Germanische Stämme, Volksstämme, Ethnien - aktueller Wissenssstand

BerndHH

Aktives Mitglied
Guten Morgen,

ich würde gerne den Begriff Stamm zur Diskussion stellen.

Definitionen laut WP:
Stamm – im deutschen Sprach- und Kulturraum auch speziell Volksstamm – bezeichnet eine relativ wenig komplexe gesellschaftliche Organisationsform, deren Mitglieder durch die oft mythische Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung sowie durch Sprache oder Dialekt, Religion, Brauchtum und Gesetz und auch durch politische Interessen zusammengehalten werden. Von dieser Vorstellung eines Stammes unterscheiden die Politikwissenschaft und die Ethnologie die übergeordnete Integrationsstufe des Staates.
Die Bezeichnung Stamm wird, vor allem von Gegnern evolutionstheoretischer Ansätze, einer tiefgreifenden Ideologiekritik unterzogen, weitestgehend abgelehnt und gerne durch den Begriff „Ethnie“ ersetzt. Unter Vertretern evolutionärer Theorien, insbesondere des Neoevolutionismus, wird er jedoch weiter an zentraler Stelle verwendet und ist auch sonst in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur häufig vorzufinden, insbesondere in der Archäologie und der Geschichtswissenschaft. Auch in der Ethnologie ist die Definition einer Volksgruppe als „Stamm“ v. a. dann weiterhin aktuell (vergleiche beispielsweise die Scheduled Tribes in Indien), wenn sie sich an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen, religiösen und ethnischen Identität der jeweiligen sozialen Gruppe orientiert.
„Stamm“ ist allgemein von der biologischen „Abstammungsgruppe“ (Lineage) zu unterscheiden und entspricht beispielsweise auf Afrika bezogen der „Ethnie“, die eine zwar gesellschaftlich konstruierte, aber als real aufgefasste Einheit bildet.
Nach der ethnologischen Systematisierung beziehen sich die Mitglieder eines Clans auf einen mythischen Vorfahren (oder auf ein Totem), während auf der darunter folgenden Ebene der Abstammungsgruppen ein mehr oder weniger klar feststellbarer biologischer oder geschichtlicher Stammvater oder eine Stammmutter genannt wird. Auf der darüber liegenden Ebene des Stammes ist das einigende Prinzip eher abstrakter Art (Sprache, Religion, Brauchtum, Gesetz – so auch bei den deutschen Stämmen), obwohl auch hier gelegentlich mythische Ahnen zitiert werden (etwa bei den Stämmen Israels).
Stämme schlossen sich zu Stammesverbänden oder Großstämmen zusammen (vergleiche Stammeskonföderation, Stammesgesellschaft), die dann teils als eigenes „Volk“ bezeichnet werden (etwa das „Volk der Franken“), während von Völkern ansonsten erst bei der Vereinigung von verschiedenen Stämmen zu einer Nation gesprochen wird („Volk der Deutschen“).

Das sind jetzt alle akademische Definitionen, sehr abstrakt gehalten. Ich verstehe es auch nicht, es werden Begriffe genannt, die aber nur sehr schwammig definiert werden.

Kann jemand von Euch das vielleicht etwas populärwissenschaftlicher übersetzen?

Was heißt das denn auf der praktischen Ebene?
landwirschaftliche Großfamilie A leitet sich von Stammvater X ab und lebt in Siedlungsgebiet 01
landwirschaftliche Großfamilie B leitet sich von Stammvater Y ab und lebt in Siedlungsgebiet 01

Die Söhne verbleiben auf dem elterlichen Hof und die Töchter werden mit anderen Großfamilien verheiretet. Grund: Vermeidung von Inzucht - wobei mir nicht klar ist, ob damals die möglichen Degenerationserscheinungen bekannt waren oder ob da ein Zusammenhang erkannt wurde.

Wie geht denn die Soziologie da ran?
Großfamilien A und B sprechen gemeinsamen Dialekt, haben gemeinsame kulturelle Vorstellungen, gemeinsame Bewirtschaftungsformen und sehen sich daher als Stamm AA.
Als Großfamilien agieren sie autonom, nur wenn ihr Siedlungsgebiet akut von außen bedroht wird, sehen sie sich plötzlich aks Stamm AA, der idealerweise geschlossen auftritt.

