@Decurion (an Choniatas)
Augustinus hast du angesprochen, Paulus hast du angesprochen. Ich bin mir sicherund das darf ich sagen, dass du keine Ahnung hast, was Augustinus oder Paulus in ihren Schriften aussagen. Wenn du es wüsstest, so erkanntest du nämlich, dass GERADE diese beiden herausragenden Personen des Glaubens die Wissenschaft und BIldung unterstützt haben. Lies doch einfach mal Augustinus' "De Trinitate".
Wo hat Paulus die Wissenschaft "unterstützt"? Er spielt die christliche "Torheit" (den Glauben an den gekreuzigten Christus) gegen die "Weisheit der Welt" aus (1 Kor 1,17 ff.).
Augustinus schreibt:
(De trinitate, Buch 13)
Unsere Wissenschaft also ist Christus, unsere Weisheit ist ebenfalls der gleiche Christus. Er pflanzt uns den Glauben hinsichtlich der zeitlichen Dinge ein, er bietet uns die Wahrheit über die ewigen dar. Durch ihn schreiten wir hindurch zu ihm, durch die Wissenschaft trachten wir nach der Weisheit; nicht jedoch entfernen wir uns dabei von dem einen und selben Christus, "in dem alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft verborgen sind."
Wissenschaft kann also nur die Dienerin der Theologie sein. Ihr Wert liegt für Augustinus nicht in ihr selbst. Hat sie überhaupt einen Wert für ihn oder kommt er, in seiner Rolle als Bischof, den intellektuellen Bedürfnissen jener entgegen, die er überzeugen, d.h. für das Christentum gewinnen oder beim Christentum halten möchte? Bekannt ist, dass das sich ausbreitende Christentum von der hellenistischen Umwelt wegen seiner Simplizität kritisiert und bespöttelt wurde. Wie ich an anderer Stelle schon schrieb, war es im Interesse der Akzeptanz gezwungen, das hellenistische Denken teilweise zu adaptieren, um die christliche Botschaft salonfähig zu machen ("Hellenisierung des Christentums"). Die Apologeten konstruierten die Logos-Theologie, die mit einem jesuanischen Christentum (dieses mal vorausgesetzt) gar nichts mehr zu tun hatte. Ähnliche Motive hatte sicher auch Augustinus, wenn er Wissenschaftlichkeit in sein theologisches Gebäude integriert: Es ist ein
Zugeständnis an die Bedürfnisse der hellenistischen Zielgruppe. Und dass Wissenschaft auch die theologische Sphäre einschließt, zeigt die Passage in De trinitate:
Jetzt aber sprechen wir über die Wissenschaft, hernach werden wir, soweit er selbst es uns gewährt, über die Weisheit sprechen. Nicht wollen wir die zwei so verstehen, als ob es nicht erlaubt wäre,bei den menschlichen Dingen von Weisheit, bei den göttlichen von Wissenschaft zu reden. In einem weiteren Sprachgebrauch kann man ja beide Male von Weisheit, beide Male von Wissenschaft sprechen.
Die in diesem Thread viel vertretene These, dass Wissenschaftlichkeit dem christlichen Grundgedanken
nicht widerspreche, berücksichtigt einfach nicht, dass das Konzept Wissenschaft kein originär christliches ist, sondern ein von außen in das christliche Denken importiertes (wie so vieles ins Christentum importiert wurde, eigentlich fast alles). Es ist ein Kompromiss im Interesse der Verbreitung des Christentums, das eine unbedeutende jüdische Sekte geblieben wäre ohne diesen Kunstgriff.
Am Beginn des Mittelalters herrschten dank der christlichen Expansion bildungsmäßig verheerende Zustände. Bücherverbrennungen galten als geradezu heilige Tat. Die nichtklerikale Bevölkerung Westeuropas war im Prinzip analphabetisch. Die Karolinger starteten eine Bildungsreform, um ihre Verwaltung und den (ebenfalls nicht so tollen) Bildungsstatus des Klerus auf Vordermann zu bringen. Als Quellen der Bildung dienten - natürlich - die in nur wenigen Ländern bewahrten Werke der Antike. Auch in den späteren Jahrhunderten griff man auf antike und arabische Bildungsliteratur zurück.
Bildung bzw. Wissenschaft musste also immer importiert werden. Erst ab dem 13. Jh. erreichte die Bildung aber auch nichtklerikale Kreise - also nach Jahrhunderten christlicher "Bildungspolitik". Als Wissenschaft aber zu einer
ernsthaften Bedrohung für das christliche Weltbild wurde (ab 1500 bis 1600), zeigt das Christentum sein wahres Gesicht:
+ Giordano Bruno wird verbrannt
+ Pomponio Algerio wird zu Tode gefoltert
+ Kepler muss seine Erkenntnisse widerrufen
So viel zur angeblichen Wissenschaftsfreundlichkeit des Christentums. Diese hat es nie gegeben. Wenn Wissenschaft toleriert wurde, dann als Zugeständnis an gebildete Zielgruppen oder, in pragmatischer Absicht, zur Stabilisierung des Klerus und der Administration.
Chan