Zu #72 Die Bemerkung über N. Ferguson veranlasste mich die Ausführungen über die Kaiserliche Marine von Potter/Nimitz/Rohwer, Seemacht, zu lesen (rein willkürliche Auswahl, weil das Buch seit Jahrzehnten bei mir steht). Das Buch nimmt einen sehr militärischen Standpunkt ein, beschreibt seemilitärische Probleme der gesamten Weltgeschichte (wobei die Ausführungen ab dem amerikanischen Bürgerkrieg ausführlicher werden). Das Buch beruht auf Forschungen der Marineakademie der USA in Annapolis, wo Elmer Potter – ehemals aktiver Marineoffizier im Range eines Commanders - eine Professur innehatte.
Eine Zusammenfassung mit meinen Worten:
Um die Jahrhundertwende begannen viele Staaten eine Marine aufzubauen. Was Deutschland tat, war also nichts besonderes (das Flottengesetz Frankreichs von 1900 sah u.a. 28 Schlachtschiffe und 4 Materialreserven vor). Tirpitz war nur klarer und folgerichtiger als andere in seinen Zielen (was weit überwiegend Vorteile, aber eben auch Nachteile hatte - die Konzentrierung auf Schlachtschiffe – aus fiskalischen Gründen – bedeutete zwangsläufig eine gewisse Vernachlässigung anderer Waffen). Tirpitz ging von modernen taktischen Erfordernissen aus und legte den Schwerpunkt auf die technische Flottenentwicklung. Er sah die Flotte als Organismus und nicht als Nebeneinander von Angriffs- und Verteidigungsmittel. Die Regelmäßigkeit wurde zur Stärke der Kaiserlichen Flotte – und zu ihrem Problem.
Die Engländer sahen bis Herbst 1904 eindeutig die Franzosen als ihren Gegner auf den Meeren an (die Flottenaufstellung der Engländer, insb. deren Schwerpunkt im Mittelmeer, wird ausführlich beschrieben). Die Neuaufstellung der Navy nach den Vereinbarungen mit Frankreich und Japan in den Heimatgewässern bedeutete eine Flottenkonzentration gegenüber Deutschland (die aufgrund der neuen Bündnissysteme als einzig verbleibende große Flottenmacht eher zufällig zum Gegner wurde), die die deutsche Flotte erdrückt hätte (der Risikogedanke, kann man sagen, wurde herausgenommen). Daher reagierten die Deutsche mit der Flottennovelle 1906.
Erst der Dreadnought-Sprung brachte die Rivalität. England ging davon aus, dass mit den neuen Schlachtschiffen endgültig seine Überlegenheit gesichert war, insbesondere meinte man, dass Deutschland bei den Dreadnoughts nicht mithalten konnte und wollte, weil zu deren Nutzung der Kaiser-Wilhelm-Kanal kostenintensiv verbreitert werden musste. Das erwies sich als Irrtum. Die Dreadnoughts wurden vielmehr für England ein Problem, da England, um seine Macht zu behalten, in viel größerem Umfange diese teuren Schiffe bauen musste. Die Deutschen meinten durch eine Erhöhung des Bautempos (Flottengesetz 1908: Erhöhung von drei auf vier große Schiffe) schnell zu einem günstigeren Verhältnis zu kommen. Dieses Vierertempo – eine Reaktion auf die englische Politik – führte zum ersten Mal zu wirklichen Schwierigkeiten zwischen den Staaten (die Engländer bekamen innenpolitische Schwierigkeiten – wie auch die die Deutschen – irgendeine Gruppe in der Bevölkerung musste das Geld aufbringen, entweder durch höhere Steuern, durch Streichungen von Vergünstigungen oder durch beides). Die Verhandlungen über Flottenbegrenzung (Begrenzung der Rüstung Deutschland gegenüber einer Neutralitätszusage Englands bei) scheiterten dann (weil England aufgrund seiner Bündnispolitik meinte, keine Zusagen geben zu müssen). Bei der Flottennovelle 1912 musste Tirpitz mancherlei Streichungen hinnehmen (dies honorierten die Engländer aber nicht). Durch geschickte organisatorische Maßnahmen gelang es Tirpitz allerdings, ein neues Geschwader (in 1912 genehmigte 3 Linienschiffe wurden mit 4 Materialreserven und Flottenflaggschiff vereinigt) zu schaffen.
Die Verfasser loben Tirpitz Konsequenz und Folgerichtigkeit – und die konstruktive Überlegenheit der deutschen Schlachtschiffe. Allerding: Den besten Überwasserstreikräften ihrer Zeit – so ihre Formulierung - fehlte ein strategisches Konzept – Folge der mangelhaften Marineorganisation.
Die Meinung der Verfasser zur Flottenfrage in ihrer Zusammenfassung will ich wörtlich wiedergeben:
„Die Flottenfrage wäre zwischen Deutschland und England jedoch wohl kaum zu einem derart entscheidenden Problem geworden, wenn sich nicht ab 1902/1905 die Bündnissysteme Europa grundlegend gewandelt hätten. Sie führten Deutschland zunehmend in eine Isolierung….“