Begriff "Reichskristallnacht"

Ich muss gestehen, dass ich diese Debatte niemals auf den Schirm hatte. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, den Begriff "Reichskristallnacht" als verharmlosend zu deuten, und zwar aus den Gründen, die @Scorpio genannt hatte. Im Gegenteil halte ich den Begriff für hilfreich, denn er spielt ironisch mit dem bombastischen Nazi-Vokabular der Zeit und zeigt die konzertierte Natur der Verfolgungswelle auf.

Von einem bloßen Pogrom zu sprechen, wird dem 9. November vielleicht nicht gerecht. Im Deutschen assoziiert man den Begriff meiner Wahrnehmung nach immer mit Spontaneität – mit Bildern von einem Mob, der mit Fackeln und Mistgabeln loszieht, um seinen Nachbarn die Bude anzuzünden.

Der Eigenname "Reichskristallmacht" sorgt überdies dafür, dass die so bezeichneten Ereignisse nicht in der Masse der antijüdischen Ausschreitungen in Europa und dem Nahen Osten in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts untergehen. Das sollten sie auch nicht, immerhin wurden die Ausschreitungen von SA- und SS-Provokateuren begonnen, zeigen die Täterschaft des Staates und nehmen den Holocaust vorweg.

Anders als in Hebron mordete und brandschatzte in Deutschland eben nicht "nur" der zusammen gerottete gesellschaftliche Bodensatz; anders als in Galizien lebte in Deutschland keine Schar rechtsgerichteter Soldaten "nur" ihren Zorn auf die siegreichen Roten aus.

Sondern der Staat selbst zündelte und mordete.
 
Die Begriffe "Pogromnacht", "Reichspogromnacht", "Novemberpogrome" etc. sind:
  • künstlich
  • nachträgliche Umdeutungen
  • relativierend
  • und damit den Tätern von damals und ihren späteren Rechtfertigungen näher als den jetzigen Nutzern dieser Begriffe bewusst ist.
Der Begriff Kristallnacht ist eine international bekannte Bezeichnung, und zugleich eine nicht relativierende Verkürzung des sarkastischen (zeitgenössischen oder zeitnahen) Begriffes "Reichskristallnacht". Warum dann ändern?

"Political correctness" ist oft die Sprache der Täter, in modernem Gewand.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Begriffe "Pogromnacht", "Reichspogromnacht", "Novemberpogrome" etc. sind:
  • künstlich
  • nachträgliche Umdeutungen
  • relativierend
  • und damit den Tätern von damals und ihren späteren Rechtfertigungen näher als den jetzigen Nutzern dieser Begriffe bewusst ist.
Der Begriff Kristallnacht ist eine international bekannte Bezeichnung, und zugleich eine nicht relativierende Verkürzung des sarkastischen (zeitgenössischen oder zeitnahen) Begriffes "Reichskristallnacht". Warum dann ändern?

"Political correctness" ist oft die Sprache der Täter, in modernem Gewand.

Da gehe ich nicht mit.

Die Ereignisse im November waren ja nun nichts anderes, als Pogrome. In Kurhessen und Sachsen-Anhalt kam es bereits vor dem 9. November zu den ersten Morden. Woher der Terminus "Reichskristallnacht" kam, ist nicht mehr ganz klar, er war plötzlich da, und er wurde von der Bevölkerung übernommen.

Es spricht durchaus einiges dafür, dass es sich dabei um eine verharmlosende Tätersprache handelte, ganz so, als seien dabei lediglich ein paar Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Dabei wurde die Bevölkerung zu Zeugen. Ich denke, es ist psychologisch verständlich, dass wenn man Zeuge eines großen Unrechts wird, das man nicht verhindern kann, Verdrängung irgendwo eine verständliche Reaktion ist.
Auch wenn bei den Opfern selbst von einer Kristallnacht die Rede war, so besteht, meiner Meinung nach, kein Anlass unbedingt an einem Terminus festzuhalten, der zumindest typische Charakteristika einer Verschleierung und Verharmlosung aufweist, wie sie typisch für die Sprache des NS war.
Recht künstlich, menschenverachtend und verharmlosend waren ja nun auch Begriffe wie "Schutzhaft", Evakuierung",

"Novemberpogrome", "Reichspogromnacht", "Pogromnacht" ist zumindest präziser, da es die Dinge beim Namen nennt. Sie sind jedenfalls nicht zynisch, verharmlosend oder verschleiernd wie es doch in gewisser Weise der Terminus "Reichskristallnacht" war.

