Begriff "Reichskristallnacht"

Spannende Frage für Historiker: Hat Börger vielleicht ganz einfach versucht, die Deutungshoheit über den bereits kursierenden Begriff für die NS-Macht zurückzuerlangen? Denn dass der Begriff im offiziellen Sprachgebrauch nicht weiter benutzt worden zu sein scheint, deutet für mich eher auf eine Art Unbehagen hin, und hauptsächlich deswegen sehe ich eine gewisse Nähe zu den Flüsterwitzen (wohlgemerkt: Ich habe den Begriff "Reichskristallnacht" niemals als Flüsterwitz bezeichnet).

In diesem Strang ist mehrmals dargelegt worden, dass er höhnisch und verharmlosend wirken kann. Spontan sehe ich keinen Grund, warum die Nazis sich nicht den Begriff hätten aneignen können und wollen – es sei denn, sie zweifelten daran, ob er wirklich Zustimmung ausdrückte.
 
Naja, zumindest "Reichskristallnacht" klingt für mich durch den Partikel "Reichs-" wie etwas offizielles, vom Staat bzw Reich initiiertes; und den Eindruck wollte man doch eigentlich grad vermeiden.
 
Am Begriff "Pogrom" (in welcher Zusammensetzung auch immer) finde ich problematisch, dass Pogrome (nicht immer, aber mitunter) tatsächlich spontane Volksbewegungen sind, die ohne Zutun der Obrigkeit entstehen. Insofern könnten Begriffe wie "Novemberpogrom" das Narrativ vom (angeblich) "spontanen Ausbruch des Volkszorns" eher unterstützen.

Wenn der Begriff "Reichskristallnacht" verharmlosend sein soll, weil er die Todesfälle nicht verdeutlicht, dann müsste man übrigens auch den Begriff "Holocaust" (der neben "Shoah" immer noch verwendet wird) verbannen. "Ganz verbrannt", so die Wortbedeutung, ist schließlich auch reichlich nichtssagend (verbrannt werden kann alles Mögliche) und impliziert keineswegs zwangsläufig die Massenvernichtung von Menschen.
 
Wenn der Begriff "Reichskristallnacht" verharmlosend sein soll, weil er die Todesfälle nicht verdeutlicht, dann müsste man übrigens auch den Begriff "Holocaust" (der neben "Shoah" immer noch verwendet wird) verbannen. "Ganz verbrannt", so die Wortbedeutung, ist schließlich auch reichlich nichtssagend (verbrannt werden kann alles Mögliche) und impliziert keineswegs zwangsläufig die Massenvernichtung von Menschen.
Der Vergleich hinkt. Der Begriff Holocaust wurde von den Juden, die vom NS verfolgt wurden, meines Wissens nicht abgelehnt, auch wenn im Hebräischen eher Shoa gebräuchlich ist. Der Begriff Kristallnacht wurde zumindest bis 1948 von den Verfolgten überwiegend abgelehnt:

"Da der Ausdruck widersprüchliche Mitbedeutungen anklingen lässt, die nur Kenner seiner Entstehung verstehen, stieß er schon früh besonders bei den Opfernachfahren auf Kritik und Ablehnung. So befürchtete die „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ am zehnten Jahrestag 1948:

„Ehe es soweit ist, dass sich dieses falsche Wort im allgemeinen Sprachgebrauch so eingebürgert hat, dass es nicht mehr wegzubringen ist, möchten wir darauf hinweisen, welche Entstellung mit der Benutzung dieses Wortes verbunden ist. Das Wort ‚Kristallnacht‘ ist nicht von den früher Verfolgten erdacht und in den Sprachgebrauch gebracht worden.“"

Novemberpogrome 1938 – Wikipedia
 
So befürchtete die „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ am zehnten Jahrestag 1948:

„Ehe es soweit ist, dass sich dieses falsche Wort im allgemeinen Sprachgebrauch so eingebürgert hat, dass es nicht mehr wegzubringen ist, möchten wir darauf hinweisen, welche Entstellung mit der Benutzung dieses Wortes verbunden ist. Das Wort ‚Kristallnacht‘ ist nicht von den früher Verfolgten erdacht und in den Sprachgebrauch gebracht worden.“"

