Dieses Charismatische an H. - das ist etwas, was sich meinem Verständnis immer entzogen hat.
Das geht mir genauso - aber es ändert nichts an der damaligen (teils kollektiven) Wahrnehmung.
Zudem haben wir unweigerlich Chaplins brillanten Hynkel mit wagnerumflortem Globustanz und eckig schnarrenden free-sprecken-Schtonk Reden im Hinterkopf. Der kam zwar erst 1940 zur Uraufführung, war im deutschen Reich verboten und nach den verheerenden kürzesten 1000 Jahren erst ab 1958 hierzulande zu sehen.
Ein derartiges Korrektiv konnte niemand in den späten 20er und in den 30er Jahren haben.
Aber es kommt noch etwas hinzu: das für uns heute gestelzt, gekünstelt und unauthentisch wirkende Pathos in Sprache, Gestik, Mimik und Sprechweise damals. (Das nachfolgende sollte nicht missverstanden werden, ich setze Karl Kraus, Alfred Döblin nicht mit Hitler gleich!)
Es gibt Tonaufzeichnungen von Parlamentsreden, Lesungen, es gibt einzelne Filmaufnahmen: Hitler war in seiner Sprechweise als Redner, mit Pathos und Ausspracheschnickschnack nicht Lichtjahre entfernt von Rednern seiner Zeit, die wir heute inhaltlich durchaus bewundern (Kraus über Verdun)
Lesen wir den Kraus-Text "Reklamefahrten zur Hölle" erkennen wir den zynischen Sarkasmus der stilisierten Reklame, die moralisch anklägerisch ist und
verstehen die erschütternde Aussageabsicht des Textes -
Hören wir aber Kraus selber diesen Text lesen, dann merken wir zwar, dass er passagenweise parodiert, aber
was er parodiert ist auf der Sprachebene der rhetorisch-schauspielerische Redestil der Zeit, und mit irrrollendem rrrr und Pathos dort, wo es ihm bitterernst ist (zum Ende hin), verwendet er dann auch eben diese für uns heute inakzeptable gestelzte Redeweise (!) -- mit anderen Worten: ein guter Schauspieler heute würde den Text anders deklamieren. In der
Deklamation war die Rhetorik dieser Zeit (20er-30er Jahre) für uns heute eher unerträglich bis lächerlich, aber wir haben ja auch ganz andere Perspektiven, Erfahrungen.
Ein Dolchstoß-Blabla von H. ist inhaltlich und intellektuell das totale Gegenteil von Kraus' Reklamefahrten - in der rhetorischen Deklamation (Aufnahmen!) aber sind sie einander nicht unähnlich.
Wir heute haben, warum auch immer, zu wenig Tonaufnahmen von der Rhetorik aus dieser Zeit im Hinterkopf, wir nehmen H. quasi isoliert, exotisch-abartig wahr.
Will man ohne historische Höreindrücke rein sprachlich, lesend, aus der Rhetorik dieser Zeit kaleidoskopartig montierte Schnipsel lesen, empfehlen sich einige Passagen aus Dublins Roman Berlin Alexanderplatz.
Die für uns befremdliche Redeweise/Rhetorik war damals mehr oder weniger üblich, das heißt H. ist nicht als rednerischer Kasper oder Popanz aufgefallen. Kraus als Redner (Vorleser) hatte ein kleines Publikum, H. hatte für seine Reden inszenierte Aufmärsche, Massen von Claqueuren und choreografierte Inszenierungen, was seine Wirkung natürlich verstärkte.
=> das "Charisma" von H oder besser gesagt seine charismatische Inszenierung wirkte in der öffentlichen Rede weitaus mehr als in Gesprächen im kleinen Kreis.