Ich bin der Ansicht, dass Korrektheit und Politik so große Widersprüche sind, dass sie nie und nimmer zueinander passen. Grundsätzlich mag es ja gut gemeint sein, wenn man Rücksicht auf andere nimmt, wenn man Begriffe, die zynisch, menschenverachtend, rassistisch sind meidet.

Was mir bei Apologeten der PC oft sauer aufstößt, das ist das Missionarische, das ist die Selbstgerechtigkeit mit der einige für sich reklamieren, auf der "richtigen" Seite der Geschichte zu stehen, das ist die Art mit der diese angenommene moralische Überlegenheit wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird.
Vor allem aber stößt mich die Naivität ab, ganz so als ob eine schlechte Sache beseitigt oder überwunden wird, indem man ein "böses Wort" ächtet.

Wer glaubt, Emanzipation erreichen zu können, durch Abschaffung des generischen Maskulinums, wer allen Ernstes annimmt, mit der Ächtung des N-Wortes, des Z-Wortes, des I-Wortes, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus oder gruppenbezogene Feindlichkeit überwinden zu können, ist einfach nur unglaublich naiv, und diese Naivität, aufgeladen mit sehr großem Sendungsbewusstsein und Selbstverliebtheit schafft es immer wieder Wortungetüme zu produzieren, die mindestens so absurd sind wie die Sprache des NS zynisch und menschenverachtend war.

Persönlich bin ich der Ansicht, dass dieses Abarbeiten an läppischen Banalitäten, das Skandalisieren von Dingen, an denen kein vernünftiger Mensch etwas Anstößiges findet- etwa wenn Kinder sich nicht mehr als Indianer auf dem Fasching verkleiden sollen, der Diskussion um Rassismus großen Schaden zufügen und großen Schaden zugefügt haben.
 
Wer glaubt, Emanzipation erreichen zu können, durch Abschaffung des generischen Maskulinums, wer allen Ernstes annimmt, mit der Ächtung des N-Wortes, des Z-Wortes, des I-Wortes, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus oder gruppenbezogene Feindlichkeit überwinden zu können, ist einfach nur unglaublich naiv, und diese Naivität, aufgeladen mit sehr großem Sendungsbewusstsein und Selbstverliebtheit schafft es immer wieder Wortungetüme zu produzieren, die mindestens so absurd sind wie die Sprache des NS zynisch und menschenverachtend war.
Ich denke, man kann ein Zeichen setzen, wenn man nicht die despektierliche Sprache von Tätergruppen übernimmt. Wenn sich Sinti und Roma selbst nicht als "Zigeuner" bezeichnen, halte ist es für angemessen ihre Eigenbezeichnung zu übernehmen. Wenn Schwarze oder Afrikaner oder Afro-Deutsche den Begriff "Neger" als herabwürdigend wahrnehmen, kann ich das verstehen und versuche deshalb, diesen Begriff nicht auf Schwarze anzuwenden.
Etwas anderes ist es mMn mit zusammengesetzten Begriffen, die dem Sinn nach keine negative Konnotation haben, wie z.B. Negerkuss (obwohl ich dort auch meistens Schokokuss sage) oder Zigeunerschnitzel, bzw -sauce.

Relativierend und verharmlosend war urprünglich auch der Begriff "Kristallnacht", da das menschliche Elend gegenüber zerstörten Sachwerten zurücktritt. Es klingt für mich nach einer typischen NS-Ausdrucksweise. Daher hat man im Laufe der Debatte in Deutschland andere Begriffe wie "Novemberpogrome" oder "(Reichs)Pogromnacht" genutzt. Inzwischen hat sich der Begriff "(Reichs)Kristallnacht" in der internationalen Debatte aber etabliert. Das jüdische Museum Berlin nutzt den Begriff in Anführungszeichen. Daher denke ich, kann man niemanden eine chauvistinische Gesinnung vorwerfen, nur weil dieser Begriff genutzt wird. Ich halte dennoch die Formulierung "Reichspogromnacht" für zutreffender und nutze sie daher.
 
