Um den Thread thematisch abzuschließen, ein paar weitere, kursorische Überlegungen zur Doktrinenbildung in der Interkriegsperiode.
Wann ist eine Doktrin angemessen und wie kann man beurteilen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nicht adäquat formuliert ist. Dazu soll eine a priori Annahme formuliert werden: Eine militärische Doktrin ist dann angemessen, wenn sie den Mitteleinsatz so koordiniert, dass ein militärisches Ziel erreicht wird. Das Ziel kann sich auf die Vernichtung eines Gegners fokussieren oder auf eine andere Zielsetzung. Ein partieller militärischer Erfolg entspricht demgemäß der partiellen Angemessenheit einer Doktrin.
Dieses soll die Prämisse sein, anhand derer die Angemessenheit der Doktrinenbildung des Heeres und der Marine in der Interkriegsperiode ansatzweise verglichen werden soll. Auch um die Angemessenheit der Kritik an der Führung der Marine zu beleuchten.
Die entsprechenden Untersuchungen, eingeleitet durch Seeckt, zur Einschätzung der Ursachen der Niederlage im Nachlauf des WW1 führten zu einer weitgehenden Bestätigung der offensiven Militärdoktrin der kaiserlichen Armee und der Persistenz als strategische Leitlinien in der Reichswehr. Dieses Überzeugung drückt sich in der Formulierung von Bernhardi aus, die Art der Kriege verändern sich, aber nicht ihre grundsätzlichen Gesetze (vgl. Bernhardi: Vom Krieg der Zukunft, S. 1)
Diese Sichtweise der Reichswehr mit der offensiven Ausrichtung der Armee stand im deutlichen Gegensatz zur defensiven Doktrin der Landkriegsführung der französischen Armee (Hughes: To the Maginot Line). Diese Orientierung erklärt sich zum Teil aus dem weiterhin bestehenden Problem eines drohenden Zweifrontenkriegsführung gegen die Mittelmächte (Polen, CSSR bzw. gegen Frankreich etc.) und der Notwendigkeit einer schnellen Niederwerfung eines der Gegner.
Im Wesentlichen wurde diese Präferenz einer mobilen, offensiven Kriegsführung durch das erweiterte Spektrum der technischen Mittel, die in der Endphase des WW1 an Bedeutung gewonnen haben, dem Panzer und dem Flugzeug. Dabei schrieb man dem Panzer eher die Funktion zu, im rückwärtigen Bereich Terror und Konfusion zu verbreiten (Bernhardi: Vom Krieg der Zukunft, S. 37). Und in der Folge differenzierten sich in Bezug auf dieses Thema drei unterschiedliche Lager in Bezug auf die eigenständige Bedeutung der neuen Waffenarten (in Bezug auf die Bedeutung der Panzer). Die Kavallerie-Apologeten, eine Mischgruppe und die Befürworter einer eigenständigen Panzerwaffe. Dennoch blieb in der gesamten Interkriegsphase die Infanterie die zentrale Größe im taktischen bzw. operativen Denken und die anderen Waffengattungen, einschließlich der Panzertruppe, erhielten lediglich Hilfsfunktionen.
Welche grundsätzlichen Überlegungen trennten diese rivalisierenden Positionen? Dazu ist es hilfreich die Frage aufzuwerfen, mit welchen Anforderungen die Technik und die Doktrinen der Kriegsführung in der Endphase des WW1 ohne überzeugende Antwort konfrontiert worden sind. Es ist im Wesentlichen die „Geschwindigkeit“ und die „Tiefe“ von Operationen auf der Ebene operativ definierter „Theater“(vgl. Guderian: Achtung Panzer). An dieser Hürde einen operativen Erfolg zu erzielen, sind die Einsätze der alliierten Panzervorstöße am deutlichen gescheitert. Dass es daneben noch eine Reihe von Problemen auf der taktischen Ebene gab, einen Durchbruch durch die gegnerische Front zu erzielen, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
Die Entwicklung der Aufstellung der Panzerverbände und ihre Doktrinenbildung verlief in der Reichswehr bzw. WM nicht ohne Konflikte. Nehring (Nehring: Die Geschichte der deutschen Panzerwaffe) kennzeichnete ihre Rolle als neue Streitkraft, mit unverhohlener Selbstironie als „Parvenü“, der es wagt, in die Reihen der etablierten Waffengattungen einzubrechen versucht. Neben der inhaltlichen Konflikten primär zwischen Beck und Guderian mag es auch auf der Ebene der zwischenmenschlichen Kontakte, auch zwischen diesen beiden Personen, zu konfliktreichen Situationen gekommen sein (Corum: (The Roots of Blitzkrieg) zeichnet ein ausgesprochenes „Ekelpaket“, wenn er Guderian als Mensch bzw. Militär in der Durchsetzung seiner Ziele beschreibt).
