#8 köbis17, ich habe mich einige Zeit mit der Frage beschäftigt. Da es eine theoretische Frage ist, kann mein Ergebnis nur eine persönliche Meinung sein, die ich gerne zur Diskussion stellen würde.
Die Beschäftigung mit dem Problem wird verkompliziert durch Aussagen von Zeitgenossen, die nicht miteinander zu vereinbaren sein (Tirpitz Erinnerungen versus William Michaelis Äußerungen von 1936, abgedruckt bei Rahn, Deutsche Marinen im Wandel, kann im Internet zum Teil gelesen werden). Für die folgende Betrachtung ist die interessant, aber nicht entscheidend.
Ich bin der Auffassung, dass viele Probleme des Kaiserreichs auf eine verfassungsrechtliche Frage zurückzuführen ist. Das „persönliche Regiment“ (sicherlich zulässig), das nur lückenhaft ausgeübt wurde, führte dazu, dass divergierende politische Kräfte zum Zuge kamen. Im Kabinett des Kaisers (eine Art Schattenregierung), Staatssekretäre (die voll der Weisung des Kanzlers unterlagen) konnten über persönliche Vorsprachen beim Kaiser verfassungsrechtlich nicht so gewollten Einfluss erhalten. Durch die unglückliche Organisation der Marine (1889 Aufteilung in Reichsmarineamt, Marinekabinett, Oberkommando) konnte sie in ihrer Meinungsbildung aufgespalten werden.
Während das Bauprogramm eine militärische Angelegenheit war, hatte die „Risikotheorie“ politische Aspekte, für die der Kanzler zuständig war (eigentlich kein Problem, da der Kaiser als Unterstützer des Marineprogramms diese Zuständigkeit an sich ziehen bzw. Weisungen erteilen konnte). Mit den politischen Aspekten meine ich nicht die Politik gegenüber England, sondern die möglichen Reaktionen nach der Aufgabe der splendid isolation, die auch zu einer Aufgabe eigener Seeherrschaft im Mittelmeer und Ostasien bedeutete (z.B. belastbares Bündnis mit Italien, Neutralität Japans). Ziel solcher Bündnisse hätte eine Entlastung der Hochseeflotte durch notwendigen Abzug von Einheiten der Navy sein müssen (im Grunde die Politik, die England tatsächlich durchgeführt hat). Gleichzeitig hätte die Wirkung der Blockade abgeschwächt werden können (z.B. über Italien, hierfür hätte schon Neutralität genügt). Diese politischen Maßnahmen fehlten, das bedeutet eine beachtliche, vermeidbare Schwächung der Hochseeflotte im Vorfeld jeder Operation.
Wenn man nun auf die tatsächliche Situation 1914 abstellt, sieht für ich die Sache so aus, dass in das Oberkommando hineinregiert wurde und gegen besseres Wissen die Defensive verlangt wurde.
Führende Marineoffiziere verlangten nämlich ab 1909 eine Abkehr von der Defensive (Admiral Fischel: Wir sind der Angreifer). Hervorzuheben ist der von Graf Baudissin angedachte Überfall auf die Navy in der Nacht vor der Kriegserklärung (ein solcher Überfall wurde lt. Massie, Castles, befürchtet und war der Grund die Navy von Portsmouth nach Scapa Flow zu verlegen). Einzelheiten der Planung kenne ich nicht, für Hinweise wäre ich dankbar. Alle Nachfolger (Fischel, von Heeringen, von Holtzendorff, wohl auch von Ingenohl und von Pohl) verlangten eine offensive Kriegsführung. Deren Pläne sind mir nicht bekannt, für Hinweise wäre ich dankbar. Churchill schreibt in World Crisis (in auffallender Übereinstimmung mit Tirpitz), dass 1914 die Chancen für die Deutschen für eine Schlacht gut standen (kampfstarke Schiffe befanden sich im Mittelmeer, in Ostasien und südlichen Atlantik, begleiteten Truppentransporte von Kanada und im Kanal) und dass die Engländer die Schlacht annehmen mussten. Allerdings nicht gerade vor Helgoland (scheinbar glaubten daran auch die deutschen Marineexperten nicht). Churchill sagt in World Crisis, dies wäre schlicht zu gefährlich für die Navy gewesen.
Ein Angriff auf die British Expeditionary Force im Kanal (westlich von Dover) wird als erfolgversprechendes Unternehmen bezeichnet (z.B. von Massie, Castles), die Ausführungen von Scheer (Reichweite der Torpedoboote reicht nicht) stützt dies Auffassung nicht.
Die tatsächlich von der Marine angewandte Strategie des Kleinkriegs scheint mir von der Politik beeinflusst worden zu sein (Bethmann meinte – für mich vollkommen unverständlich – alsbald mit England zum Frieden zu kommen, man dürfe daher „die Bulldogge nicht reizen“). Dazu passt auch, dass man tatsächlich vor Helgoland wartete (Scheer beschreibt dies deutlich), dort war die Schlacht unwahrscheinlich (ausdrücklich auch Tirpitz), und wenn sie dort stattfand, umso besser. Der sogenannte Kleinkrieg wurde wiederum von der Politik behindert durch Festlegung einer bestimmten Entfernung, die nicht überschritten werden durfte (was sich für die Deutschen sehr ungünstig auswirkte).
Fazit: Ein Brechen der Blockade wäre durch eine Seeschlacht möglich gewesen. Die Chancen waren durchaus vorhanden. Eine Vernichtung der Navy wäre natürlich unwahrscheinlich gewesen, aber ein Ergebnis wie vor dem Skagerrak hätte 1914 das Image der Navy schwer beschädigt, die Haltung der Neutralen beeinflusst (insbesondere das hin- und her schwankende Italien), möglicherweise (hängt vom Zeitpunkt einer erfolgreichen –das soll hier unterstellt werden - Seeschlacht ab) auch moralische Wirkung auf die Soldaten an der Westfront gehabt.