Ich denke, man kann ein Zeichen setzen, wenn man nicht die despektierliche Sprache von Tätergruppen übernimmt. Wenn sich Sinti und Roma selbst nicht als "Zigeuner" bezeichnen, halte ist es für angemessen ihre Eigenbezeichnung zu übernehmen.

Ich muss sagen bei "Zigeuner" bin ich gespalten.

Romani Rose der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma hat sicher seine Verdienste, aber er hat nicht die Deutungshoheit und er ist auch nicht das Sprachorgan aller Sinti und Roma.

Bei dieser WDR-Diskussionsrunde mit Thomas Gottschalk, Barbara Schöneberger, Jürgen Milski u. a. haben die zwar ziemlich viel dummes Zeug dahergeredet. Die Diskussion war das übliche oberflächliche Geplaudere. Es war auch kein Sinto oder Rom als Gast geladen.

Es hat sich aber keiner der Diskussionsteilnehmer wirklich zu Äußerungen hinreißen lassen, die man mit einiger Berechtigung als antiziganistisch oder latent antiziganistisch bezeichnen könnte. Roses Empörung über Schönebergers flachen Witz mit der Sauce ohne festen Wohnsitz empfand ich als reichlich inszeniert.

Alle haben sich entschuldigt, dass das böse Z-Wort gefallen ist, aber wofür sie sich nun konkret entschuldigt haben, warum sie sich hätten entschuldigen müssen das war für die Öffentlichkeit gar nicht nachvollziehbar. Eine Anzahl von Roma und Sinti haben mit "Zigeuner" gar kein Problem.

Genaugenommen ist "Zigeuner" sogar die einzige Bezeichnung, die alle Gruppen inkludiert. Die Kalles oder Manousches sind weder Sinti noch Roma, gehören aber dazu.

Bei der ganzen Empörungskultur empfinde ich es als problematisch dass manche Aktivisten sich gebärden, als seinen sie das Sprachorgan einer ganzen Community, als sei ihre Meinung verbindlich für alle.
 
Die Begriffe "Pogromnacht", "Reichspogromnacht", "Novemberpogrome" etc. sind:
  • künstlich
  • nachträgliche Umdeutungen
  • relativierend
  • und damit den Tätern von damals und ihren späteren Rechtfertigungen näher als den jetzigen Nutzern dieser Begriffe bewusst ist.
Der Begriff Kristallnacht ist eine international bekannte Bezeichnung, und zugleich eine nicht relativierende Verkürzung des sarkastischen (zeitgenössischen oder zeitnahen) Begriffes "Reichskristallnacht". Warum dann ändern?

"Political correctness" ist oft die Sprache der Täter, in modernem Gewand.

Wenn du "Kristallnacht" weiter verwenden möchtest ist es dir überlassen. Warum du aber die Begriffe Pogromnacht, Reichspogromnacht, Novemberpogrome als künstlich, Umdeutung, relativierend etc. ansieht das erschliesst sich mir nicht. Der Begriff Pogrom kommt zwar aus der russischen Alltagssprache hat sich aber in der wissenschaftlichen Forschung etabliert und jeder weiss was der Begriff bedeutet. Reichspogromnacht bedeutet ja nichts anders als Verfolgung, Zerrstörung Staatlich organisiert (vereinfacht gesagt).
Im übrigen verwendet der Zentralrat der Juden den Begriff Reichspogromnacht ebenfalls.


Die Sprache der Täter ist es mit Sicherheit nicht, denn diese verwendeten andere Begriffe.
Zitat aus Sprache und Sprachlenkung im Nationalsozialismus:

"Tatsächlich findet man in der Presse, in allen Publikationen bis zu den "Geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS", immer nur die 5 oder 6 genehmigten Vokabeln (Vergeltungsmaßnahmen, Aktionen gegen die Juden, Demonstrationen, spontane Antwort, begreifliche Empörung, Protestaktionen oder Zusammensetzungen daraus: Vergeltungs-, Juden-, Demonstrations--, Empörungs-, Spontanaktionen, -maßnahmen).Für die umstrittene Bezeichnung Reichskristallnacht gibt es im Übrigen keinen zeitgenössischen schriftlichen Beleg. Sie war offenbar ein Element der inoffiziellen mündlichen Sprache."

