Iustinian hielt sich gewiß für einen "römischen" Kaiser, nicht für einen "byzantinischen"
Das tat ohnehin keiner der "byzantinischen" Kaiser.
War denn das Mittelalter nicht fähig, ein ähnlich strahlendes Recht wie das römische zu entwerfen? Gab es irgendeine kulturelle Konvention oder Wissenslücke die es verhinderte, dass im Mittelalter ähnlich umfassende Gesetzesbücher entstanden, nur eben mit an die mittelalterliche Welt angepassten Bestimmungen?
Ich würde das Mittelalter nicht so schlecht machen. Sein Rechtssystem (in Mitteleuropa) war einfach lange Zeit völlig anders geartet.
Auch das "strahlende" römische Recht kam nicht aus dem Nichts. Das Zwölftafelgesetz war noch recht einfach strukturiert und eher kasuistisch und erinnert durchaus an manche mittelalterlichen Gesetze. Ein legistischer Fortschritt war schon die Lex Aquilia aus dem 3. Jhdt. v. Chr. über das Schadenersatzrecht. Aber wirklich entfalten konnte sich die römische Rechtswissenschaft erst im 2. Jhdt. v. Chr., als sie mit Rhetorik und auch Philosophie verbunden wurde. "Juristen" im heutigen Sinne gab es aber noch nicht, sondern Juristerei wurde primär von Prozessrednern betrieben, die ihre Mandanten vor Gericht vertraten. Die meisten waren entsprechend rhetorisch geschult und hatten sich oft auch mit Philosophie beschäftigt (beides im Idealfall in Griechenland oder zumindest mit griechischen Lehrern). Was sie in Philosophie gelernt hatten und auch in der Rhetorik praktizierten, wandten sie nunmehr auch auf das Recht an: das Herausbilden abstrakter Denkfiguren, das feine Differenzieren, das Ableiten und Ziehen logischer Schlüsse, das saubere Argumentieren etc. Wer als Prozessredner bestehen wollte (was oft - wie bei Cicero - der Einstieg in eine politische Laufbahn war), musste all das beherrschen und entsprechend Ahnung vom Recht haben (wenngleich Cicero die Juristerei nur als eine Art Hilfswissenschaft für die Rhetorik betrachtete und nicht sonderlich hoch schätzte). (Lesenswert in diesem Zusammenhang sind Ciceros Schriften "Brutus" und "De oratore". Der "Brutus" enthält eine Art griechische und römische Rhetorikgeschichte, wobei Cicero auch auf die Betätigung der römischen Redner mit dem Recht eingeht. Zu lesen ist er allerdings eher öde, da er über weite Strecken nur eine Auflistung von zahllosen, heutzutage großteils unbekannten Rednern mitsamt Bewertung ihres Stils und ihrer Fähigkeiten ist. Interessanter ist "De oratore" mit hübschen Fallbeispielen, wie Redner mit dem Recht umgingen.) Ab dem 1. Jhdt. v. Chr. gab es dann auch so etwas wie "hauptberufliche" Juristen, die aber auf das zurückgreifen konnten, was ihre Vorgänger herausgebildet hatten. Zur Blüte kam es in der Kaiserzeit.
Die römische Rechtswissenschaft hatte also eine lange Entwicklungsgeschichte und verdankte ihren hohen Entwicklungsstand Leuten, die über eine weitreichende Bildung verfügten und sich intensiv mit dem Recht beschäftigen konnten. Später gab es auch viel hauptberufliches Personal, das sich jahrzehntelang mit dem Recht befasste.
Noch eines sollte man nicht vergessen: Die Juristerei hatte bei den Römern (noch mehr bei den Griechen) auch einen hohen "Duell"-Charakter: Die Vertreter der Parteien im Prozess versuchten sich gegenseitig mit ihren Reden zu übertrumpfen (um so nebenbei das Gericht zu überzeugen). Für den Ausgang eines Prozesses war (wenngleich es auch formalistische Elemente gab) ab der späten Republik in hohem Maße ausschlaggebend, wer den besseren Redner, der überzeugender argumentieren und seine Argumente auch ansprechend vortragen konnte, auf seiner Seite hatte. Der eigentlich entscheidungsrelevante Sachverhalt und allfällige Beweismittel konnten da durchaus ins Abseits geraten. (Eine Rolle spielten allerdings freilich auch politische Einflüsse, Erwägungen und Sympathien.)
Diese Voraussetzungen waren in Teilen des Mittelalters einfach nicht gegeben. Zugang zur antiken Rhetorik, Dialektik etc. hatten primär Geistliche, die aber dann nicht als Juristen in Erscheinung treten wollten. Es bestand aber wohl auch lange Zeit kein entsprechender Bedarf. Der Prozess in fränkischer Zeit basierte stark auf Formalitäten, außerdem spielten Eidesleistungen, Gottesurteile und das Fragen, was von altersher Recht gewesen sei, eine wichtige Rolle. Für abstrakte spitzfindige juristische Argumentationen wäre wohl ohnehin kaum Platz gewesen.
Warum wurde der CIC nicht gleich in zwei Sprachen veröffentlicht? Die kaiserlichen Dokumente in den griechischen Provinzen wurden doch sowieso, zumindest während des Prinzipats, auch in griechisch verfasst?
Ich vermute, weil die verarbeiteten älteren Texte nun einmal im Original auf Latein waren. Außerdem war - trotz andersgearteter Praxis im Osten - zumindest vom Anspruch her immer noch Latein so etwas wie die "Amtssprache". Iustinian selbst war lateinischer Muttersprachler, was vielleicht auch eine Rolle gespielt hat.
Außerdem: wie weit verbreitet war die lateinische Sprache in der byzantinischen Oberschicht nach 600 eigentlich? War es Teil der klassischen Bildung, oder erlernten es nur einige wenige verstreute Gelehrte?
Zur Entstehungszeit des Corpus war Latein noch die Sprache der Armee und (zumindest formal) der Verwaltung. Ab etwa 600 nahm seine Bedeutung aber tatsächlich rasch ab.
Inwieweit trotzdem noch Latein gelernt wurde, vermag ich nicht zu sagen. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang das "Myriobiblon" des Patriarchen Photios (9. Jhdt.), eine Art Leseliste. Darin werden auch zahlreiche - griechischsprachige - antike Werke aufgelistet. Lateinischsprachige Literatur wurde anscheinend kaum noch gelesen.
Wie lange blieben denn diese Gesetzbücher in Gebrauch? Also wie lange hat sich das oströmische Recht noch auf dem römischen Fundament bewegt, bevor es dann wirklich ein eigenständiges "byzantinisches" Recht wurde?
Naja, was heißt "eigenständig"? Noch heute sind das ABGB bzw. das BGB keine "eigenständigen" österreichischen bzw. deutschen Gesetzbücher, sondern beruhen in weiten Teilen maßgeblich auf dem römischen Recht, vor allem im Bereich des Sachenrechts (Besitz, Eigentum, Pfandrecht, Servituten ...) und des Schuldrechts (Verträge, Schadenersatzrecht ...).
Ebensowenig hat sich auch das byzantinische Recht jemals vom römischen Recht gelöst.