@Eumolp
Das ist ja genau der Grund, weswegen man von einem "dunklen" Zeitalter spricht. Die Neuzeit, die Errungenschaften der Antike im Blickfeld, deren Weiterentwicklung, Wiederentdeckung, Fortführung usw. sie als ihre Aufgabe ansah, blickte auf das Mittelalter als das "bloß" dunkle, düstere Zeitalter, den bloßen mittleren Zeitabschnitt zwischen Antike und der (jetzigen) Neuzeit herab. Dass daher medium aetavum, mittleres Zeitalter, Mittelalter kommt, schäme ich mich ja, aufgrund allgemeiner Kenntnis zu sagen. Düster deswegen, da ja angeblich die Errungenschaften der Antike in Vergessenheit gerieten, die ja angeblich allein die Neuzeit wiederbelebt hat. Es ist ein etwas einfaches Spiel, genau diejenige Argumentation zu wiederholen, die zu derartigen Wertungen geführt hat.
Ich brauche ja gewiss nicht darauf aufmerksam zu machen, dass bereits 1050 Sonnenfinsternisse präzise zu errechnen waren, Thomas v. Aquin sein Lebenswerk dem Versuch gewidmet hat, Aristoteles&co mit der herrschenden kanonischen Lehre in Einklang zu bringen, die Staatstheorien von Machiavelli, Dante, Marsilius, Duns, Ockham undundund von heute noch bestechender Brillianz sind. Warum würdigst Du all diese und weitere zahlreiche Erkenntnisse herab?
Woher nimmst Du die Gewissheit, das Sprachniveau habe abgenommen? (Persönliches Interesse)
Dass die Weisheiten der Antike (einstweilen) geschleift worden sind(allerdings erst später), hat seinen Sinn. Dass sie im FRühmittelalter wegen der Völkerwanderung und ihrer Wirren schlicht in Vergessenheit geraten mussten, ergibt sich ja von selbst. Wer um sein Leben bangen muss, hat keinen Sinn für Kultur. Zum einen ist zu fragen, warum die dann wiederentdeckten Weisheiten geschleift worden sind und warum dies geschehen musste. Die Antwort der Soziologie ist folgende: Eine Gemeinschaft lässt sich nur durch äußerlich beobachtbares, gleichartiges Verhalten erkennen. Dieses Verhalten und damit die Gemeinschaft selbst entsteht dadurch, dass die Menschen ihr Verhalten an mitteilbaren Verhaltensmaßregeln, die demzufolge trans- und intersubjektiv sind, ausrichten. Die Gemeinschaft bildet "integriert" sich stets von neuem durch steten Vollzug dieser Regeln. Dass solche sinngebende Regeln notwendig sind folgt zum einen aus der mangelnden, instinktiven Vorgegebenheit des Menschen, aus der auch der innere Wunsch herrührt, bei Betrachtung der Umgebung nicht bloße fragmentarische Kausalverläufe registrieren zu wollen, sondern das Ganze in einen größeren Sinnzusammenhang einordnen zu können. Ansonsten ist eine Welt nicht "begreifbar". Ich will mich jetzt aber nicht näher über Reizüberflutungen, Begriffsbildungen und mangelnde Greifbarkeit der "psychischen" Ebene auslassen.
Wie dem auch sei, eine gemeinsame Weltanschauung bietet all diese Vorteile: Sinngebend, integrierend. Daher das Christentum als Staatsreligion. Dass alles, was diese integrierende Kraft beseitigen könnte, entfernt werden musste, ergibt sich von selbst. Das ist aber keineswegs irgendwie "dumm", sondern scheint schlicht und ergreifend schon von Frühzeit an einen Selektionsvorteil geboten zu haben (siehe mangelnde, instinktive Vorgegebenheit) und den Bedürfnissen der Menschen entgegengekommen zu sein (und es auch heute bedauerlicherweise noch zu tun).