Sprache und Sprachlenkung im Nationalsozialismus
 
Romani Rose der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma hat sicher seine Verdienste, aber er hat nicht die Deutungshoheit und er ist auch nicht das Sprachorgan aller Sinti und Roma.
Dann ist es doch erstaunlich, dass es keinen Zigeunerzentralrat gibt, wenn der Sprecher der Sinti und Roma doch keine Deutungshoheit zur Selbstdefinition hat. Auch in der Schweiz meidet man den Begriff "Zigeuner". Es gibt dort einerseits die "Radgenossenschaft der Landstraße" für Jenische und andererseits die "Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende", wobei Fahrende sowohl für Jenische als auch für Sinti und Roma steht.
Die Kalles oder Manousches sind weder Sinti noch Roma, gehören aber dazu.
Manouches ist der französischsprachige Begriff für Sinti.
 
@Ugh Valencia Ist denn anhand zeitgenössischer Quellen (z.B. Tagebucheinträgen) nachzuweisen, dass der Begriff von der Bevölkerung als verharmlosend verstanden wurde? Ich hielt ihn immer für denjenigen Flüsterwitzen verwandt, die die Neigung der NS-Führung zu gleichzeitig bombastischen und nichtssagenden Bezeichnungen aufs Korn nahmen.
 
@muck So weit ich weiß, ist der Begriff nicht durch zeitgenössische Quellen belegt, sondern wurde nur mündlich tradiert. Aber über wen macht man sich mit dem "Flüsterwitz" Kristallnacht lustig? Tatsächlich über Nazis und deren Sympathisanten, die ein Pogrom verübt haben oder nicht doch viel mehr über die Opfer der Pogroms, deren menschliches Leid dadurch verschwiegen und verharmlost wird, in dem man nur über zerbrochenes Glas redet?

Edit: Ich habe doch noch einen Beleg für Reichskristallnacht aus der NS-Zeit bei wiki gefunden: "Schriftliche Belege für Kristallnacht aus der Zeit des Nationalsozialismus gibt es keine, für Reichskristallnacht nur einen: Der Ministerialdirektor im Reichsarbeitsministerium Wilhelm Börger spottete am 24. Juni 1939 in einer Rede auf dem Gautag des NSDAP-Gaus Hannover-Ost in Lüneburg unter dem Gelächter seiner Zuhörer: „Also die Sache geht als Reichskristallnacht in die Geschichte ein […], Sie sehn, das ist humoristisch erhoben, nicht wahr“.
Novemberpogrome 1938 – Wikipedia
 
Zuletzt bearbeitet:
Heißt das, Börger hat den Begriff geprägt? Oder hat er ihn bloß aufgegriffen?

Ich vermute, dass das wohl letzteres ist. Dass dieser Begriff aus der offiziellen Tätersprache kommt, ist schon anhand der Quellen ausgeschlossen worden.
Das heißt eigentlich nur, dass dieser Begriff Reichskristallnacht im Juni 1939 wohl eine gewisse Verbreitung hatte.

Wiki schreibt hierzu:

Diese regimekritische Bedeutung ist nicht schriftlich belegt, wurde später aber von Zeitzeugen bestätigt. Adolf Arndt (SPD), der im November 1938 in Berlin als Rechtsanwalt tätig war, sagte in der Verjährungsdebatte des Deutschen Bundestages vom 10. März 1965 zu seinem Vorredner Ewald Bucher: „[D]en 8./9. November 1938, den man doch nicht, Herr Bundesjustizminister, als ‚sogenannte Reichskristallnacht‘ bezeichnen sollte. Das ist ein blutiger Berliner Witz gewesen, weil man sich damals nicht anders zu helfen wusste.“[135]

Novemberpogrome 1938 – Wikipedia

Das würde auch ganz gut zur berühmten Berliner Schnauze passen.
 
