Ich versuche mal ein Bild zu malen..
Der Kaiser gibt dem NYT-Journalisten Hale ein Interview.
Das ist Ende Juli oder Anfang August. (Nach Tuchman August)
Hale kabelt die Zusammenfassung (Danke Silesia, für den Hinweis, dass das nicht so wie in einem heutigen Interview zugeht) an die NYT mit einem Veröffentlichungsvorbehalt, der darin besteht, dass eine Freigabe, und ggf. Redigierung durch das AA erfolgt.
(Winzen – Bülow S. 374 – Turgot, vielen Dank für die Literaturempfehlung!)
Die Redaktion der NYT fühlt sich angehalten den, sich für den Inhalt interessierenden, Präsidenten Th. R. darüber in Kenntnis (07.08.1908) zu setzen.
Der rät dringend von einer Veröffentlichung ab, derweilen streicht das AA des DR des Allerhöchsten Ein- und Ausgebung sehr reichlich zusammen.
Böderweise aber sind sogleich auch die Entscheidungsträger anderer Nationen (UK, Russland, und auch Japan) über die heftigen Ergüsse des Mannes orientiert, den man für außenpolitisch maßgeblich hält.
Und im DR hält man des Kaisers Höchstselbst zugesandte Abschrift auch in Händen.
Insofern habe ich mich wohl geirrt, als ich annahm, der KW hätte beim Hale-Interview den Weg der Redigierung nicht beschritten und das setzt vielleicht der Groteske die Krone auf.
Zu einer Veröffentlichung kommt es vorläufig nicht, aber sie droht...
Inzwischen gibt der Kaiser grünes Licht, wenn man so sagen will, für eine erneute Narretei.
Auch diese übergibt er ein Kontrolle, wünscht aber diesmal nicht jene des AA.
….
Der Hammer ist eigentlich nicht die strengstens vertrauliche Weitergabe aus dem Urlaub in Norderney, sondern der Wunsch resp. die Anweisung Wilhelms, dass genau diese Fach- und Sachprüfung durch das AA nicht erfolgen sollte...
Es wird nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland, an des Kaisers Zurechnungsfähigkeit gezweifelt.
Denn nach der allgemeinen Verwirrung über das freigebene Dayly Telegraph „Interview“ kommt es noch dicker: Der Inhalt des Hale-Interviews sickert in die Öffentlichkeit durch.
Selbstverständlich reagierte Wilhelm II entsetzt als er am Morgen des 23. November im Berliner Tageblatt, seine freimütigen Gedankengänge .., wiederfand.
(Winzen Seite 377)
Erschien das Dayly-Telegraph-Interview noch auf Seite 11 des entsprechenden Blattes am. 28. Oktober 1908,
so ist die Wiedergabe des Hale-Interviews nun (23.11.) beim „Berliner Tageblatt“ auf Seite 1 zu finden.
Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 1908-11-23 select page: 1
Die Redaktion dieses Blattes schickt voraus, dass es sich um einen Schwindel handeln müsse, und man kann annehmen, dass ohne eine solche Einleitung der Artikel nicht veröffentlichungsfähig gewesen wäre. Das beinhaltet eine beissende und auch listige Kritik.
Denn wäre es kein Schwindel, man müsste am Souverän selbst zweifeln.
Das „Berliner Tageblatt“ des gleichen Datums berichtet auf Seite 2 über den
außerordentlichen Verbandstag der Alldeutschen auf dem der notorische Claß eine Abschaffung des persönlichen Regiments fordert.
Im
Simplicissimus des gleichen Tages findet sich auf dem Titelblatt ein unteridischer Bismarck der ein deutsches Wichtelmännchen fragt, ob denn die „Papageien“ immer noch „um den Berg" fliegen.
Und auf Seite 3 fragt ein Affe, der dem Publikum das Hinterteil zuwendet: „wie lange wird noch in Berlin persönliche Politk getrieben?“
Auf PDF-Seite 19 heult die gekrönte Germania bettelnd: „Seien Sie wenigstens taktvoll, Mr. Jonathan, und veröffentlichen Sie es nicht“.
Auch Bülow kriegt sein Fett reichlich ab als Ofenschirm und schlafende Schwuchtel..
Der Bülow bricht wieder mal theatralisch physisch zusammen, aber diesmal auch der Kaiser.
Der Kaiser erlitt einen Nervenzusammenbruch. Er legte sich »ganz verwirrt« ins Bett, weigerte sich, Menschen zu empfangen, und verlangte, der Kronprinz solle die Regierungsgeschäfte übernehmen. Am 25. November 1908 teilte er Fürstenberg mit: »Es ist nun doch so gekommen, wie ich es ahnte und Dir vorhersagte! Vor 3 Tagen habe ich meinen Zusammenbruch richtig bekommen, und liege […] im Bett im Halb- oder Ganzschlaf, nachdem ein heftiger Weinkrampf mich aus meiner Ohnmacht riß.« Die von seinem Leibarzt verordneten Tannennadelbäder und Baldriantropfen seien lächerlich. »Als ob eine solche 4 Wöchentliche Höllenfolter seelischer Art sich mit solchen Curen vertreiben ließe!! […] Aber so haben mich die Politiker und Tintenklexer doch auf die Strecke gekriegt!!«
Zeitgeschichte: Der Kaiser spricht | ZEIT ONLINE
Was für eine Story!