwelchen Einfluss auf das Alltagsleben im Mittelalter gehabt.
Schliesslich hatte die ahnungslose Ehefrau rund ein siglo später auch den Kramer nicht auf Nachttisch liegen und konnte zudem immer noch nicht lesen und immer noch kein Latein. Und aus diesem Grund konnte sie sich auch nicht mit dem Teufel einlassen und auch nicht verbrannt werden.
Und wenn doch, war das ja ausschliesslich auf den Einfluss der weltlichen Obrigkeit in das Alltagsleben zurüzuführen, denn die Constitutio Criminalis Carolina hatte sie sehr wohl auf dem zwischenzeitlich erfundenen Nachttisch liegen. Und die Anfangsbegriffe des Latein hatte ihr der gefällige Dominikaner-Beichtvater gegen Dienstleistungen natür... - ach nein, der durfte ja nicht in den Alltag eingreifen.
Wenigstens war bereits der Buchdruck erfunden und so hatte wenigstens Kramer nicht nur seinen Aquin sondern auch gleich noch seinen Augustinus auf dem Nachttisch liegen, aus dem er für seinen Hexenhammer dann fleissig zitieren konnte - denn er konnte Latein.

So meine Lieben, das war meine Abschiedsrede
wenn man mir mit solchen blöden Argmenten kommt, antworte ich mit blöden Argumenten
wenn man meine Einwände mit "heisser Luft" vergleicht - wenn keine Belege gebracht werden - und ich dann vorerst nur ganz zaghaft einen aus Aquin bringe (ich könnte eigentl. jede Menge zeitgen. Belege bringen, ist aber mit entpsr. Aufwand verbunden) und dann mit solch fundierten Vergleichen daherkommt, dann war's das für mich.
Ich werde meine "heisse Luft" int Zukunft an dem dafür vorgesehenen Ort ablassen.
Ciao Zusammen

https://de.wikipedia.org/wiki/Constitutio_Criminalis_Carolina
 
66 Mal? Da würde ich mich fragen, womit sich der Mönch gedopt hat.

Andererseits: Manchmal reicht auch schon einmal (aber kräftig):
https://www.focus.de/gesundheit/kei...mann-erblindet-auf-einem-auge_id_7892565.html

Hier der wissenschaftliche Artikel dazu:
Postcoital visual loss due to valsalva retinopathy - PubMed

Ich habe mal gelesen, dass Großkatzen sich sehr häufig begatten, dass der Paarungsakt aber auch sehr kurz ist. Ich denke, die meisten Menschen wären schon mit einem Zehntel ausgelastet.

Selbst wenn der Mönch einen grpßen Nachholbedarf gehabt haben mag. Glaube ich auch, dass das selbst unter Zuhilfenahme sämtlicher Dopingmittel und Aphrodisiaka von Canthariden, Kokain bis zu Testosteron und Viagra kaum zu schaffen ist. Auch nicht, indem man das Motto der Wehrmacht befolgt und zum 24 Stunden-Tag noch die Nacht dazu nimmt.

66 Quickies in einer Nacht?

Das klingt fast schon ein bisschen wie DSDS, Germanys next, Dschungelcamp und BILD.
Es gab doch vor ein paar Jahren mal eine Wette von einer Germanys next-Kandidatin, die wettete sie könnte 250 Lurche würgen und soundsoviele Typen oral befriedigen.
Ich weiß nicht mehr wie viele sie geschafft hat- BILD war dabei- die Öffentlichkeit programmgemäß aufgeschreckt und schockiert.

Ich habe von dem bitarren Rekord-Versuch erst durch eine Parodie bei Kalkofes Mattscheibe erfahren
 
Also ich kann Dir auch blöd kommen.

Ich bin Dir nicht "blöd gekommen" und werde auch im Folgenden nur Ernstgemeintes abliefern:

Dein Bedürfnis nach Frömmigkeit ist Dir natürlich wie dein Bedürfnis nach Milch in die Wiege gelegt worden - dieses hast Du ganz allein ohne irgendwelche Vermittlung entwickelt.
Uns beiden ist doch klar, dass die Vermittlung in beiden Fällen über die Eltern lief, und die haben es wiederum von ihren Eltern. Weder ich noch meine Eltern haben also diesbezüglich einen "Eingriff in den Alltag" erlebt. Und genau das war die Frage, die ich damit beantwortet habe:

Ist die Befriedigung des Frömmigkeitsbedürfnisses kein Eingriff in den Alltag ?