Ich kann mich mit der Entwicklung der Diskussion nicht ganz anfreunden. Political Correctness ist ein seit den 1980ern aus den Staaten zu uns hinübergeschwappter Kampfbegriff der Neurechten. Er soll vor allem nichtrechte Diskurse ridikülisieren.
Grundsätzlich muss man nicht immer höflich sein, aber letztlich kann man doch so respektvoll mit Menschen umgehen, dass man sie nicht mit Ausdrücken bezeichnet, die sie als beleidigend empfinden.
Was nun den Begriff Zigeuner anbelangt: der wird tw. abgelehnt, aber wohl nicht durchgängig. Da hörte ich vor Jahren (lasst es 20 Jahre her sein) auf dem DLF mal in einen Beitrag einen sich selbst als Zigeuner bezeichnenden Menschen. Allerdings scheinen viele Sinti und Roma den Begriff als antizigan zu verstehen und somit geböte es der Respekt, den Begriff, wenn es geht, zu vermeiden.
Der Flachwitz von Schöneberger stammt im Übrigen nicht einmal von ihr und gehört in dieselbe Schublade wie Maximalpigmentierter. Der Zweck solcher Flachwitze ist doch am Ende nur der, respektvollen Umgang mit bestimmten Bevölkerungsgruppen lächerlich zu machen. Und das hat leider viel Erfolg in der Breite der Bevölkerungsteile ohne passive Diskriminierungserfahrung.

Was nun das Thema „kulturelle Aneignung“, das hier auch angesprochen wurde, anbelangt, so liegt da ein Riesenmissverständnis vor!
Die Rockmusik ist zu einem ganz erheblichen Anteil aus dem Blues entstanden. Zunächst von Afroamerikanern entwickelt, waren diese kommerziell marginalisiert, ihre Lieder wurden von den meisten Radiostationen nicht gespielt. Weiße Rockmusiker hingegen schon. Hierher kommt der Begriff der kulturellen Aneignung. Wenn heute des Rassismus Unverdächtige mit Dreadlocks* der „kulturellen Aneignung“ bezichtigt werden oder Menschen die sich min Karneval als Indianer verkleiden, dann hat das nix mehr damit zu tun, was ursprünglich zu Recht kritisiert wurde. Wenn allerdings Nazis HipHop machen (Nazi HipHop gibt es tatsächlich), dann machen sie Musik, die eine Bevölkerungsgruppe entwickelt hat, die sie aus rassistischen Motiven verachten. Da kann man schon zu Recht von kultureller Aneignung reden.
An und für sich ist kulturelle Aneignung der historische Normallfall, schon die Neolithisierung war nichts anderes als kulturelle Aneignung (Technologietransfer) und im Prinzip ist kulturelle Aneignung etwas Gutes, sofern die Urheber eines Kulturguts dadurch keine Benachteiligung erfahren (siehe marginalsierte schwarze Rockmusiker, die nicht gespielt wurden).

*ich war 2014 zu einem Termin in Dresden, zufälligerweise war am Abend die alljährliche Nazidemo, der ich auf dem Weg in die Innenstadt in die Quere kam (bzw. sie kam mir in die Quere, ich man nämlich nicht weiter). Mitten im Nazipulk lief ein Typ mit Dreadlocks. Zurück im Hotel habe ich das recherchiert und tatsächlich gefunden, dass der Typ sachsenweit als Dreadlocknazi bekannt war. Hier kann man dann zu Recht von Aneignung reden.
 
@El Quijote

Das Folgende soll nicht auf ein tagespolitisches Nebengleis führen, doch geht es immerhin auch um die Frage, ob der Begriff "Reichskristallnacht" verharmlosend ist … Das Problem an Deiner Argumentation besteht meiner Meinung nach darin, dass Du auf das Empfinden und damit auf Subjektivität abstellst.

Empfindet jemand einen Begriff als verletzend, so heißt das aber noch lange nicht, dass er mit objektiv gutem Grund so empfindet. Doch wäre ein solcher Grund zu verlangen, denn das Wertesystem, auf dem unsere staatliche und gesellschaftliche Ordnung fußt, spricht nicht schon wegen eines wie auch immer gearteten Resultats von Unrecht, sondern urteilt anhand des zugrundeliegenden Vorsatzes.

Mir ist nicht klar, warum die Versicherung einer Person, sie fühle sich durch eine Aussage verletzt, partout die Versicherung der Gegenseite aus dem Feld schlagen sollte, die Aussage sei nicht verletzend gemeint gewesen. Alle Menschen sind gleich. Wenn das subjektive Empfinden entscheidungserheblich sein soll, dann führt kein Weg daran vorbei, Wollen und Nichtwollen beider Seiten zu berücksichtigen.

Zweitens stellt sich mir die Frage, wie der Gesellschaftsvertrag bezüglich dessen, was man früher als "das tut man nicht" zu bezeichnen pflegte, auf einer Grundlage verhandelt werden kann, die jedes Individuum quasi in die Rolle des Sachwalters eines bestimmten demographischen Segments presst.

