Neben dem Singen wird also die Lyra geübt, eine Erfindung des Gottes Hermes, dann aber auch der Aulos, eine Art Oboe mit weichem Klang. Denn Wohlklang dringt am ehesten in das Innere der Seele und prägt sie ihr am kräftigsten ein, indem er das Maß mit sich führt und dabei auch maßvoll macht (50). Da also das Musiktreiben wesentlich zur Bildung des Charakters beiträgt, muss es sorgsam ausgewählt werden, um nicht rohe und geschmacklose Gesänge in die Ausbildung der Knaben zu bringen. Das richtige ethische Gefühl, die Freude an tugendhaften Sitten und edlen Taten (51) - darum geht es, denn Musik regt die Sinne an, diese Reizung aber kann auf gute oder schlechte Bahnen führen. Darum bleibt auch die lydische Musik außen vor: ihr weicher Charakter mag Frauenherzen begeistern, ist aber für einen angehenden Mann nicht geeingnet. Ebensowenig förderlich fasst man die lebensfrohe Ionische Tonart auf: besteht sie doch vor allem aus Trinkliedern und anzüglichen Texten, oftmals in Verbund mit obszönem Tanz, was zu Symposien passen mag, nicht aber zur Schule. Dagegen wird der Dorische Modus gelobt: er steht in der Mitte zwischen Leichtsinn und Gedrücktheit und erzeugt daher eine gefasste Stimmung (52). Von Pythagoras wird berichtet, es sei ihm durch eine einfache Änderung der Tonart gelungen, den Liebeswahn eines Jünglings zu lindern (53), und die Treue der Ehefrauen der Krieger in Troja wurde durch die richtige Musik aufrechterhalten (54). Daran lässt sich leicht ersehen, welch göttliche Kraft in der Musik wohnt und wie sorgfältig sie zum rechten Gebrauch auszuwählen ist! So also muss man die Dorische Tonweise gelten lassen: von allen Modi strahlt er die meiste Ruhe und Männlichkeit aus (55): "in gehaltenem Ton, in gemessenem Takt, wie die Väter von jeher es sangen." (56). Falls jedoch einer versuchen sollte, aus diesem gemessenen Taktmaß auszuscheren und "aus Eitelkeit Sprünge versucht und die Lieder mit Schnörkeln verhunzt", dem droht, ganz ähnlich wie beim Grammatikos, der Stock - wie kann er denn frech an den heiligen Musen freveln? (57)
Mittlerweile ist es Nachmittag geworden; die Wangen sind schon rötlich gefärbt vor lauter Flötenblasen, was einem stilvollen Jüngling nicht wirklich ziemt (58) - da wird es Zeit für die Pflege des Körpers. Während sich Grammtik- und Musikschule nicht weit vom häuslichen Herd befinden, liegt der Ringplatz viel weiter draußen. Da es sich beim Gymnasium um ein weitläufiges Gelände handelt, ist es meist vor den Toren der Stadt angesiedelt, nur die kleineren privaten Ringschulen befinden sich intra muros. Oftmals findet sich in der Nähe ein Wasserlauf und ein kleiner Tempel, manchmal liegt auch der Grabhügel eines Helden nicht weit davon entfernt - wie etwa in Theben das Grab des Diokles, an dem sich allabendlich die Verliebten ihre Treue schwören (59).
Doch zurück nach Athen! Nun gelangt man zum Höhepunkt des Tages, wo sich die ganze Energie, aufgestaut in den kargen Räumen des Grammatikers und der Singschule, in Kampf und Agon umsetzen kann: auf den Ringplatz, der Palästra, und wenn der Sportlehrer es zulässt, zu einem kleinen Wettstreit im Diaulos (60). Sieben öffentliche Gymnasien unterhält die Stadt, von denen drei nicht nur bedeutende Sportplätze sind, sondern in späterer Zeit vor allem durch philosophische Schulen berühmt wurden, die sich in ihrer Nachbarschaft etablieren: im Nordwesten die Akademie, in deren Umkreis Plato ein Grundstück erwarb, östlich der Stadt das Lykeion des Aristoteles und seinen Nachfolgern, die sich Peripatetiker nannten, und schließlich die Kynosarges im Süden, Sitz der kynischen Philosophen, deren berühmtester Vertreter Diogenes von Sinope der Legende nach in einer Tonne lebte.
