I. Zum Diskussionsverlauf ab #70 (damit ich mich nicht verirre...)
Ausgangspunkt des Teilaspekts, um den es hier geht, war dieser Beitrag:
Wie groß wäre denn der Wert Elsaß-Lothringens als militärische Pufferzone zwischen Frankreich und Deutschland? Zur Zeit, als den er Versailler Vertrag verfasst wurde sollen vor allem Kohlevorkommen im Land als interessant angesehen worden sein. [Zitat aus Wikibooks:] "Und so kam es, dass es in Artikel 27 des Versailler Vertrages hieß: 'Die Grenze [mit Frankreich] vom 18. Juli 1870 von Luxemburg bis zur Schweiz [...]'. Dort war Elsass-Lothringen nicht mehr mit eingeschlossen, der Zankapfel wechselte abermals den Besitzer - größtenteils wegen des Interesses beider Staaten an den dort existenten Kohlerevieren."
Zu der (von mir) unterstrichenen Passage ging es dann so weiter:
[#71 Repo] Kohle in Elsass-Lothringen? Verwechselst Du da etwas?
[#74 Repo] Wiki schwächelt übrigens bei den Elsass-Lothringer "Kohlenrevieren."
[#75 Dumbaz] D.h. die Information ist nicht zutreffend?
[#76 silesia] Ja, sie ist unzutreffend. Gemeint sind vermutlich die Stahlproduktion und Erzvorkommen Lothringens, die hier mit Kohle verwechselt worden sind.
An dieser Stelle, d.h. zur Frage der ökonomischen Begründung des französischen Interesses an Lothringen 1918/19, wollte ich auch mitmischen und verwies auf die Bedeutung der lothringischen Kohlenförderung (#77), die von silesia wiederum stark relativiert wurde (#78).
B. Zur Entscheidungssituation 1919
Die Angliederung von Elsaß-Lothringen zu Frankreich war ein wesentliches Kriegsziel. Wenn man das ökonomisch etwas näher betrachtet, wird klar, dass sich Frankreich damit zugleich ein Importproblem aufladen würde: Elsaß-Lothringen verfügte über eine Stahlindustrie, deren "Kohlebedarf" eine Lücke von ca. 5-7 Mio. Jahrestonnen nach sich zieht. Die Kohle hätte entweder importiert werden müssen, oder die Bedarfsdeckung hätte sich aus einem angegliederten Saargebiet schließen lassen. Das Problem verschärft sich, wenn man die bereits bestehende Kohlelücke aus den Vorkriegsverhältnissen für Frankreich mit in die Überlegungen einbezieht. Meine Frage ist nun, ob diese "Kohlelücke" sich in den französischen politischen und ökonomischen Überlegungen zur Angliederung des Saarlandes (nach dem I. oder Ii. WK) wiederfindet, quasi als Folge zur Rückgliederung von Elsaß-Lothringen? Gibt es dazu Literatur?
Um mit der letzten Frage anzufangen: Es gibt aus neuerer Zeit z.B. die Dissertation von Rolf E. Latz "Die Enwicklung der Schwerindustrie des Saargebietes während des Völkerbundregimes 1920 bis 1935" (GHS Kassel 1978), welche auch die Vorkriegszeit mit einbezieht. [1] Ich versuche mal eine Zusammenfassung, wobei einiges zwangsläufig Wiederholungen sind (Seitenangaben: Diss.). [2]
1. Frankreich war traditionell ein Kohlenimportland. 1913 wurden 22 Mio t Kohle und 3 Mio t Koks importiert (S. 72), die Kohle aus England, Belgien und Deutschland, der für die Roheisenerzeugung benötigte Koks vor allem von der Ruhr; die deutschlothringische und saarländische Kohle war für die Verkokung erheblich weniger geeignet (S. 25,28). Für jede Tonne Roheisen, die in Frankreich (und anderswo) produziert wurde, waren 3 Tonnen Koks erforderlich. (Entsprechend mehr an Kohle, wie silesia schon erwähnte.)
2. Um sich aus dieser Abhängigkeit wenigstens teilweise zu lösen, war französischerseits die Übernahme der deutschlothringischen Kohlenförderung eine pure Selbstverständlichkeit; die Förderkapazität hoffte man rasch steigern zu können, was auch tatsächlich geschah (bis 1926 immerhin schon um mehr als 40%, S. 238)
3. Um die Kohlen-Lücke noch weiter zu schließen, wurde im VV das Eigentum an den staatlich-preußischen Saargruben für die Dauer der "Saargebietszeit" an den französischen Staat übertragen.
4. Gleichzeitig vergrößerte sich die Lücke aber wieder, weil mit dem VV auch die deutschlothringische Eisen- und Stahlerzeugung an Frankreich fiel. "Die Angliederung Elsaß-Lothringens erhöhte das Koksdefizit auf 7 Mio t und das Kohlendefizit auf 30 Mio t." (S. 72). Die Saargruben verminderten "nur" das Kohlendefizit, nicht aber das Koksdefizit. (ebd.)
5. Durch die Übernahme der deutschlothringischen Eisen- und Stahlwerke drohten zugleich Überkapazitäten auf dem (gesamt)französischen Markt. Wichtig: Die Lothringer hatten 1913 70% ihrer Produktion nach Deutschland verkauft und über 80% ihres Kokses von der Ruhr bezogen! (S. 103)
6. Dies erkennend, forderte die altfranzösische Schwerindustrie anläßlich der Formulierung der Kriegsziele vorsorglich die Abtrennung Deutschlothringens durch eine Zollgrenze (!), weil sie zu Recht fürchtete, "daß die leistungsfähigeren und besser organisierten deutsch-lothringischen Werke den französischen Stahlmarkt überfluten und damit förmlich zerstören würden" (S. 70), zumal der Stahl-Absatzmarkt Deutschland ja aus mehreren Gründen wegfiel! [3]
7. Die französischen Politiker wollten sich zu einem derartigen Schritt aber nicht verstehen. "Anstatt eine klare Konzeption vorzulegen, vertrauten sie dem Genie der französischen [Stahl-]Industriellen" (S. 73; der "Genie"-Gedanke wurde schon früh, 1916, lanciert.)
Die Schwerindustrie betreffend, hatten die politischen Entscheidungen des Jahres 1919 in Frankreich also z.T. mit ökonomischer Rationalität weniger zu tun; sie waren überwiegend von der Maxime bestimmt, Deutschland ökonomisch zu schwächen. - Soweit mein Zwischenbericht.
[1] Teile davon später auch als Buch u.d.T. "Die saarländische Schwerindustrie und ihre Nachbarreviere (1878-1938)", Saarbrücken 1985.
[2] Siehe auch das Zahlenwerk in
http://www.geschichtsforum.de/342752-post14.html, welches ich nicht mit den Latzschen Angaben abgeglichen habe.:rotwerd:
[3] Jenes Zollgebiet wäre beinahe so etwas wie ein "ökonomisches Glacis" gewesen...