Denn die Kehrseite der Medaille, wenn sich Roma-Mitbürger XYZ auf Twitter über den Begriff "Zigeunersoße" beschwert und eine Vielzahl von Menschen daraufhin den Begriff ablegen, besteht darin, dass XYZ nicht mehr ausschließlich als Individuum gesehen wird, sondern seine tatsächliche oder vermeintliche Gruppenidentität in den Vordergrund tritt. Andere Roma werden ebenfalls ent-individualisiert, indem man einfach voraussetzt, dass XYZ auch für sie spricht und sprechen darf.

Die Unterschiede bspw. zwischen Ethnien werden damit nicht verwischt, wie es das ursprüngliche Ziel der individualistischen liberalen Gesellschaft war, sondern betont: ein Rückschritt in Richtung Kollektivismus. Meinem Empfinden nach ist dies der Hauptkritikpunkt derer, die von "politischer Korrektheit" sprechen (ein Begriff, der nun zu verbreitet ist, um ihn allein der Rechten zuzuschreiben).

Was die "Reichskristallnacht" anlangt, würde ich ebenfalls auf den Vorsatz abstellen. Oben wurde ein Beispiel genannt, dass der Begriff von Tätern spöttisch gebraucht wurde. Es liegt nahe, dass er auch heute noch z.B. von Neonazis mit spöttischer Betonung gebraucht werden dürfte. Das ist schon mal ein wichtiger Punkt. Die Frage ist, ob uns das davon abhalten muss, den Begriff ebenfalls zu gebrauchen?

Es gibt Gründe, die dafür und dagegen sprechen.

Die Gefahr der Verleugnung sehe ich schon mal nicht; das wäre auch ungefähr so effektiv, wie den Holocaust verleugnen zu wollen, indem man stattdessen den Begriff "Endlösung der Judenfrage" gebraucht; sondern eher schon die Gefahr, dass wider besseres Wissen der Eindruck erweckt werden soll, es seien doch nur ein paar Scheiben zu Bruch gegangen, um so die Opfer zu verhöhnen.

Es scheint also, als bräuchte es einen guten Grund, um an dem Begriff festzuhalten. Für mein Teil würde ich nutzethisch argumentieren. Läuft man Gefahr, mit der Bezeichnung "Reichskristallnacht" Schülern und Studenten ein falsches Bild zu vermitteln? Bei unserem Schulsystem mache ich mir (wenigstens in dieser Hinsicht) eigentlich keine Sorgen, es wird hinreichend erklärt, was geschehen ist.

In Verbindung mit etwas Aufklärung über die Geschehnisse hat der Begriff meiner Auffassung nach eine positive Wirkung, indem er das Konzertierte des Pogroms und die Rolle des Staates hervorhebt, und zugleich den Zuhörer durch den evozierten grotesken Kontrast aufrüttelt. Für mich ist der Begriff auch kein Euphemismus, weil er nicht mehr effektiv verhüllend wirken kann, sondern etwas Neues.

Er entwickelt eher die Wirkung einer grotesken Untertreibung, ungefähr so, wie z.B. auch der Euphemismus "Kollateralschaden" im allgemeinen Gebrauch nicht mehr verhüllt (und deshalb aus dem Sprachgebrauch von Armeen und Regierungen weitgehend verschwunden ist). Im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen ist ein "Kollateralschaden" heute allermindestens ein Schlagwort für unnötig in Kauf genommene Opfer, wenn nicht gar ein unterschwelliger Mordvorwurf.
 
[D]en 8./9. November 1938, den man doch nicht, Herr Bundesjustizminister, als ‚sogenannte Reichskristallnacht‘ bezeichnen sollte. Das ist ein blutiger Berliner Witz gewesen, weil man sich damals nicht anders zu helfen wusste.
Das würde allerdings ein gewisses Mitempfinden der "Berliner Schnauze" mit den Opfern der Pogromnacht voraussetzen. Dass der Begriff "Reichskristallnacht" auf einem Nazi-Gauparteitag 1939 als "echt knorker Jux" wahrgenommen wurde, spricht dagegen. Im Endeffekt hat sich Nazi Börners Vorhersage, dass die "Reichskristallnacht" in die Geschichte eingehen wird, bewahrheitet. Einen "Flüsterwitz" kann man jedenfalls nicht darin erkennen. Das NS-Regime fand den Begriff belustigend.
 