Die Richtung der Beeinflussung bei der Doktrinenbildung ist im Einzelnen schwer zu belegen. Eine deutliche Wahrnehmung durch die deutschen Panzermänner liegt auf der Ebene von Fuller vor. Corum weist darauf hin, dass Liddel Hart keine direkte Zitierung erfährt und auch nicht Martel (Corum: The Roots of Blitzkrieg). Nehring weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von de Gaulle erst Mitte der dreißiger Jahre durch die „Panzermänner“ stattgefunden hat, also zu einem Zeitpunkt, in dem die zentrale konzeptionelle Tätigkeit bereits durchgeführt worden ist (Nehring: Die Geschichte der deutschen Panzerwaffe).
Interessant ist der Kontakt der Reichswehr-Offiziere mit Offizieren der RKKA. Schukow besuchte bspw. Vorlesungen von Seeckt in Deutschland und Model kam, laut Nehring, durchaus von der RKKA beeindruckt 1931 aus Kazan zurück. Zu diesem Zeitpunkte hatte Tuchatschewski, Triandafilow (The Evolution of Soviet operational Art, Vol. 1und Triandafilov: The Nature oft he Operations of modern Armies) und andere geradezu revolutionäre Beiträge zur Landkriegsführung im Rahmen der mechanisierten „Deep-Battle“ verfasst. Auch in Wahrnehmung und dann auch in Ablehnung der Thesen von Fuller (Tukhachevskii: Preface to J.F.C. Fuller`s The Reformation of War, in: Deep Battle. Simpkin & Erickson Eds) gab es eine übereinstimmende Rezeption der Thesen von Fuller durch die WM und die RKKA.
Mitte der dreißiger Jahre erfolgten die ersten Manöver unter Berücksichtigung der neu gebildetetn drei Panzerdivisionen der Wehrmacht, in denen die taktische Leistungsfähigkeit der Panzerdivisionen unter Beweis gestellt wurde, aber auch ihre Defizite und Beschränkungen. Und so formuliert Nehring als Resümee der großen Sommermanöver auf der einen Seite die erfolgreiche Darstellung des Potentials der Panzerwaffe aber auch die Wahrnehmung: „Erschreckend war die ablehnende Haltung gegenüber der Panzertruppe - …bei einem Teil der Generalstabsoffiziere“ (Nehring: Die Geschichte der deutschen Panzerwaffe, S. 94).
Eine Haltung, die im Polenfeldzug und auch vor allem im Westfeldzug zu einer Reihe von Mißverständnissen zwischen den konservativen, nicht panzerorientierten Armeeführungen und den Führern der Panzerdivisionen führte. Und aufgrund der Angst vor einer Bedrohung der offenen Flanken zu wiederholten Haltebefehlen für die weit vorausgeeilten Panzerdivisionen führte.
Und genau an diesem Punkt soll versucht werden, die eigentlich nicht geführte Diskussion über die Doktrin des Einsatzes der Panzerverbände anhand der Operation Barbarossa thesenhaft zu illustrieren (wohlwissend, dass die Argumentation bruchstückhaft ist)
Bei der Planung der Operation Barbarossa steht im Mittelpunkt der Diskussion die Widersprüche in der strategischen Sichtweise zwischen dem OKW und der OKH und damit die Frage, Moskau als primäres militärisches Ziel oder der Kaukasus bzw. die Ukraine als militärökonomisches Ziel. Diese Diskussion verdeckt die schwelende Diskussion über die Art der operativen Kriegsführung vor allem in der Form des Einsatzes der Panzerwaffe.