Kann mir jemand helfen, das besser zu verstehen?
Vielen Dank!
 
Also wenn ich den aktuellen Wissensstamm richtig deute, dann heißt es ja es hat diese "Volksstämme" wie Brukterer, Marser, Chatten etc. nie gegeben. Es war eine reine römische Einteilung und hat absolut nichts damit zu tun, wie sich die betroffenen Ethnien im Selbstverständnis - welches man nicht kennt und absolut keine Ahnung hat, wie es gewesen sein könnte - gesehen haben.
 
Wahrscheinlich habe ich ein Thema angerissen, was schon x-mal so oder so ähnlich hier behandelt wurde aber es fehlen halt verständliche Aussagen, die es einem verständlicher und greifbarer machen.
 
Also wenn ich den aktuellen Wissensstamm richtig deute, dann heißt es ja es hat diese "Volksstämme" wie Brukterer, Marser, Chatten etc. nie gegeben. Es war eine reine römische Einteilung und hat absolut nichts damit zu tun, wie sich die betroffenen Ethnien im Selbstverständnis - welches man nicht kennt und absolut keine Ahnung hat, wie es gewesen sein könnte - gesehen haben.
Die Brukterer, Marser, Chatten wird es schon gegeben haben. Sie werden sich auch als Abstammungsgemeinschaften gelesen haben und politisch zusammengehört haben. Nur sollte man das eben nicht als statisch festgelegt sehen. Das konnte sich ändern. Abstammungsgemeinschaften basieren auf den gemeinsamen Geschichten, die man sich erzählt. Solche Geschichten können sich ändern
 
Hallo Quijote,

besten Dank für Deine Antwort.
Kannst Du Abstammungsgemeinschaft bitte definieren. Stammvater - Patriarch und seine Söhne plus Verschwägerungen?
Ich hatte mal die These aufgeworfen, dass die Söhne am väterlichen Hof verblieben und die Töchter an Nicht-Verwandte verheiratet wurden.
Erbfolge etc. wir hatten das schon mal und die Antwort war - meine ich - das das nicht bekannt war.
Vielleicht muss man dann an die erste bekannte germanische Rechtsordnung "vorspulen" und dann nach hinten extrapolieren. Nein, ich rede Unsinn.
Also an die erste bekannte Rechtsnorm - der Sachsenspiegel war es nicht - zurück und ...
Okay, ich gebe es auch, alles Spekulatius ...
 
Laut WP wäre ich da beim
Edictum Theoderici Mitte des 5. Jahrhunderts, älteste gotische und überhaupt germanische Gesetzessammlung

Das ist viel zu spät, da wollte ich gar nicht hin.
Okay, ich lasse es einfach.
 
Vielen Dank für die Erläuterung!

Mal eine andere Frage: gibt es ein Journal für Altertumswissenschaften, wo z.B. in regelmäßiger Form neue Erkenntnisse publiziert werden oder muss man warten, bis die Tagespresse mal Hinweise gibt. Aber das tun die ja nur bei großen Ereignissen.

Wie kann man sich da am besten auf dem Laufenden halten?
Anthropologen, Archäobotaniker, Archäologen haben interdisziplinär folgende Erkenntnisse gewonnen ...
Nicht, dass einer noch bei Mommsen steckenbleibt und der Rest diskutiert schon vollkommen neue Dinge.

Also ich meine nicht unbedingt Spezialitäten, die für den Laien schwierig sind einzuordnen.
Von der Linearbandkeramische Kultur im Frühneolithikum haben wir folgende Scherben gefunden ... sondern schon etwas fachübergreifendes, welches von Funden etc. auf die höhere Ebene geht.
Daraus schließen wir, dass die Gesellschaft kleinbäuerlich organisiert war. Jetzt nicht in diesem Fall, aber Du weißt schon, was ich meine, oder

Oder man informiert sich hier im Forum, ob es etwas Neues gibt. :)
Oder man wartet auf - für meinen Geschmack - gute populärwissenschafliche Bücher wie "Die Reise unserer Gene" und vermeidet Fehlgriffe wie Wolfram "Die Germanen" oder Geary "Europäische Völker im frühen Mittelalter".
 