Ich kann mich mit der Entwicklung der Diskussion nicht ganz anfreunden. Political Correctness ist ein seit den 1980ern aus den Staaten zu uns hinübergeschwappter Kampfbegriff der Neurechten. Er soll vor allem nichtrechte Diskurse ridikülisieren.

Grundsätzlich muss man nicht immer höflich sein, aber letztlich kann man doch so respektvoll mit Menschen umgehen, dass man sie nicht mit Ausdrücken bezeichnet, die sie als beleidigend empfinden.
Was nun den Begriff Zigeuner anbelangt: der wird tw. abgelehnt, aber wohl nicht durchgängig. Da hörte ich vor Jahren (lasst es 20 Jahre her sein) auf dem DLF mal in einen Beitrag einen sich selbst als Zigeuner bezeichnenden Menschen. Allerdings scheinen viele Sinti und Roma den Begriff als antizigan zu verstehen und somit geböte es der Respekt, den Begriff, wenn es geht, zu vermeiden.
Der Flachwitz von Schöneberger stammt im Übrigen nicht einmal von ihr und gehört in dieselbe Schublade wie Maximalpigmentierter. Der Zweck solcher Flachwitze ist doch am Ende nur der, respektvollen Umgang mit bestimmten Bevölkerungsgruppen lächerlich zu machen. Und das hat leider viel Erfolg in der Breite der Bevölkerungsteile ohne passive Diskriminierungserfahrung.

Da muss man sich aber doch auch fragen, warum Rechte so großen Erfolg dabei haben, bestimmte Diskurse ins Lächerliche zu ziehen.

Da werden ja den Rechten auch immer wieder regelrecht Steilvorlagen geliefert, die genau das sind: lächerlich und läppisch.

Respektvoller Umgang, Verständnis, Toleranz das sind zumindest Anliegen, wo man meinen sollte, dass man die Mehrheit der Bevölkerung dafür gewinnen kann.

Wie sieht dann aber auch der offiziell anerkannte "respektvolle Umgang" aus? Da wird vereinzelt eine Rassentrennung gefordert, stellenweise Rassentrennung durchgesetzt und das dann der Öffentlichkeit als etwas Fortschrittliches, etwas Emanzipatorisches verkauft.

Bei einer Funk-Doku des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wurde moniert, dass Fridays for Future viel zu weiß sei.
In der Zeche Zollern in Dortmund gab es 2023 eine Ausstellung über Kolonialismus. Die Leitung hat einen "Safer space" eingerichtet, und an Samstagen durften für 4 Stunden nur "People of Color" das Museum betreten und sich die Ausstellung ansehen.
Da war natürlich das Geschrei der Rechten groß, die "Rassismus gegen Weiße" anprangerten.


Eigentlich sind "Menschenrassen" ein Konstrukt. Die Unterschiede in Physiognomie, Hautfarbe und Wuchs-die sind beträchtlich. Bei allen Unterschieden sind wir aber alle Homo sapiens, molekularbiologische Untersuchungen belegen, dass alle Menschen so eng miteinander verwandt sind, dass man nicht von Unterarten oder Rassen sprechen kann.
Ich halte diese Regelung in der Zeche Zollern in Dortmund tatsächlich für rassistisch. Rassistisch nicht gegen Weiße, sondern gegen alle Menschen. Rassistisch und paternalistisch weil es Schwarzen unterstellt, dass sie eine Sonderbehandlung wünschen, dass sie vor "Weißen" beschützt werden müssen, dass sie deren Anblick (oder Geruch) nicht ertragen können, dass sie sich eine Rassentrennung wünschen und unter sich sein wollen.

Wie soll das in der Realität funktionieren? Wie schwarz oder weiß muss/darf man denn sein, um sich die Ausstellung ansehen zu dürfen oder draußen bleiben zu müssen? Wenn ein Vater mit seiner kleinen Tochter nichts von der Regelung weiß und samstags kommt, sich einfach nur die Ausstellung ansehen will, wird er dann wieder weggeschickt? Wie erklärt man einem Kind warum ihm der Zugang verweigert wird?