Ich weiss, jetzt kommt Hexen&co. Dazu folgendes: Erst die aufkommende Neuzeit hat die Ideologietheorie erfunden: Wenn und solange A sich als richtig erweist, ist B falsch. Hänge ich B an, so bin ich entweder im Irrtum, oder ein Blender. Die Notwendigkeit, mich entweder zu bekehren (wir wissen ja, es ging nicht darum, Menschen zu vernichten, sondern die unsterblichen, verlorenen Seelen zu retten) oder, bedrohe ich besagte integrierende Einstellung, zu beseitigen, ergibt sich zwanglos. Nicht umsonst ergibt sich so in gewisser Weise zwanglos in späteren Zeitaltern die Notwendigkeit von Guillotine, Konzentrationslager etc.
Ich möchte dazu folgendes sagen: Die Wirkungsweisen von Sternen(siehe die Sonnenfinsternisberechnungen), Arzneien, die Kenntnisse über den Gemüts- und Seelenzustand des menschlichen Körpers waren weit fortgeschritten. Nichtsdestotrotz konnte man im Früh- und Hochmittelalter in der Kirche niederknien und aufgrund derartiger Erkenntnisse nicht den Glauben in Frage stellen. Im Mittelalter galt: sowohl A, als auch B konnten gleichzeitig wahr sein, auch wenn sie sich gedanklich zu 100% ausschlossen. Wenn es wirklich etwas mittelalterliches am Mittelalter gegeben haben sollte, dann dieser Pluralismus. Erst in der neuzeit ist dieser gedankliche Sinneswandel eingetretzen und damit Fanatismus und Radikalismus. Ich möchte daher nicht hören : "mittelalter=blöd und engstirnig". Und selbst, als es dieses dann in der neuzeit gab, hatte es einen guten Sinn, siehe integrierende Anschauungen.
Über technisches Lebensniveau zu diskutieren ist, glaub' ich, müssig. Niemand würde sich wohl ins Mittelalter zurückversetzen lassen, wo es heute im hier und jetzt HartzIV gibt. Das schmälert allerdings, von Antike bis zur jüngsten Neuzeit alle Zeitalter gleichmässig. Klar, Kriegszeiten sind immer noch ungünstiger. Zu meiden ist das FRühmittelalter gewiss, will man nicht mit einer erschreckend hohen Wahrscheinlichkeit jedem Tag dem Tod ins Gesicht blicken. Ab 900 allerdings, wo die Staatsgewalt annähernd funktionierte, greifen diese GRünde nicht mehr. Nun erhebt sich die Frage, ob man allein auf technischen Schnickschnack und Fertigkeiten abstellt, oder ob das Glücksgefühl des Menschen das Entscheidende ist.
Ich persönlich würde beispielsweise das Frankreich Ludwigs des 14 meiden wollen, trotz der hohen Blüte der Künste und des höfischen Lebens, denn: In Anbetracht des Revokationsedikts von Fontainebleau bei Äussern einer anderen meinung als galeerensklave in das Loch gesperrt zu werden, durch das der Unrat der Mannschaft floß, das Land belegt mit einem Auswanderungsverbot usw, erscheint mir da als die größere Barbarei. Da ziehe ich das Hochmittelalter definitiv vor. Bekannte weitere barbareien aus der neuzeit aufzuzählen, erspare ich mir mal. Auch das römische Reich hat diesbezüglich Phasen gehabt(wo Du ja die Antike so liebst), in denen trotz Kunst&Kultur das Leben aus ebensolchen GRünden oder Kriegen nicht immer angenehm gewesen sein mag, die kurze Zeit der wenigen, aufeinanderfolgenden, netten Kaiser und die mittleren REpublikzeiten mal ausgenommen. Da war es gewiss auch ganz nett.
Es ist nicht immer das Lebensniveau, die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, auf die es ankommt. Auch die Begleitumstände sind zu berücksichtigen.
In diesem Sinne, besten GRuß:winke:
und PS: klar ist es eine Wertung. Und ja, ich beziehe mich mal auf "Schubert, Ernst: Alltag im Mittelalter". Der ist relativ gut und hat so einige, spannende, provokante Thesen!