Hi Quijote,
ja, für mich waren sie das einfach. Rausgeworfenes Geld und nicht das, was ich erwartet habe.

Ja, es klingt abwertend und deklassifizierend, doch beide Bücher entsprechen nicht meinem Gusto.
Nicht in der Darstellungsweise, -form, etc. Aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung.

Es ist doch jedem freigestellt, ein Sachbuch für hilfreich, informativ und aufklärend zu halten oder halt nicht.

Fazit: DAS Germanenbuch, welches mich ansprechen würde, ist anscheinend noch gar nicht geschrieben worden.
Da erwarte ich aber eine ganz andere Wissensfülle, eine ansprechende und anschauliche Darstellungsform mittels topographischer Karten, Schaubilder, Tabellen etc.

Aber okay, es ist kein Wunschkonzert und ich sollte vielleicht nicht mit solchen Sachen herumnerven.
Will auch keinem damit auf den Geist gehen.
 
Fazit: DAS Germanenbuch, welches mich ansprechen würde, ist anscheinend noch gar nicht geschrieben worden.
Das wird auch nicht geschehen.

Warum?
Wenn ich Revue passieren lasse, was du über 'die Cherusker' wissen wolltest, dann fiel mir zweierlei auf: 1. Deine Erwartung, man könne "Völker" eindeutig voneinander unterscheiden (Sitten, Sprache, Tracht usw) und 2. dein Interesse an "völkerspezifischen" Eigenheiten in rüden Verhaltensweisen, die nicht einmal 1000 Jahre später in Quellen detailliert enthalten sind...
Das sind Interessen, die mit der aktuellen Forschung eher wenig zu tun haben.

Mein Vorschlag:
Eine Unibibliothek aufsuchen, dort im Lesesaal oder per Ausleihe im RGA (Reallexikon der germanischen Altertumskunde) schmökern, insbesondere in den Sonder- und Ergänzungsbänden (einer hat z.B. den Titel Germanen oder Germanenproblematik)
 
Möglicherweise ist der Ausstellungskatalog "Germanen: Eine archäologische Bestandsaufnahme" von Matthias Wemhoff etwas für dich. Das steht jedenfalls noch auf meiner Wunschliste.
 
Ja, Ihr habt ja recht.
Ich hätte gerne alles in anschaulicher Darstellung kompakt präsentiert. Stattdessen muss man sich alles mühsam einzeln heraussuchen.
Aber das ist ja okay!

Matthias Wemhoff: Germanen: Eine archäologische Bestandsaufnahme. Reich bebilderter Katalog zur Ausstellung in Berlin. 2020. Wurde auch schon mal genannt, meine ich.
Bibliotheksbesuch, stimmt da war ja was ... Okay, ich halt lieber meine Klappe-.
 
Das ist halt das Problem, wenn man Bücher nur liest, um um sich seine vorgefasste Meinung bestätigen zu lassen und nicht, um etwas über das Thema zu lernen.
Genau Stilicho, Du bist mir auf die Schliche gekommen! Genau das war mein Plan. Ertappt. Kohle rauswerfen, nur um nicht exakt das zu finden, was ich glaubte, ich Dummerchen.
Ich habe eine vorgefasste absolut starre dogmatische Meinung und habe absolut nicht die Flexibilität diese zu ändern, will das auch gar nicht.
 
Kann jemand von Euch das vielleicht etwas populärwissenschaftlicher übersetzen?

Was heißt das denn auf der praktischen Ebene?
landwirschaftliche Großfamilie A leitet sich von Stammvater X ab und lebt in Siedlungsgebiet 01
landwirschaftliche Großfamilie B leitet sich von Stammvater Y ab und lebt in Siedlungsgebiet 01

Die Söhne verbleiben auf dem elterlichen Hof und die Töchter werden mit anderen Großfamilien verheiretet. Grund: Vermeidung von Inzucht - wobei mir nicht klar ist, ob damals die möglichen Degenerationserscheinungen bekannt waren oder ob da ein Zusammenhang erkannt wurde.