Dieser Aspekt tritt in Kombination mit der Tiefe des Kriegsschauplatzes auf. Betrachtet man die Geschwindigkeit des Vormarsches, dann erreichte die WM nach ca. 5 Tagen Minsk, nachdem sie die harten Grenzschlachten erfolgreich gemeistert hatte (Glantz: The initial Period of the War on the Eastern Front)
Für die etwa gleiche Strecke nach Smolensk benötigte sie bereits 3 Wochen (Liddel Hart) (Liddel Hart: Deutsche Generale des Zweiten Weltkriegs, S. 155)und an diesem Fakt wird deutlich, in welch hohem Maße bereits das Momentum des Begins verloren gegangen ist. Was hat aber zu dieser Situation geführt?
Die These ist, dass die „Blitzkrieg-Doktrin“ auf der Ebene ihrer taktischen Umsetzung noch weitgehend konsensual interpretiert wurde und auf der Ebene ihrer operativen Interpretation bestanden gravierenden Unterschiede
Die Ursache für diese unterschiedliche Beurteilung des Einsatzes der Panzerstreitkräfte liegen in dem Fortwirken der Tradition des von Moltke (senior) und Schlieffen für die deutsche Armee geprägten Denken im Rahmen von Umfassungsschlachten als universelle Militärdoktrin. (Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht, bes. S. 353).
Vor diesem Hintergrund sind die Zielsetzungen im Rahmen der Operation Barbarossa zu interpretieren, die auf eine grenznahe Umfassung und Zerschlagung der RKKA hinausliefen, um das Zurückweichen in die Tiefen des Raumes zu verhindern. In diesem Sinne liefen die Operationen der WM bzw. der Panzergruppen auf ein Konzept des Blitzkrieges als fortgesetzte motorisierte Cannae-Schlachten hinaus.
Das zentrale Prinzip war die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte, für die die Panzerdivisionen, meistens gegen den Widerstand der Panzerkommandeure, herangezogen wurden. Bei Guderian finden sich eine Reihe von Hinweisen, dass er zum „Eindrehen“ seiner Panzer angehalten wurde.
Demgegenüber steht die Guderiansche Konzeption einer „Ultra Deep Battle Doktrin“ (Liddel Hart: Deutsche Generale des Zweiten Weltkriegs, S. 155), die den Mechanismus der Vernichtung neu definiert hätte und auf einen Paradigmenwechsel der Panzertaktik im Rahmen der Landkriegsführung hinauslieft (im Stil, wie sie die Amerikaner im Rahmen der Operationen im Irak praktiziert haben). Es lief auf die Infragestellung der klassischen Vernichtung von Armeen durch Einkreisung hinaus benutzte stattdessen das eigene Momentum, um den Gegner aus der Balance zu halten und primär auf die „Lines of Communication“ abzuzielen.
Mit der Geschwindigkeit und der Tiefe des Vorstoßes der mechanisierten Einheiten kommt eine weitere Frage der Doktrinenbildung ins Spiel, die das Verhältnis zu Luftwaffe berührt. Die taktische Rolle der Luftwaffe die offenen Flanken zu sichern und somit die operative Idee des ungebremsten Vorstoßes in die Tiefe sicher zu stellen.
Beide Komponenten waren auf der Ebene der Doktrinenbildung nicht verankert, obwohl sie punktuell durchaus praktiziert worden sind. Aber nicht als verbindliche Sichtweise und aus diesem Grund konnten sie und wurden sie auch, sofern eine potentielle Gefahr aus der offenen Flanke erkannt wurde in Frage gestellt.
Dieser notwendige Paradigmenwechsel in der Doktrinenbildung wäre der notwendige Anpassungsprozess gewesen , und das sehr gewagte „Spiel um den Gewinn Moskaus“ im Rahmen der Operation Barbarossa, ohne die wirklich notwendigen materiellen Voraussetzungen, dennoch erfolgreich zu beenden. Diese radikale Neuformulierung der Panzerdoktrin war offensichtlich dem Spieler Hitler zu radikal.
Vergleicht man somit die Doktrinenbildung der Wehrmacht abschließend im Vergleich zur Marine, dann verfolgte die Armee durchaus eine innovative Konzeption für den Einsatz der Panzerwaffe, aber nicht radikal genug, wie es für das Erreichen des Ziels notwendig gewesen wäre. Insofern ist auch diese Doktrin vor den Toren vor Moskau gescheitert. Nicht zuletzt, weil der Schatten von Cannae zu lang war.