Hipponikos' Sportstätte liegt im Hain des Akademos, ziemlich weit draußen in der Nähe des Demos (61) Kolonos, Geburtsort von Sophokles. Hipparch, ein Peisistrade, hatte die Stätte während der gemeinsamen Tyrannis mit seinem Bruder Hippias gegründet, später wurde sie von Kimon, dem Sohn des Miltiades und Sieger von Marathon, erweitert, bewässert und mit einem Gymnasium versehen. Der Hain ist nach dem Heros Akademos benannt, gewidmet aber der Athena, ein heiliger Ort, berühmt durch viele Legenden, die zu regelmäßigen Leichenspielen Anlass geben (61a), auch stehen dort die zwölf heiligen Ölbäume, aus denen das Öl für die Sieger der panathenaischen Kämpfe gepresst wird. Glücklicherweise ist die Singschule vom Dipylon-Tor nicht weit entfernt. Von da aus geht es Richtung Nordwesten auf einer schnurgeraden Straße, man passiert zunächst den Friedhof Kerameikos, Doppelreihen von Grabmälern und Gedenktafeln säumen den Weg und geben ihm ein heiliges Gepräge, diesem folgt eine Vielzahl ummauerter Gärten, anschließend durchquert die Schar einen Hain heiliger Olivenbäume. "Im Schwarm kommen sie sie die Straßen daher, nach der Singschule, alle in der Ordnung, aus jeder Gemeinde, nur spärlich bedeckt, und wenn es auch Roggenmehl schneit!" (62) Doch heute, mitten im Hekatombaion (63), brennt die Sonne und die staubige Straße raubt einem beinahe den Atem. Nach zwanzig Minuten gelangt man auf dem gemächlich ansteigenden Weg schließlich an eine Mauer, hinter der sich ein weit ausladender Park mit mehreren Gebäuden verbirgt. Vor dem Eingang steht ein Altar des Eros, den Charmus (64) gestiftet hat. Eine magische Verbindung besteht zu einem Altar des Anteros mitten in der Stadt, der Erwiderung der Liebe, denn in alter Zeit hatte es einen tragischen Vorfall gegeben, der den Anlass zu dieser Verehrung abgibt: der Athener Meles hatte seinen Verehrer Timagoras als Zeichen seiner Liebe genötigt, sich einen Felsen hinabstürzen, und als dieser dem bösartigen Ansinnen tatsächlich nachkam, bemerkte er den begangenen Frevel. Ihrem Andenken wurden die beiden Altäre geweiht (65). An dieser Stelle wird das Feuer entzündet, welches für das Brandopfer der Panathenaischen Festspiele verwendet wird, von hier aus startet auch der Fackellauf der Jünglinge, denn in dieser Disziplin beweist sich die richtige Harmonie zwischen der Gier nach dem Sieg und Maß.
