Insgesamt ist zu dem Thema zu bemerken, dass viele entscheidende Dokumente aus der Zeit der UdSSR noch unter Verschluss sind. Die Rekonstruktion der Ereignisse aus der sowjetischen Sicht basiert somit im wesentlichen auf mündlichen Darstellungen von Beteiligten, wie beispielsweise die Darstellung von Mozgovoi in der „Pravda“ (27. Juni, 1995) [4, S. 222 ff, FN 53).
Somit sind die Darstellungen von Zeitzeugen auch immer mit einer gewissen Skepsis zu beurteilen, da die „kollektive Erinnerung“ auch gewissen Schwankungen unterworfen ist.
Kontext:
Die Entwicklung der Krise wurde sehr stark durch die strikte Geheimhaltung der Pläne, sowjetische Truppen und Atomwaffen auf Kuba zu stationieren, beeinflußt. Und aus der gegenseitigen Fehlwahrnehmung resultierte dann folgende Situation: „Thus was the world brought to the brink of a nuclear war through an escalating series of steps that appeared fundamental defensive to all parties concerned“. (1, S. 20)
Diese Situation von Entscheidungen in Unkenntnis der Intentionen der Gegenseite trifft erstaunlicherweise sowohl für JFK und seinen Beraterstab zu, wie auch für die sowjetischen U-Boot-Männer, die im Rahmen der Krise agieren sollten.
Die unbedingte Geheimhaltung führte im Ablauf der Krise zu einer Reihe von gravierenden Fehlentscheidungen, die sich in der konzeptionellen Planung von "Anadyr" und der operativen Umsetzung gravierend auswirkten.
In der sowjetischen Planung war ursprünglich die Stationierung von U-Booten der Golf-Klasse geplant, die jedoch Ende September verworfen wurde, da die notwendige Infrastruktur für diese Klasse auf Kuba nicht fertiggestellt werden konnte.
Stattdessen wurden die konventionellen U-Boote aus den Beständen der Nordmeerflotte geschickt, die nicht für den Einsatz im Atlantik geeignet waren und zudem nicht tropentauglich umgerüstet worden sind. Manche vermuten, das Chruschtschow selber nicht wußte, in welchem Umfang die ursprüngliche Planung reduziert worden ist und lediglich konventionelle U-Boote geschicht worden sind. (5,S. 239). Ein extrem wichtiger Aspekt, auf den noch bei der abschließenden Beurteilung zurück gekommen werden soll.
Unmittelbare Auftrag/Befehle
Die unmittelbare Auftragssituation bzw. die Befehle sind ein wenig „dubios“ und vor allem 3. Erscheint plausibel, der deutlich macht, dass der A-Waffen-Einsatz durch Moskau angeordnet werden muss. Dieser Aspekt ist bei Chain of Command noch zu betrachten.
Die Nutzung von A-Waffen zur Selbstverteidigung entspringt wohl eher dem damaligen Verständnis der sowjetischen Doktrin während der Phase der Herrschaft von Chruschtschow, die auf eine Verringerung der konventionellen Streitkräfte abzielte und dafür die deutlich aktivere Nutzung von taktischen A-Waffen als „normale“ Waffen auf dem Schlachtfeld präferierte. Man hielt aus sowjetischer Sicht, einen atomaren Krieg als offensiven Krieg für möglich. Vor diesem Hintergrund sind die „persönlichen“ Bemerkungen von Vize-Admiral Rassokha wohl zu interprtieren.