Dürfen Kaukasier mit Migrationshintergrund samstags in die Ausstellung oder schickt man rothaarige Türken wieder weg? Sind Türken, Sinti und Roma, Araber, Iraner oder Algerier weiß oder sind sie schwarz (genug)? Was ist mit Chinesen und Japanern, Vietnamesen oder Koreanern? Ist "gelb" zu weiß oder ist es schwarz genug? Wie verfährt man mit Slawen oder Nachkommen von Sklavenarbeitern. Sind die zu weiß oder gehen sie als PoC ehrenhalber durch, immerhin war da mal was mit Sklaverei.

Was ist mit "Mischlingen"? Dürfen "Mulatten", und Mestizen rein, während Terzeronen, Quinteronen draußen bleiben müssen?


Wenn das gut und richtig und emanzipatorisch ist- wäre es dann nicht konsequent auch in Gedenkstätten "safer spaces" nur für Juden einzurichten, wo sie vor der Mehrheit geschützt sind, wo sie unter sich sind? Halb-Viertel-Juden könnte man dann großzügig den Juden zurechnen. Falls Besucher sich ungewollt Zutritt verschaffen wollen, könnte ja diskret nachprüfen ob sie beschnitten sind. In Bussen oder Schulklassen könnte man auch die Rassentrennung einzuführen und "Safer Spaces" einrichten, wo Minderheiten unter sich bleiben können?

Political Correctness ist ein seit 1980 herübergeschwappter Kampfbegriff der Neurechten, um Diskurse zu lächerlich zu machen

Sicher war es das. Es war/ist aber auch sehr fragwürdig die Verhältnisse in den USA mit ganz anderem demographischen und sozialen Verhältnissen 1:1 auf die Verhältnisse in Deutschland oder Europa zu übertragen.

Politische Korrektheit war aber nicht nur ein Kampfbegriff der Rechten, sondern hat sich auch zu einer moralischen Keule entwickelt, um die Opferrolle einzunehmen und Gegenstimmen zu diskreditieren und in eine bestimmte Ecke zu drängen.
Was wurde da auch nicht alles skandalisiert! So skandalisiert, dass Leute sich scheuen, das Offensichtliche auszusprechen und den Elefanten im Raum beim Namen zu nennen, aus Angst vor dem Shitstorm, der kommen könnte.
 
Hier wird so viel in meinen Augen Vernünftiges geschrieben, dass es fast schon ein bisschen langweilig ist. Zum Begriff der political correctness: Der stammt ursprünglich schon aus dem linken Lager, war da aber von Anfang an auch ironisch gemeint. Ich zitiere aus dem englischen Wikipedia-Artikel zum Begriff:

In the 1970s, the American New Left began using the term politically correct. In the essay The Black Woman: An Anthology (1970), Toni Cade Bambara said that "a man cannot be politically correct and a [male] chauvinist, too." William Safire records this as the first use in the typical modern sense. The term "political correctness" was believed to have been revived by the New Left through familiarity in the West with Mao's Little Red Book, in which Mao stressed holding to the correct party line. The term rapidly began to be used by the New Left in an ironic or self-deprecating sense. Thereafter, the term was often used as self-critical satire. Debra L. Shultz said that "throughout the 1970s and 1980s, the New Left, feminists, and progressives... used their term 'politically correct' ironically, as a guard against their own orthodoxy in social change efforts."

(Vielleicht haben wir das aber auch schon mal an anderer Stelle diskutiert.)
 
Das würde allerdings ein gewisses Mitempfinden der "Berliner Schnauze" mit den Opfern der Pogromnacht voraussetzen. Dass der Begriff "Reichskristallnacht" auf einem Nazi-Gauparteitag 1939 als "echt knorker Jux" wahrgenommen wurde, spricht dagegen.

Das eine muss mit dem anderen nichts zu tun haben. Die Berliner Schnauze ist nunmal berühmt dafür, schnoddrig, respektlos und spöttisch zu sein; auch bei Dingen, die einem nahe gehen.

Sagt jetzt nichts darüber aus, wie der Begriff wirklich entstand, oder ob man ihn verwenden sollte (ich sag auch lieber Reichspogromnacht oder Novemberpogrom). Aber auch nichts über die Haltungen derjenigen, die ihn erfanden oder verwendeten, wenn sie uns nicht selbst darüber aufklären.
 
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