Günter Grass war bei Waffen-SS
Der deutsche Nobelpreisträger spricht erstmals öffentlich über seine Vergangenheit als Rekrut der Waffen-SS. In einem Interview äussert er sich zu seinem langen Schweigen und zu seinem Bedürfnis, jetzt das Geheimnis zu lüften. Von Claudia Schwartz
Er ist, wenn man so will, der deutscheste Schriftsteller des späteren 20. Jahrhunderts, politischer Moralist und Gewissen der Nation. Nun irritiert Günter Grass, der in seinem literarischen Werk wie in seinen politischen Einsprachen selber immer hohe moralische Massstäbe an die Wahrheitsfindung auch bezüglich der NS-Vergangenheit ansetzte, die Deutschen mit einem verspäteten Geständnis: In einem Interview in der Wochenendausgabe der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» bringt der Autor zur Sprache, dass er in den letzten Kriegsmonaten Mitglied der Waffen-SS war. Der offizielle Lebenslauf, in dem der Literaturnobelpreisträger als «Flak-Helfer» und «Soldat» bezeichnet wird, erfährt damit eine Korrektur. Grass schildert in dem Gespräch, wie er sich zur U-Boot-Truppe gemeldet habe, dann aber von der Waffen-SS eingezogen worden sei, die in den letzten Kriegsmonaten genommen habe, «was sie kriegen konnte».
Schuldgefühle
Er habe sich «mit fünfzehn wohl» gemeldet und das danach vergessen. «So ging es vielen meines Jahrgangs: Wir waren im Arbeitsdienst, und auf einmal, ein Jahr später, lag der Einberufungsbefehl auf dem Tisch. Und dann stellte ich vielleicht erst in Dresden fest, es ist die Waffen-SS.» Damals, als Siebzehnjähriger, habe er keine Schuld empfunden. Wie Grass bereits zuvor erklärt hat, sei er in der Gefangenschaft erstmals mit Bildern aus dem KZ konfrontiert worden und habe erst nach Baldur von Schirachs Aussage im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess geglaubt, «dass die Verbrechen tatsächlich stattgefunden hatten».
Später habe ihn «dieses Schuldgefühl als Schande belastet». Es sei für ihn immer mit der Frage verbunden gewesen: «Hättest du zu dem Zeitpunkt erkennen können, was da mit dir vor sich geht?» Über die Verführbarkeit und das deutsche Verdrängen der Vergangenheit in der Nachkriegszeit sagt Grass weiter, es sei so getan worden, «als wäre das arme deutsche Volk von einer Horde schwarzer Gesellen verführt worden». Er aber habe als Kind miterlebt, wie alles «am helllichten Tag passierte. Und zwar mit Begeisterung und mit Zuspruch.» Nach dem Beweggrund gefragt, weshalb er sich freiwillig der Wehrmacht angeschlossen habe, erklärt Grass: «Mir ging es zunächst vor allem darum rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie.»
Die Waffen-SS verstand sich als die militärische Elite der nationalsozialistischen Bewegung. Zu ihr gehörten auch die für die Konzentrationslager verantwortlichen Totenkopfverbände. Während sich die Wehrmacht als unpolitische Organisation betrachtete, sahen sich die SS-Angehörigen als politische Kämpfer. Sie waren für einige der schlimmsten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Im Kriegsverlauf verlor diese Einheit zunehmend ihren Charakter als Eliteformation; schrittweise wurde auch das Freiwilligenprinzip ausgehöhlt.
Auf die Frage, warum er erst jetzt darüber spreche, meint Grass, er wisse es nicht. Er sei einerseits überzeugt gewesen, er habe mit seinem Schreiben «genug getan». Aber es sei ein «restlicher Makel» geblieben. Sein «eigener Zwang» habe ihn nun zum Reden gebracht. Das Schweigen über all die Jahre habe ihn «bedrückt» und sei auch der Grund, weshalb er seine in Kürze erscheinenden Erinnerungen «Beim Häuten der Zwiebel» geschrieben habe: «Das musste raus, endlich», so Grass. Wenngleich seine SS-Zugehörigkeit nicht «das dominierende Thema» des Buches ist, so bezeichnet er den Krieg als «Dreh- und Angelpunkt» des neuen Werks, in dem der Schriftsteller seine Kindheit in Danzig, die letzten Kriegswochen als Soldat, in denen er knapp dem Tod entrann, die Kriegsgefangenschaft und die Wirren der ersten Nachkriegszeit beschreibt.
Geschichtsklitterung
Grass' literarische Bedeutung ist durch sein verspätetes Geständnis nicht in Frage gestellt, wohl aber sein Status als moralische Instanz der Bundesrepublik Deutschland. Die Glaubwürdigkeit des Mannes, der immer Wahrhaftigkeit verlangte und zugleich ein entscheidendes Faktum seiner Biografie verheimlichte, hat Schaden gelitten. Als 1984 der damalige Bundeskanzler Kohl mit US-Präsident Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg in der Eifel besuchte, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS bestattet liegen, sprach Grass laut der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» von einer «Geschichtsklitterung, deren auf Medienwirkung bedachtes Kalkül Juden, Amerikaner und Deutsche, alle Betroffenen gleichermassen verletzte».
Grass sieht sich nun mit dem Vorwurf konfrontiert, er hätte spätestens damals über seine eigene Verstrickung Auskunft geben müssen. So bleibt auch unbegreiflich, wie er vor wenigen Jahren mehrere Schriftsteller, die einst in die NSDAP eingetreten waren, verteidigen konnte, ohne sich öffentlich mit seiner eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Es wirkt ein wenig so, als hätte Grass mit seinem Geständnis auf diesen Zeitpunkt gewartet, zu dem die Deutschen vermehrt über ihr eigenes Leid, über Bombenkrieg und Vertreibung debattieren.