„Ryurik Ketov remembers more specific instructions: The only person who talked to us about those weapons was Vice- Admiral Rassokha. He said, ‘Write down when you should use these. . . . In three cases. First, if you get a hole under the water. A hole in your hull.19 This is the first case. Second, a hole above the water. If you have to come to the surface, and they shoot at you, and you get a hole in your hull. And the third case – when Moscow orders you to use these weapons’. These were our instructions. And then he added, ‘I suggest to you, commanders, that you use the nuclear weapons first, and then you will figure out what to do after that.’20“ (5, S. 240)
Diese Problematik der Nutzung von A-Waffen thematisiert Savranskaya indem sie schreibt:“ „Conventional weapons could be used on the orders of the Commander- in- Chief of the USSR Naval Forces, and the nuclear weapons could be used only on special orders from the Defense Minister.21 This clearly seemed to contradict the instructions recalled by Ketov. „ Und diese Sicht entspricht auch der Darstellung von Mozgovoi und widerspricht damit überzeugend der Darstellung von Ketov (5, S. 240)
Equipment und Befehle:
Die 4 Foxtrots erhielten jeweils einen atomaren Torpedo, der eine Reichweite von ca. 11 Kilometer hatte. „ The four Foxtrot submarines sent to Cuba were among the first – if not the very first – in their class to carry nuclear torpedoes as part of their ammunition. (5,S. 239). Dabei kann man nur spekulieren, warum diese Bewaffnung erfolgte. Bei Nikita ergibt sich jedoch ein Hinweis, dass auch die Il-28 Bomber, die ebenfalls atomare Waffen tragen konnten, für den europäischen Einsatz über feindlichem Gebiet veraltet waren. Dennoch konnten sie, ähnlich wie die Foxtrotts, nahe der eigenen Linien agieren und eines der Ziele der sowjetischen Truppen auf Kuba, die Verhinderung einer US-Invasion, helfen zu vereiteln (6, S. 494).
Diese Sicht wird m.E. noch dadurch unterstützt, dass es keine direkten Anweisungen für den Einsatz der A-Torpedoes während der Überfahr nach Kuba gab. Dennoch: „Another puzzle regarding the Cuban submarine mission concerns the manner in which the nuclear torpedoes would have been used. According to the commanders, no specific instructions were given about the use of the nuclear torpedoes.“ (5,S. 239).
Wahrscheinlich sollten sie mit ihrer rudimentären atomaren Bewaffung den Ausfall kompensieren, der durch das Zurückhalten der ursprünglichen Atom-U-Boote entstand.
Chain of Command
Der Einsatz der atomaren Torpedos unterlag einer strikten Kontrolle, die eine individuelle Fehlentscheidung erschwerte. Der spezielle für die A-Waffen abgestellte Offizier hätte diese Waffen nur freigegeben, sofern er einen entsprechenden Auftrag durch Moskau erhalten hätte.
„Each nuclear torpedo had a special officer assigned to it, who stayed with it throughout the journey, and even slept next to it. He was in charge of maintaining the torpedo, and had one set of keys, which were necessary to load it. He was also the one responsible for assembling the torpedo for combat use if such an order had been received from Moscow“ (5,S. 239).
Insgesamt waren 3 Schlüssel an Bord vorhanden, die alle drei genutzt werden mußten, die A-Waffe scharf zu machen und abzuschießen.
Ablauf
Die Überfahrt war für die U-Boote und vor allem für die Besatzungen „extrem“. Es gab viele technische Ausfälle, teilweise herrschten an den „kältesten“ Stellen im Boot ca. 42 Grad und die Besatzung kippte reihenweise um. Durch die unbedingte Geheimhaltung konnte nur selten auf Sehrohrtiefe gegangen werden, um die Batterien aufzuladen und mit Moskau zu kommunizieren.
Das betrifft dann auch den zentralen Aspekt, der nach der Heimkehr relevant werden sollte. Die U-Boote sollten in völliger Heimlichkeit nach Kuba kommen. Ein Bemerken oder Aufbringen durch die US-ASW wäre aus der Sicht der sowjetischen Marine, eine Verletzung ihrer Befehle gewesen. Denn diese waren, anders wie bei der Nutzung der A-Waffen, an diesem Punkt sehr eindeutig!