Wie geht denn die Soziologie da ran?
Großfamilien A und B sprechen gemeinsamen Dialekt, haben gemeinsame kulturelle Vorstellungen, gemeinsame Bewirtschaftungsformen und sehen sich daher als Stamm AA.
Als Großfamilien agieren sie autonom, nur wenn ihr Siedlungsgebiet akut von außen bedroht wird, sehen sie sich plötzlich aks Stamm AA, der idealerweise geschlossen auftritt.

Kann mir jemand helfen, das besser zu verstehen?
Vielen Dank!

Solch eine Darstellungsform kann es für die Germanen nicht geben, da wir es schlicht nicht wissen. Mit Archäologie, Analogieschlüssen zu anderen Völkern, dem, was man aus römischen Quellen folgern kann, oder dem, was uns dann Jahrhunderte später gegenübertritt, kann man einiges ableiten und vermuten, aber das wird dann halt komplex, und für die Detailebene, die du dir wünschst, wird es mE bei Spekulationbleiben müssen.

Aber zur Vorstellung, was alles "Stämme" sein können: Die Griechen, über die wir dank mehr historischer Quellen besser bescheid wissen, kannten Phylen, was auch mit Stamm übersetzt wird. Die Bürgerschaft jede (oder zumindest jede größeren) polis zerfiel in eine Zahl von Phylen, die eine wichtige Organisationseinheit darstellte, auf der Politik, Verwaltung und Militärwesen beruhte. In vielen ionischen Städten waren es vier, die oft auch die gleichen Namen hatten. Man kann vermuten, dass es tatsächlich eine alte, interne Unterteilung der Ionier ist, die in verschiedenen Städten überlebt hat; eine Übernahme bspw des prominenten attischen Beispiels ist aber auch denkbar. In dorischen Städten waren es oft drei.

Auf jeden Fall werden die attischen vier (vor-kleisthenischen) Phylen auf vier Stammväter zurück geführt, die Söhne des Ionos. Auch wenn in der Zeit, aus der es historische Quellen gibt, das System schon stark den Bedürnissen der polis angepasst worden war, und das mit der Abstammung vielleicht nicht immer wörtlich zu verstehen ist: Die Herkunft von einem auf der Abstammung basierenden System ist noch zu erkennen.

Mit den Reformen des Kleisthenes wurde dieses traditionelle Systemvöllig umgestürzt. Es entstanden zehn neue Phylen, als räumliche Gliederung Attikas und seiner Bürgerschaft in dreißig Bezirke (drei für jede Phyle), die nichts mehr mit der Abstammung zu tun hatten. Dennoch bekam auch jede neue Phyle einen namensgebenden, legendären Heroen zugewiesen. Um diese herum entstanden schnell Kulte als Identifikationssymbole der neuen politischen Ordnung. Da sieht man, was ElQ hier nennt...

Das konnte sich ändern. Abstammungsgemeinschaften basieren auf den gemeinsamen Geschichten, die man sich erzählt. Solche Geschichten können sich ändern

... in action. Die alten Geschichten um die vier Söhne des Ionos wurden... nicht ganz ersetzt, die alten vier Phylen behielten einige kultische Fuktionen, glaub ich, aber ergänzt durch eine neue politische Ordnung. Und obwohl die offensichtlich nicht mehr auf Abstammung beruhte, wurden Geschichten genutzt oder neu erfunden, um sie zu legitimieren und im Bewusstsein der Menschen zu verankern.

Und nun zurück zu Germanen: Deren Geschichten sind leider lost in time, und damit ein Großteil der Gedankenwelt und der Kultur. Da beisst die Maus kein Faden ab.
 
Ich habe eine vorgefasste absolut starre dogmatische Meinung und habe absolut nicht die Flexibilität diese zu ändern, will das auch gar nicht.
...bei dir bin ich mir nicht sicher, ob das Ironie oder Realismus ist ;)
Wie dem auch sei: Pohl, die Germanen, Steuer, Germanen aus Sicht der Archäologie, Wolfram/Uelsberg, das Römerreich und seine Germanen - falls du doch noch Geld zum Fenster rauswerfen willst ;):D

...bzgl RGA besser eine Bibliothek aufsuchen, denn da könntest du sehr viel Geld zum Fenster.........
 
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