Novemberpogrome 1938 – Wikipedia
Das ist eine wichtige Aussage. Sie ist deswegen wichtig, weil sie zu einem Zeitpunkt gemacht wurde, als das falsche Wort "Kristallnacht" noch nicht im allegemeinen Sprachgebraucht war. Aber die Betroffenen fanden in den Nachkriegsjahren in Deutschland kein Gehör, weil sie erstens zu wenige waren, und weil zweitens die ehemaligen Nazis bald das Leben Deutschland (bis in die 1960 Jahre!) bestimmten: Sie hatten ein Interesse daran, die Verbrechen der Nazis zu verharmlosen.
 
Was Ugh Valencia zitiert, ist eine wichtige Stimme. Aber eben nur eine Stimme im Konzert. Ich darf daran erinnern, wie das Ereignis auf Jiddisch, Hebräisch und Judenspanisch genannt wird:

קריסטאָל נאַכט (qristāl nakht)
ליל הבדולח (lajil ha-bədolaχ - Nacht des Kristalls)
noche de kristales rotos

Nehmen wir die judenspanische Version mal aus, weil die sich ganz offensichtlich an der spanischen Bezeichnung orientiert und im Reich Judenspanisch, wenn überhaupt gesprochen, doch eher unwichtig war (die Juden auf dem Balkan und in Saloniki haben teilweise Judenspanisch gesprochen und ich glaube auch ein Teil der Amsterdamer Gemeinde), also Sprecher des Ladino nicht zu den unmittelbaren Nachfahren deutscher und österreichischer Juden gehören, so sind doch Jiddisch (obwohl ein deutscher Dialekt auch für die deutschen Juden eher unwichtig) und israelisches Hebräisch* als Sprachen der (Nachfahren der) Betroffenen auch ein Teil des Chors der Betroffenen und ihrer Nachfahren. Insofern kann man den Begriff nicht - auch noch durch Fettmarkierung nachdrücklich - als „falsch“ markieren und so tun, als sei er allein Teil der Tätersprache (das ist er eben nicht) und diene nur der Verschleierung.

So, wie schon gesagt wurde: Wir sind alle mit dem Begriff aufgewachsen und wissen sehr genau, was er bedeutet. Worüber man sich unterhalten kann, ist, ob er nicht durch einen besseren ersetzt werden kann. Aber man sollte eben auch nicht übersehen, dass keiner der Ersatzbegriffe ganz über Zweifel erhaben ist.



*israelisches Hebräisch, damit nicht der Verdacht aufkommt, es sei die Kultsprache biblische Hebräisch gemeint, die außerhalb theologischer Kontexte keine Anwendung fand
 
Vielleicht habe ich das nicht genug betont, aber die ehemaligen Nazis haben in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg die Deutungshoheit über die Nazizeit innegehabt. Das äußerte sich nicht nur in den skandalösen Fehlurteilen der deutschen Justiz gegen Mörder in den KZs und in den Einsatzkommandos*, sondern auch in der Sprache im Bezug zu Taten, die in der Nazizeit geschehen waren.

Und klar, den so eingeführten Begriff "Reichskristallnacht" benutzten später auch Juden, einfach um verstanden zu werden. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Begriff das Verfolgen und Morden der Juden in jenen 3-5 Tagen im November 1938 verschleiert: 24.000 Juden wurden in jenen Tagen KZs gewaltsam gebracht und dort malträtiert und ja nach Laune der Täter auch umgebracht.

* Beispiel: Otto Bradfisch, Führer eines Einsatzkommandos, der für die Erschießung von 15.000 Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen unmittelbar verantwortlich war, wurde 1961 lediglich wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, doch schon 4 Jahre später konnte er das Gefängnis für längere Zeit verlassen und nach weiteren 4 Jahren wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen.
 