Und es ist natürlich völlig abwegig, dass sich Leutpriester oder Dorfpriester Thomas von Aquin als Leitfaden für ihre Predigten vorgenommen hätten

Von welcher Zeit sprechen wir gerade? Wir waren gerade beim 13. Jahrhundert. Und da ist es in der Tat ziemlich abwegig. So einem Dorfpriesterlein hätte der arme Kopf schwer geraucht, wenn er sich durch theologische Werke auf dem Niveau eines Thomas von Aquin hätte durchquälen müssen, sein Latein reichte gerade aus, um ungefähr den Inhalt der Messtexte zu verstehen, die er täglich las. Und wie Du ganz richtig schreibst, bekam der Dorfpfarrer sein Lebtag wohl kaum je eines der teuren Bücher aus den Universitäts- und Klosterbibliotheken in die Hand; der Bestand der Pfarrbibliothek dürfte sich auf die unabdingbaren Messbücher beschränkt haben.

Wie wurde man Pfarrer? Daß das Mittelalter eine institutionenferne Zeit war, zeigt sich schon daran, daß es überhaupt keine geregelte Ausbildung und noch nicht einmal ein durchgängig geregeltes Prüfungsverfahren für die angehenden Pfarrer gab. Unbestimmt blieb in diesem Punkt sogar das Kirchenrecht. Es forderte nur, daß niemand Priester werden dürfe, der "illiteratus" sei, und die Entschiedenheit, mit der in kanonistischen Texten diese Forderung wiederholt wird, dürfte auf eine Realität antworten, die auch der Straßburger Dominikaner Ulrich Engelberti in einer um 1270 entstandenen Schrift sichtbar werden läßt. Hier wird zu den Mindestanforderungen an einen Priester gezählt, daß er so viel Grammatikkenntnisse haben müsse, um die Worte der Messe richtig aussprechen und betonen zu können. Er solle wenigstens den Sinn von dem verstehen, was er vorlese.
[...]
Entsprechende Bestimmungen könnten aus allen europäischen Diözesen zitiert werden. Im Grunde weichen sie, was die Grundanforderungen angeht, nur unwesentlich voneinander ab. Allen überlieferten Ordnungen ist eines gemeinsam: Niemals, noch nicht einmal indirekt, werden irgendwelche Qualifikationsmerkmale aufgestellt, die für ein "Indoktrinieren" geeignet waren. Berücksichtigt man, daß die Pfarrer dorch die Basisinstitution der Kirche sind, ist das ein zentraler Hinweis darauf, daß die so oft behauptete Macht der mittelalterlichen Kirche über die Seelen der Menschen, ihre übergroße Autorität über die Laien noch nicht einmal eine Karikatur der bestehenden Verhältnisse, sondern ein Konstrukt darstellen, ein Konstrukt, das letztlich erst in der Aufklärungszeit entstand. [...] Die Fähigkeit, die Messe zu singen, wird überprüft, aber weder von einer Ausbildung noch von einer Prüfung im Predigen ist jemals die Rede.

(Schubert S. 270f)​

Auch in den Städten sah es mit Predigern defizitär aus. In diese Lücke stießen im 13. Jahrhundert die Bettelorden vor. Bemühungen, den Bedarf an fundierten Predigten von akademisch gebildeten Predigern zu decken, gingen wiederum nicht von der Institution Kirche aus, sondern von Privatleuten. Doch da sind wir schon im 15. Jahrhundert:

Die Inhaber der seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts von Privatleuten oder Korporationen gestifteten Prädikaturen nannte man Prädikanten oder Prediger. Als Priester hatten sie manchmal auch Messverpflichtungen, ihre Hauptaufgabe war aber die Predigttätigkeit. Fast alle Prediger hatten eine Universität besucht und zumindest den Grad eines Magisters der Artistenfakultät erworben. Damit waren sie für ihre Aufgabe weit besser gerüstet als die häufig recht schlecht ausgebildeten Pfarrer, von denen sie im Allgemeinen auch nur wenig abhängig waren.

Siehe auch Prädikatur – Wikipedia

(Wobei auch hier die Frage gestellt werden könnte, ob hier ein "Eingriff in den Alltag" vorliegt und wer hier in wessen Alltag eingegriffen haben könnte...)
 
Dem schließe ich mich an. Trotzdem sollte man etwas Gegenwind in einer Diskussion schon aushalten können, @Sepiolas Beispiel mit der Milch war ja zumindest nicht herabwürdigend.

Zum Alltag gehört alles Mögliche. Wenn wir hier über den Einfluss von Religion auf das Alltagsleben sprechen, dann geht es eben auch darum, was davon wirklich übergriffig gewesen ist.

Soziale Kontrolle und Sozialdisziplinierung durch die Kirche(n) vor allem aber auch die Kirchengemeinden die u. U. große Auswirkungen auf die Lebensführung des Einzelnen und auf Individualrechte haben konnten. Das Thema Kirchenzucht wurde ja schon mal erwähnt.

Dabei ist aber auch zu bedenken, dass Vorstellungen von individuellen Rechten Normen und Werten verpflichtet sind, die im 16. oder 17. Jahrhundert keineswegs unbedingt auch so empfunden wurden.

