Ok, allmählich verstehe ich, wie du das meinst - aber Kopfzerbrechen bereitet mir dabei folgendes: haben wir denn für den fraglichen Zeitraum in anderen Ländern eine umfangreichere Quellenlage, also ohne "deine" 40%? Dann hätten wir Vergleichsmaterial.
Zunächst mal zum Thema "meine" 40%
"Nur Großbritannien, die Niederlande und Deutschland hatten um 1910 eine Alphabetisierungsrate von 100 Prozent erreicht, Für Frankreich lag sie bei 87 Prozent, für Belgien, das am wenigsten literarisierte unter den "entwickelten europäischen Ländern, bei 85 Prozent. Deutlich niedriger fielen die Werte für den europäischen Süden aus: 62 Prozent für Italien, 50 Prozent für Spanien nur 25 Prozent für Portugal. An der östlichen und südöstlichen Peripherie Europas sahen die Verhältnisse nicht besser aus. Es gab aber gemeinsame Tendenzen: Auf dem gesamten Kontinent fiel der Anteil männlicher wie weiblicher Analphabeten an der Gesamtbevölkerung ziemlich kontinuierlich, nirgendwo stagnierte er"
Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München, 2009, Sonderausgabe 2011, S.1118-1119
Osterhammel spricht von einer Alphabetisierungsrate in Italien von 62 Prozent. Mit Rücksicht darauf, dass vor allem die allmähliche tatsächliche Durchsetzung der Schulpflicht und die zunehmende Elementarschulbildung der Alphabetisierung im Besonderen der jüngeren Semester zugute kam, die aber noch keine Möglichkeit hatten sich politisch einzubringen, habe ich mir erlaubt das für die erwachsene Bevölkerung Italiens mal auf rund 60% abzurunden, auch um es anschaulicher zu gestalten.
Darauf kann man gerne auch verzichten, ob es sich nun um 40% oder 38% Analphabeten handelte, ändert am Grundgehalt meiner Aussage nichts.
Wenn man die Zahlen bei Osterhammel ernst nimmt, dann bedeutet das, dass man allein durch den Alphabetisierungsgrad in Großbritannien und Deutschland ganz andere Möglichkeiten hat, Mehrheitsmeinungen zu ermitteln, als in Italien oder Spanien.
Im Prinzip keine Unbekannten durch Analphabetismus oder an die 40% Unbekannte durch Analphabetismus in Italien oder sogar an die 50% in Spanien fällt als Unterschied zur Ermittlung von einigermaßen seriösen Ergebnissen massiv ins Gewicht.
Und an der Stelle einfach nochmal der Verweis zurück auf die deutsche Kriegsbegeisterungsdiskussion, was 1914 betrifft.
Es sind dabei bekanntermaßen sehr verschiedene Einschätzungen herausgekommen, von Studien, die das "Augusterlebnis" als Massenphänomen sahen, bis hin zu solchen, für die die Kriegsbegeisterung ein vor allem bürgerliches Projekt war und die die Gesamtbevölkerung in dieser Frage extrem gespalten sehen wollen.
Das ist eine ganz erhebliche Bandbreite und macht doch schon deutlich, wie schwer solche Rekonstruktionen bereits bei einer Bevölkerung sind, in der Analphabetismus ein absolutes Randphänomen geworden war und jedem das Auskunftsmittel der Schriftlichkeit zur Verfügung stand um seine Meinung zum Tagesgeschehen kund zu tun.
Ich frage mich da ganz einfach, wie man bei einem derart hohen Bevölkerungsanteil, der uns keine Zeugnisse hinterlassen hat, mit diesem Maß an Überzeugung davon ausgehen kann, dass dort diese oder jene Meinung vertreten worden wäre.
Woher möchte man das wissen?
Schon im Hinblick auf die deutsche Diskussion zur Kriegsbegeisterung und dem sehr bunten Strauß an Studien und Ergebnissen, die sich produziert hat, müsste doch eigentlich klar sein, dass wir uns hier in ziemlich unsicheres Terrain begeben, selbst wenn wir von einer Bevölkerung sprechen, der schriftliche Zeugnisse als Auskunftsmittel flächendeckend zur Verfügung standen.
Auch das bringt noch das Problem mit sich, dass eben bei weitem nicht jeder auch Gebrauch davon gemacht hat, was letztendlich natürlich auch Unbekannte und Unsicherheiten fabriziert.
Im Italienischen Fall allerdings, in dem an die 40% Analphabeten waren, und vom Rest der Bevölkerung ebenfalls nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Aufzeichnungen hinterlassen haben wird, von denen auch nur ein Teil die Zeit überdauert haben wird, aus einem wie großen Anteil der Bevölkerung kann man da überhaupt Stichproben gewinnen?
5% ? 10%?
Darauf läuft es doch hinaus.
Das ist ein Problem, dass wie ich es sehe auch in der deutschen Diskussion vorhanden war und ist, aber in geringerem Ausmaß.
Jetzt würde ich die Aussagekraft solcher Studien nicht insgesamt verwerfen wollen, allerdings muss dabei doch klar sein, dass je kleiner der Anteil an Schriftzeugnissen ist, die zur Verfügung stehen, im selben Maße die potentielle Abweichung wächst.
Und in diesem Sinne halte ich 40% die nicht in der Lage waren irgendetwas zu äußern durchaus für ein ernstzunehmendes Problem, was die Aussagekraft am Ende durchaus infrage stellen kann.