Die wortwörtiche Weitergabe des Befehls war keinesfalls seine Pflicht (vgl. hierzu auch Hürter, Angabe unten, S. 584). Es hätte ihm durchaus offen gestanden, den Inhalt des Befehls abzuschwächen - dies allerdings hat er nicht getan. Dies ist bereit ein Indiz dafür, dass Manstein ihn aus persönlicher politischer Überzeugung gutgeheißen hat.
Hürtner bringt zahlreiche Beispiele aus dem Oktober-Dezember 1941, die sich als Fortsetzung des
Reichenau-Befehl darstellen.
Ob damit immer eine politische Stellungnahme verbunden war, ist mE schwierig zu beantworten. Ich möchte das an folgendem erläutern und am Beispiel von Reichenau selbst skizzieren:
R. war politisiert, der NSDAP nahestehend und mit Machtübernahme an den Schaltstellen der Macht. Möglicherweise war seine Mitwirkung 1933 überhaupt der Auschlag dafür, dass Blomberg (mit dem Stabchef Reichenau) für Hitler akzeptabel war, vielleicht sogar eine sehr willkommene Lösung für den Posten des Reichswehrministers darstellte.
Mit Beginn des Ostfeldzuges am 22.6.1941 ergab sich eine bemerkenswerte Konstellation: neben der 6. Armee Reichenaus stieß die 17. Armee Stülpnagels im Rahmen der Heeresgruppe Süd vor. Diese beiden Armeen (zuzüglich der PzGruppe 1 von Kleist) hatten die größten Schwierigkeiten, die Operationsplanung umzusetzen. Insbesondere Reichenaus Armee war zahlreichen Flankenstößen ausgesetzt und lag Anfang August vor Kiew fest.
Die beiden waren Jahrgangskameraden der Kriegsakademie 1912.
Stülpnagel - im Gegensatz zu dem NSDAP-Anhänger und politisierenden Reichenau - stand dem NS-Regime kritisch aufgrund der Kriegspolitik gegenüber und war 1939 davon überzeugt, dass der Krieg gegen die Westmächte nur mit einer Niederlage Deutschlands enden könne. Er wurde - ähnlich wie Wagner - von Halder dazu eingesetzt, die Mitwirkung der Divisionskommandeure, der Armeechefs und der Heeresgruppen-OBs im Westen zu klären, die Offensive zu verweigern. Diese Reise führte zu der ernüchternden Erkenntnis, dass insbesondere die vielen jüngeren Kommandeure bei einer Entmachtung Hitlers nicht mitmachen würden.
Der Pessimismus Stülpnagels hatte sich 1940/41 durch die militärischen Erfolge gelegt, trat aber mit dem Fehlschlag der Operationsplanung Barbarossa Ende September 1941 im Osten wieder hervor. Es gelang auch mit der Kesselschlacht von Kiew nicht, die vor der Heeresgruppe Süd auftretenden Verbände der Roten Armee entscheidend zu schlagen, vielmehr stieß man nun in die Weiten des Raumes vor, vor sich unverändert eine überlegene Zahl an gegnerischen Verbänden. Im September/Oktober trat dazu eine ernste Versorgungskrise der Heeresgruppe ein, die sich bis Ende des Jahres absehbar katastrophal verschärfen würde.
Reichenau und Stülpnagel gerieten nun persönlich durch ausbleibende Erfolge bei OKH/OKW schwer unter Druck, Anfang Oktober 1941 wurde ihre Ablösung von Hitler und vom OKh/OKW bereits erwogen. Reichenau und Stülpnagel (nebeneinander mit ihren Armeen und miteinander im Gespräch) - das wäre nun die These - haben im Oktober den Fehlschlag des 3-monatigen Feldzugsplanes voll erfaßt, während vom OKH gleichzeitig die Ziellinie Woronesch-Maikop völlig realitätsfern noch für 1941 vorgegeben wurde. An der Vormarschgeschwindigkeit wurde laufend Kritik geäußert, ebenso an der angeblich zu vorsichtigen und enggestaffelten Armeeführung (da OKH keine Gefahren mehr vor beiden Armeen sah).
Reichenau dürfte nach seinen bisherigen Erfolgen im Westen etc. das erste Mal unter massiver Kritik gestanden haben, militärisch außerdem vakant gestellt durch die bisherigen Mißerfolge der 6. Armee seit der Pripjet-Flankenschlacht und zusätzlich beunruhigt durch die anscheinend nicht versiegende sowjetische Armeestärke. Stülpnagel äußerte sich Ende September pessimistisch und sah mit dem Fehlschlag der Planung in der Folge den Kriegsverlust für das Deutsche Reich. Er dürfte zu diesem Zeitpunkt auch mit Reichenau - der selbst in der Kritik stand - gesprochen haben, von Zurückhaltung kann man bereits aufgrund der Einbindung Reichenaus in die geplante Verweigerung der Westoffensive kaum ausgehen.
Eine Erklärung wäre nun, abseits dieses von Stülpnagel verbreiteten Pessimismus: der Armeechef Reichenau trat die Flucht nach vorne an (während Stülpnagel dienstunfähig und abgelöst wurde), um in erster Linie seine Position zu sichern. Wenn er bei Hitler punkten wollte, dann ist der besagte Befehl von vornherein eine sichere Angelegenheit gewesen. Zudem punktete er damit gegen seinen Chef Rundstedt, der die Heeresgruppe Süd führte und ebenfalls zunehmend unter Druck geriet, schließlich 6 Wochen später auch abgelöst wurde - von Reichenau, der im Oktober selbst noch auf der Abschussliste stand. Dieses könnte ein Anlaß für den Befehl sein - zu genau diesem Zeitpunkt (eben nicht am 22.6.), und in genau dieser Lage. Dazu käme der von Stülpnagel und Reichenau geteilte Pessimismus über die kommenden Wintermonate, die Reichenau auf seine Art mit einem fanatisierenden Befehl und Antrieb zu rücksichtslosem Morden im Rückraum der Front beantwortete; schließlich die von beiden gesehene Versorgungskrise, die den Rückraum aufgrund der 2,3 verbleibenden Verbindungslinien anfällig gemacht hatte.
Den Reichenau-Befehl würde ich daher als eine taktierende Karriereentscheidung deuten. Hitler zeigte sich von diesem Befehl (über dessen Zuleitung man sich wohl nicht zu wundern braucht) begeistert, Reichenau saß mit einem Schlag - nicht wegen militärischer Wendungen - wieder fest im Sattel und wurde vom Ablösekandidat zum Auswechselspieler für Rundstedt.
P.S. am 12.10. wurde übrigens parallel an die HG Nord (Ritter von Leeb) die Weisung durch OKW gegeben, eine etwaige Kapitulation Leningrads zurückzuweisen. Gleichzeitig wurde von Hitler und OKW dieselbe Überlegung bezüglich Moskaus angestellt.
Es ist - wie gesagt - nur ein Erklärungsansatz. Aber auch einer, der vielleicht einen weiteren Baustein zur Machtsicherung (siehe Thema) bringt: Karrieren in den komplexen politischen und militärischen Strukturen des Dritten Reiches, selbst bei einem Exponenten des politisierten Militärs wie Reichenau.
Im Ergebnis würde ich diese Aussage immer nur auf Personen und Zeitpunkte hin prüfen:
Dass die Wehrmacht im Ganzen allerdings nicht unpolitisch war, kann schon behauptet werden. Auch gibt es gute Gründe, OKW und OKH als politisch aktive Institutionen zu erklären, da sie der NS-Ideologie in weiten Teilen zugestimmt und sie aktiv umgesetzt haben.