Wenn wir überhaupt sinnvoll über den Einfluss der Kirche oder der Religion auf das Alltagsleben diskutieren wollen, müsste man sich meiner Meinung nach überhaupt differenzieren was Einfluss auf das Alltagsleben, und was tatsächlich Einfluss auf persönliche Lebensführung hatte und was als übergriffig gelten kann, was von Zeitgenossen als übergriffig empfunden wurde.

Institoris Fragen vor allem nach dem Geschlechtsleben und sein pathologischer Frauenhass kam überhaupt nicht gut an. Es gab sofort massive Beschwerden, der Bischof von Brixen hielt ihn für wahnsinnig und komplimentierte ihn aus Tirol.

Die Fleischeslust, Völlerei und Trunksucht war ein beliebtes Sujet aller Geistlichen aller Konfession. Es wurde viel dagegen gepredigt- Ja und? Hat das irgendjemanden davon abgehalten, wurde das Leben asketischer?

So mancher Fürst und Ratsherr hat sich im 16. und 17. Jahrhundert regelrecht zu Tode gefressen und gesoffen.

Und so manche Ratschläge oder Bräuche waren doch vielleicht gar nicht so schlecht. Es hat so Mancher über die Kirche Karriere gemacht, und es gelang auch Leuten aus bescheidenen Verhältnissen Bischof zu werden, die Kirche hat durchaus Talente gefördert.
Pfarrhäuser waren nicht nur Brutstätten der Reaktion. Sie waren häufig auch Orte von denen Ompulse ausgingen, wo oft durchaus Aufgeschlossenheit für neue Ideen, Innovationen, Verbesserungen im Obst- oder Weinbau, in der Schafzucht, in der Landwirtschaft vorhanden war.

Wollte man die Bauern überzeugen von den Vorteilen des Kartoffelanbaus, waren oft Pfarrer Ansprechpartner.

Über den Einfluss des protestantischen Pfarrhauses auf die Kulturgeschichte Europas könnte man eine Dissertation schreiben. Da war auch eine stattliche Zahl von unruhigen Geistern darunter: spontan fallen mir Friedrich Nietzsche und Gudrun Ensslin ein.
 
Die Religion wurde nur selten bemüht.
Die Religion musste nicht bemüht werden, sie war ständig bis in die 1960er Jahren in den Beichtstühlen präsent mit der Frage: „Hast du gesündigt, mein Sohn, in Gedanken, Worten und Taten?“ Mit Taten war auch - und vor allem bei Kindern und Jugendlichen – Masturbation gemeint. Oft musste der Pfarrer sie erstmal aufklären, was er damit meinte – in etwa so: Hast du Hand an dich gelegt? Und wenn man immer noch nicht wusste, was er meinte, wurde er deutlicher.

Es gab sogar schriftliche Anweisungen an die Seelsorger, nach was sie – mit Nachdruck – fragen sollten.
 
Die Religion musste nicht bemüht werden, sie war ständig bis in die 1960er Jahren in den Beichtstühlen präsent mit der Frage: „Hast du gesündigt, mein Sohn, in Gedanken, Worten und Taten?“ Mit Taten war auch - und vor allem bei Kindern und Jugendlichen – Masturbation gemeint. Oft musste der Pfarrer sie erstmal aufklären, was er damit meinte – in etwa so: Hast du Hand an dich gelegt? Und wenn man immer noch nicht wusste, was er meinte, wurde er deutlicher.

Es gab sogar schriftliche Anweisungen an die Seelsorger, nach was sie – mit Nachdruck – fragen sollten.

Und da gab es keine Wege, dass zu umgehen? Keine Schliche, sich einen Beichtzettel zu besorgen, so wie sich zu Decius Zeiten Leute eine Opferbescheinigung besorgten. Hatten die damals schon elektronische Fußfesseln oder implantierte Chips? Wer konnte etwas dagegen tun, irgendeinen Stuss zu beichten oder gar nicht erst hingehen.

In einer Historie von Hermann Botes Till Eulenspiegel geht Eulenspiegel beichten und beichtet dem Pfarrer, dass er dessen Pfarrersköchin einige Male beschlafen hat. Daraufhin vermöbelt der Pfarrer seine Haushälterin, und Eulenspiegel erpresst von ihm sein Lieblingspferd, indem er droht beim Bischof wegen Verrat des Beichtgeheimnisses sich zu beschweren. Der Pfarrer verliert erst das Pferd, dann läuft ihm auch noch die Köchin wegen häuslicher Gewalt davon. Eulenspiegel aber tauscht das Pferd gegen ein Prachtgewand beim Landesfürsten der schon lange darauf scharf war.