Eine Suche im Deutschen Zeitungsportal nach "Kristallnacht" ergibt ein erstes Ergebnis im August 1948. Interessant finde ich den Artikel im Badischen Volksecho vom 11.11.1949:
Zur Erinnerung an den 10. November 1938, der unter dem Namen Kristallnacht in die Geschichte eingegangen ist, schreibt uns die jüdische Gemeinde Karlsruhe: Was unter dem Namen - „Kristallnacht” in die Geschichte eingegangen und in unzähligen Prozessen ans Licht gekommen ist, prägt sich immer tiefer dem zeitgenössischen Bewußtsein ein.
kristallnacht - Deutsches Zeitungsportal

Ich weiss nicht, wie gut die Volltextsuche dort funktioniert, aber eine Suche nach "Reichskristallnacht" findet erst im Jahr 1969 ein Ergebnis. Das Einzige im ganzen Portal?
 
Vielleicht habe ich das nicht genug betont, aber die ehemaligen Nazis haben in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg die Deutungshoheit über die Nazizeit innegehabt. Das äußerte sich nicht nur in den skandalösen Fehlurteilen der deutschen Justiz gegen Mörder in den KZs und in den Einsatzkommandos*, sondern auch in der Sprache im Bezug zu Taten, die in der Nazizeit geschehen waren.

Das ist so nicht richtig.
Ex-Nazis haben vor allem weiterhin einflussreiche Positionen im Beamten-Apparat und in der sonstigen Justiz inne gehabt, was es ihnen ermöglichte Verbrechen von NS-Tätern zu decken und diese möglichst ungeschoren davonkommen zu lassen.
Im Bereich der Forschung, sowohl im Hinblick, auf Geschichte, als auch sozialwissenschaftliche Bereiche, war das aber im weit geringeren Maße der Fall, weil das, anders als die Justiz und der Staatsapparat eben kein Massenbetrieb ist.

Reflektion der NS-Herrschaft in Deutschland und Forschung zu dem, was passierte, fand ja bereits während des der Existenz des NS-Regimes im Ausland, unter Beteiligung von aus Deutschland emigrierten oder geflohenen Personen statt, die die Verhältnisse in Deutschland kannten.
Man denke Arbeiten wie die von Franz Neumann oder etwa an Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung" und die ganze kritische Theorie.

Das waren durchaus wirkmächtige Positionen, auch schon in den 1940er und 1950er Jahren.

Diese Diskurse konnten nicht mal eben von irgendwelchen ex-Nazis in die von ihnen gewünschten Bahnen gelenkt werden.

Und klar, den so eingeführten Begriff "Reichskristallnacht" benutzten später auch Juden, einfach um verstanden zu werden. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Begriff das Verfolgen und Morden der Juden in jenen 3-5 Tagen im November 1938 verschleiert: 24.000 Juden wurden in jenen Tagen KZs gewaltsam gebracht und dort malträtiert und ja nach Laune der Täter auch umgebracht.

Da würde ich mich der "Gegenseite" anschließen und das Argument mittragen wollen, dass von Verschleierung insofern keine Rede sein kann, als dass es unmöglich ist, in diesem Land zu leben und aufgewachsen zu sein, ohne in der Schule sehr genau gelernt zu haben, was damals passierte und ohne in gewisser Regelmäßigkeit durch Funk- und Fernsehen, öffentliche Erinnerungskultur und Gedenktage daran erinnert zu werden.
Insofern kann auch ich da keine Verschleierungsabsicht erkennen.
Die würde gegeben sein, wenn ein solcher Begriff verwendet würde ohne dass breit erläutert würde, was darunter zu verstehen ist, aber das ist nicht der Fall.
Ob man den Begriff für angemessen oder besonders glücklich hält, ist eine andere Frage.
 
Vielleicht habe ich das nicht genug betont, aber die ehemaligen Nazis haben in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg die Deutungshoheit über die Nazizeit innegehabt.
Da der Begriff "(Reichs)Kristalnacht" nicht nur auf deutsch genutzt wird, sondern international auf Hebräisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Türkisch, Russisch, etc. spricht dagegen, dass deutsche Nazis die Deutungshoheit über die Begriffsprägung erlangten. Wie hätten sie diesen Begriff bspw. in Israel, Frankreich oder Russland durchsetzen sollen?
 
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