Eberhard Kolb, Der Weg aus dem Krieg - Bismarcks Poilitik im Krieg und die Friedensanbahnung 1870/71.
Hier lassen sich mehrere Stränge verfolgen:
a) die Annexionsfrage in der öffentlichen Meinung, in den Jahrzehnten vor 1870, dann 1859/60 in Bezug auf Napoleon III im "Bündnis" mit der italienischen Nationalbewegung.
aa) mit rein nationalistischer Argumentation
ab) nationalistisch mit dem dem Aspekt der Vorfeldsicherung gegen eine Invasion
[ist wohl allgemein bekannt]
b)
die Annexionsfrage bei Bismarck, ab August 1870 (das Kriegsziel wird durch die Kriegsursache nur zum Teil bestimmt. ... Der Sieg übt durch seine Betätigung der rechtbildenden Macht auch eine Recht bildende Kraft aus." (Bluntschli)
Eine in den 1960ern vertretene, streitige These, die öffentliche Meinung habe die Annexionsfrage zunächst nicht beachtet, diese sei durch Bismarck angeheizt worden (deutsche und englische Presse), kann man wohl ad acta legen; ebenso die Gegenthese, Bismarck der innere Führungszirkel oder Teile davon hätten der Annexion kritisch gegenüber gestanden bzw. diese abgelehnt.
Die öffentliche Meinung bildete sich vielmehr in allen Gebieten (einschl. Norddeutschland) recht schnell im Juli 1870 auf der Basis der nationalen Diskussion 1859/60, der nächste Krieg mit Frankreich müsse diese Annexionen bringen. Die Besorgnisse im Süden wurden durch Invasionsgefahren angeheizt, auch Befürchtungen vor dem Erscheinen afrikanischer Truppenkontingente, wie aus den Zeitungen hervorgeht. Annexionsforderungen bezogen sich durchweg auf "Deutsch-Lothringen". Speziell im Süden wird in den Juliwochen sogar von Panik gesprochen.
Bei Bismarck taucht die Annexionsfrage unmittelbar nach den Siegen bei Wörth und Saarbrücken auf, am 7. August 1870, sodann in mehreren Quellen über den ganzen August 1870. Hier wurde die Perspektive des militärischen Sieges greifbar, somit die des "Siegespreises". Mit unterschiedlichen Formulierungen kündigte Bismarck insbesondere am folgenden 10., 11., 13. und 15. August Forderungen nach Gebietsabtretungen an, daneben gegenüber der englischen Presse am 21.8.1870. An diesem Tag ist neben früheren Formulierungen von "Elsaß", "Straßburg und wahrscheinlich Metz" oder "Straßburg und Metz" auch von "Deutsch-Lothringen die Rede, sowie "des fortificatorischen Vorfeldes von Metz". Aus den Quellen können nach Kolb zwei Schlüsse gezogen werden:
- Bismarck ging von Axiom der Unversöhnlichkeit Frankreichs nach diesem Krieg aus, im Vorfeld der Annexionsfrage (iS einer Ursachen-Wirkungsbeziehung)
- das Argument der Sicherung der süddeutschen Staaten wurde von ihm in der Diskussion aktiv verwendet (zB im Kriegsrat 14.8.187[1]0!), um die territorialen Forderungen als Kriegsziel zu untermauern. Mit Entschlossenheit wurden von ihm dabei Forderungen zurückgewiesen, die einen Glacisstaat nach dem Vorbild von Belgien zum Ziel hatten. Dieses Gedanken finden sich nach Kolb auch in dem von Bismarck konzipierten Handschreiben König Wilhelms an Zar Alexander vom 31.8.1871, um russisches Einverständnis bzw. eine tolerierende Haltung zu erlangen.
Der Umfang der vorzunehmenden Annexionen war bei Bismarck wohl variabel anzusetzen; nach einer Äußerung vom 6.9.1870 setzt er den Umfang noch in Abhängigkeit von den Verhandlungen und den "Umständen". Auch einige Details sind unsicher: Bismarck ließ im September vom Auswärtigen Amt die Angliederung des südlichen Elsaß an die Schweiz sondieren.
Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass Kolb die These bzw. ältere Diskussion zurückweist, dass die Annexionsfrage bei Bismarck innenpolitisch motiviert gewesen sei ("Hauptmotiv"). In den Organisationsanweisungen Bismarck ist zudem schon im August 1870 der Ansatz der "Reichsland-Konzeption" angedeutet. Kolb schließt damit ab, dass dieses "Sicherheitsverlangen" im August 1870 im Führungszirkel "eruptiv" in Erscheinung getreten sei.
[siehe oben, S. 113-167]