Ich hab mal bei einem Dekanat den Aktenbestand aufgelistet. Dabei fand ich ein uraltes Diensttagebuch von einem verstorbenen Dekan, den ich selbst nicht mehr gekannt habe. Das war aus der Nachkriegszeit aus den 1950er Anfang 1960er
Da ging es in einem Fall um einen Schuhmacher, der ein Schuhgeschäft besaß und der ein Verhältnis mit einer Verkäuferin angefangen hatte, obwohl eigentlich glücklich verheiratet. Seine Ehefrau und eine Tochter hatten deshalb den Dekan gebeten, mal mit dem Schuhmacher zu reden. Der tat es anscheinend ungern, aber er tat es worauf ihm die Antwort gegeben wurde:

Xy sagte mir sehr deutlich: "Ich könne ihn mal am Arsch lecken (sic!!!!)"


Die Macht der allmächtigen Kirche auf die Seelen ihrer Schäfchen ist doch sehr relativ.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Religion musste nicht bemüht werden, sie war ständig bis in die 1960er Jahren in den Beichtstühlen präsent mit der Frage: „Hast du gesündigt, mein Sohn, in Gedanken, Worten und Taten?“ Mit Taten war auch - und vor allem bei Kindern und Jugendlichen – Masturbation gemeint. Oft musste der Pfarrer sie erstmal aufklären, was er damit meinte – in etwa so: Hast du Hand an dich gelegt? Und wenn man immer noch nicht wusste, was er meinte, wurde er deutlicher.

Es gab sogar schriftliche Anweisungen an die Seelsorger, nach was sie – mit Nachdruck – fragen sollten.

Lieber Dion, denk doch bitte einmal daran, dass die Anfänge der Reformation schon gut 500 Jahre zurückliegen. Seitdem ist ein großer Teil der Menschen in Deutschland protestantisch, und bei den Protestanten gibt es die Ohrenbeichte nicht. Ich selbst habe nie einen Beichtstuhl von innen gesehen.
Im Übrigen schreibt der von mir oben zitierte van Ussel, dass bis zum 18. Jahrhundert in Beicht- und Pönitenzbüchern, in Katechismen und moraltheologischen Werken ausführliche Sündenlisten enthalten sind, wobei die Aufzählung sexueller Sünden besonders lang ist, die Masturbation aber nicht oder kaum erwähnt wurde. (a.a.O., S. 134)
In moraltheologischen Werken würden außerdem weit auseinanderliegende Altersstufen für den Beginn der Beichtpflicht genannt, die Kinderbeichte sei erst in jüngerer Zeit entstanden. (a.a.O., S. 135)
Van Ussel sieht den Kampf gegen die Masturbation in Zusammenhang mit dem Bestreben des aufsteigenden Bürgertums nach sozialer Kontrolle. Ähnlich argumentiert Thomas Laqueur, der anführt, dass auch Rousseau die Masturbation aufs Strengste verurteilte, weil er sie als soziale Verfehlung sah.
Interessant sind auch die Ausführungen von dem im Politischen und Sexuellen radikalen Richard Carlile (1790 - 1843):
"Carliles Every Women´s Book ist eine einzige Attacke gegen die konventionelle Sexualmoral, ein Plädoyer für die Befreiung der Leidenschaften und eine praktische Anleitung zur Geburtenregelung. ... Wenn es aber um Masturbation geht, ist Carlile, der Radikale, so scharf wie der am nachhaltigsten vom Evangelikanismus inspirierte Moralist oder der am schlimmsten schwarzseherische Arzt. Ein Geschöpf des Klosters oder seiner modernen Entsprechungen, wo eine krankmachende Religion Liebe zur Sünde macht, ist `die Befriedigung lüsterner Frauen durch künstliche Mittel´ oder `die Bewerkstelligung des Samenausstoßes beim Mann´ nicht allein schlecht, sondern körperlich destruktiv. Masturbation führt zur Erkrankung von Gemüt und Körper."
(Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München dtv 1996, S. 258f.)
Beide, van Ussel wie auch Laqueur sehen den Kampf gegen die Masturbation im Zusammenhang mit der Entstehung einer bürgerlichen Moral, einem bürgerlichen Familien- und Frauenleitbild, das nicht die Sünde gegen Gott zum Thema hatte, sondern eher Sünden gegen die Gesellschaft und gesellschaftliche Kontrolle anstrebte. Aus diesen Vorstellungen entwickelte sich die repressive Sexualmoral der viktorianischen Zeit. Inwieweit diese nun das Alltagsleben der gesamten Bevölkerung bestimmte, ist noch die Frage. Hier müsste man sicher nach Schichten und Regionen differenzieren. Wenn das aber schon für eine relativ kurze Epoche und einen bestimmten Themenbereich gilt, so dürften allgemeine Aussagen über den Einfluss "der Kirchen" im Alltagsleben kaum zu treffen sein.
LG Frederuna
 
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