Die Gruppe schreitet am Altar vorbei durch das Tor direkt in jenen Park. Darin stehen Platanen und Olivenbäume, und der Boden ist mit weichem Gras bedeckt. Verschiedene Bronzestatuen sind darin aufgestellt, die Gestalten aus den Mythen darstellen: Nymphen, Feen, ja sogar Satyrn blicken die jungen Sportler an, dem Poseidon ist ein Springbrunnen gewidmet, daneben großer Altar des Prometheus, der den Menschen das Feuer gebracht hat. Eine märchenhafte Atmosphäre wie auf den Gestaden der Seligen, wo die Heroen nach dem Tode mit jährlich dreimaliger Feldfrucht beschenkt werden (66) - und obendrein ein angenehmer Kontrast zur Grammatik- und Singschule! Ein Gebäudekomplex bildet das Zentrum des Gymnasiums, die Palästra: um einen unbedachten Innenhof, dem Peristyl, dessen gelockerter Boden mit feinem Sand bedeckt ist, gruppieren sich einzelne Bauten, die den Athleten auf verschiedene Weise dienen: Wasch- und Brunnenkammern gibt es da, Räume zum Auskleiden und Einsalben der Körper (67), auch Trainingsräume sind vorhanden, sofern man bei Regen oder Schnee draußen nicht trainieren kann, weiterhin hat man ein Vortrags- und Versammlungszimmer für die Epheben eingerichtet (68), und im hinteren Teil liegt das Korykeum, worin die Sandsäcke (69) für die Faustkämpfer hängen. Überall herrscht lebhaftes Treiben, bärtige Männer, bartlose Jugendliche, sogar Kinder wechseln von einem Raum zum anderen, manche noch im Chiton, andere ganz ohne Kleider, verschwitzt, mit Staub bedeckt, zwei Männern fließt Blut aus der Nase und sie fluchen auf sämtliche Götter. Im Apodyterion hält sich eine Gruppe von Schülern auf, die ihre Kleider abgelegt haben und von den Pädagogen in den Nebenraum geführt werden, wo sie den Aryballos (70) mit dem bereitgestellten Öl aus dem Eläothesium (71) füllen und am ganzen Körper eingerieben werden. Nebenan stehen einige Männer mit verschmutzten Bärten, die offensichtlich gerade mit dem Training fertiggeworden sind, wie man aus ihrem staubverklebten Körpern schließen kann. Mit sichelförmigen Striegeln, den Strigiles, schaben sie sich die ölige Masse vom Leib - ein Hund, der darauf nur gewartet hat, schnüffelt freudig an dem schmierigen Brei (72). Wenn man in den Waschraum blickt, sieht man einige jüngere Männer, wie sie von Sklaven gebadet und gesalbt werden, diese beherrschen auch die Kunst der Massage und der richtigen Dehnung der Körperglieder, um sie auf die gymnastischen Übungen vorzubereiten. Auffällig sind drei im Säulengang aufgestellte Statuen: eine ist dem Eros, eine dem Hermes und die stattlichste dem Herakles gewidmet - so besitzt jede Altersgruppe der Athleten ihren speziellen Schutzgott. Auf die Statue des Hermes haben einige wilden Marjoran und Hyanzinthen gelegt, dazu einen Kranz frischer Veilchen (73). Im Peristyl stehen sich zwei ungeschlachte Männer gegenüber, auch sie haben außer ein Paar um die Handgelenke geflochten Lederriemen und einen Kopfschutz (74) nichts an, doch ihre äußere Erscheinung erinnert in nichts an die strahlenden Göttergestalten, die an dieser Stätte ihre Wohlgeformtheit so offen zur Schau stellen. Sondern eher an Fleischklöpse mit dickem Bauch und einem mächtig Gesäß (75).
50 Plat.Pol. 401d-e
51 Arist.Pol. 1340a17
52 Arist.Pol. 1350b2
53 Sext.emp. Adv.Math. 6.8
54 Sext.emp. Adv.Math. 6.11
55 Arist.Pol.1342b13
56 Aristoph.Wolken 968
57 ebd.
58 Plut.Alkib. 2
59 Arist.Pol.II.12, 1274a31
60 Doppelstadionlauf, eigentlich Doppelflöte
61 hier: Vorort
61a Aelian VH 9.10
62 Aristoph.Wolken 964f
63 ungefähr Juli
64 Eromenos des Peisistratos, Plut.Solon 1
65 Paus 1.30.1
66 Hesiod Erga 170
67 das Apodyterion
68 das Ephebeion
69 Korykoi
70 das Ölfläschchen
71 Vorratsraum für Öl
72 vlg. Vase Rf.Hydia, Berlin Antikmus. F2178
73 Anth.Pal. 16.188
74 Amphotides
75 Aristoph.Wolken 1014