„The worst fear of a submarine captain, according to the testimony of all four captains, was to be discovered and brought to the surface by an enemy ship. Not only was a discovery seen as utter humiliation, but even more importantly, it was a violation of their orders, which could bring severe consequences upon their return to the Soviet Union. The situation was made worse by the fact that Moscow did not inform the captains about the developing situation, only giving them a general outline of the crisis..“(5, S. 242)
Die entsprechenden Informationen erhielten die U-Bootkommandanten dann auch nicht durch Moskau, sondern durch den amerikanischen Rundfunk. In den Interviews mit den U-Bootkapitänen beteuerten diese, dass sie ohne einen direkten Befehl aus Moskau, die atomaren Torpedoes nicht abgefeuert hätten. (5, S. 244)
In diesem Kontext kam es zwischen den ca. 180 US-Booten und den 4 Foxtrotts zu gefährlichen Situationen, wobei die US-Navy, nachdem einzelne U-Boote zum auftauchen gezwungen worden sind, diese ausgesprochen aggressiv mit amerikanischen Jazz „bombardierten“ und somit den Russen ersichtlich wurde, dass sie nicht im Krieg mit den USA sind. (5, S. 246)
Nachträgliche Bewertung
Für die sowjetischen Besatzungen ergab sich nach ihrer Heimkehr in der Tat ein Nachspiel im Rahmen einer Untersuchung. Vor allem wurde ihnen vorgehalten, dass sie ihren Auftrag der Geheimhaltung verletzt hätte. Die Kommandanten verteidigten sich dahingehend, dass sie durch Materialverschleiß gezwungen waren, aufzutauchen. In diesem Kontext erstaunen die Hinweise, dass die Spitze des Verteidigungsministerium, die involviert waren, die technischen Möglichkeiten der 4 Foxtrotts nicht kannten bzw. nicht verstanden hatten und man ging teilweise von Atom-U-Booten aus, die von den Kommandanten geführt wären.
Sie wurden aber nicht offiziell wegen der Nicht-Nutzung der A-Waffen kritisiert. Dieses waren wohl eher „informelle“ Stimmen – dummköpfige Hardliner - die den Einsatz von A-Waffen wohl gerne mal ausprobiert hätten. Diese Sicht war aber nicht mehr die offizielle Sicht des PB, die die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation erkannt hatte und diese reduzieren wollte. Allerdings auch weiterhin den Verbündeten schützen wollten (1, S. 22)
Die reale Krise ging somit weniger durch die A-Waffen als solche aus, sondern dadurch, dass die U-Boote in eine extreme Situation geschickt worden sind, die menschliches Versagen aufgrund von Materialmängelnd möglich macht, wie Schlosser das für die USA – u.a. – gezeigt hat. (7)
Resümee:
„One has to ask a counter-factual question: what would have happened if the Soviet captains by intention or accident used their nuclear torpedoes? We have grounds to believe that the US would most likely have made a nuclear counter-response.51“ (5, S. 251)
Und in diesem Sinne haben sich die sowjetischen Kapitäne durchaus diszipliniert und verantwortungsvoll verhalten.
1.Blight, James G.; Allyn, Bruce J.; Welch, David A. (Hg.) (2002): Cuba on the brink. Castro, the missile crisis, and the Soviet collapse. Rev. for the fortieth anniversary. Lanham, Md.: Rowman & Littlefield Publishers.
6. Chruschtschow, Nikita S. (1971): Chruschtschow erinnert sich. Hamburg: Rowohlt.
4.Fursenko, Aleksandr; Naftali, Timothy J. (2001): "One hell of a gamble". Khrushchev, Castro, and Kennedy, 1958 - 1964. paperback ed. New York [u.a.]: Norton.
5.Savranskaya, Svetlana V. (2005): New Sources on the Role of Soviet Submarines in the Cuban Missile Crisis. In: Journal of Strategic Studies 28 (2), S. 233–259.
7.Schlosser, Eric (2013): Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit. München: C.H.Beck.