Ich könnte den Spiess auch umkehren und sagen: Wir wissen auch nicht, dass er wirklich von den Greueln, von denen er erzählte, überzeugt war.
Genauer: Von welchen Ereignissen wissen wir, dass der Papst Kenntnis hatte? Und woher?
Der Papst muss gewusst haben, dass die Pilgerfahrt nach Jerusalem immer noch möglich war. Pilger berichteten von vermehrten Räuberangriffen, aber fast nie von Übergriffen von Muslimen. Interessant ist hier Peter der Mönch.
Albert von Aachen schreibt: "
Dieser Priester (Peter) war einige Jahre vor dem Beginn dieses Zuges (der Kreuzzug) nach Jerusalem gewallfahrt, um dort zu beten." Pilgerfahrt also definitiv möglich!
Weiter Albert von Aachen: "
Da musste er in der Kirche des Heiligen Grabes, ach, Dinge sehen, so sündhaft und böse, dass sein Herz voll Trauer aufseufzte und er Gott zur Rache für die geschauten Gräuel aufrief ... Tief bewegt durch das schändliche Treiben ging Peter zu dem Patriarchen der heiligen Kirche zu Jerusalem und fragte ihn, warum es den Heiden und Ungläubigen erlaubt sei, die heiligen Stätten zu beschmutzen, aus ihnen die Gaben der Gläubigen wegzuschleppen, als Ställe die Kirche zu benutzen, die Christen zu schlagen und die frommen Pilger durch Auferlegung ungerechter Abgaben auszuplündern und mit vielerlei Bedrückungen zu quälen ... In Angst und Sorge fuhr Peter zu Schiff über das ... und eilte sofort nach Rom. Dort suchte er den apostolischen Herrn auf und überbrachte ... Klagen über die Gräuel der Heiden und das Elend der Pilger und der heiligen Stätten. .
Abgesehen davon, dass die "Beschmutzung der Heiligen Stätten" so allgemein nachweislich nicht stimmte (man fand z.B. die Grabeskirche nach der Eroberung Jerusalems in unversehrtem Zustand - vgl. Ekkehard von Aura), ist das im Vergleich zu dem, was der Papst in Clermont erzählte, ja fast harmlos ... (übrigens hält Albert von Aachen Peter für den eigentlichen Urheber des Kreuzzugs: "
Seinem nimmermüden Rufe folgten Bischöfe, Äbte Kleriker und Mönche, die vornehmen Weltlichen, die Fürsten verschiedener Reiche und endlich die ganze Menge des Volkes, Keusche und Unkeusche ja selbst das weibliche Geschlecht". Auch der Autor der Gesta Francorum: "
Die Gemüter waren in ganz Gallien heftig bewegt (von den Berichten Peters), so dass jeder mit Herz und Verstand den Wunsch hatte, Gott zu folgen und getreu das Kreuz zu tragen, und unverzüglich den Weg zum Heiligen Grab einzuschlagen. Sogar der Papst begab sich mit seinen Erzbischöfen, Bischöfen, Äbten und Priestern über die Alpen ... Peter führte ja dann auch den "Kreuzzug der Armen").
Der "Hilferuf" des Alexious Komnenos kommt dem, was Papst Urban in Clermont erzählte sehr nahe ... gut, der byzantinische Kaiser wäre ja auch sicherlich ein trefflich informierter Mann.
Hier im Wortlaut (vorsicht, lang). Man beachte: Adressat ist NICHT der Papst, sondern der Graf von Flandern ...
"Dem Herrn und ruhmreichen Grafen von Flandern, Robert, und allen Fürsten des gesamten Reiches, den Verehrern des christlichen Glaubens, Klerikern wie Laien, entbietet der Kaiser von Konstantinopel. Heil und Frieden in unserem selben Herrn Jesus Christus, seinem Vater und dem Heiligen Geist. 0h hochberühmter Graf und größter Tröster des christlichen Glaubens!
Ich will Eurer Klugheit kundtun, wie das allerheiligste Reich der griechischen Christen von Petschenegen und Türken arg bedrängt, täglich ausgeplündert und mit Waffengewalt heimgesucht wird ohne Unterlass; auch kommt es dort zu vielfältigem Morden und nicht zu schildernden Niedermetzelungen und Verhöhnungen der Christen. Weil es aber viele Übel sind, die sie treiben, und wie gesagt unbeschreibliche dazu, wollen wir aus den vielen nur weniges nennen, was aber dennoch schrecklich anzuhören ist und sogar die Luft selbst in Verwirrung bringt.
Denn sie beschneiden die Knaben und jungen Männer der Christen über den christlichen Taufbecken, gießen das Blut der Beschneidung aus Missachtung gegenüber Christus in dieselben Taufbecken, zwingen sie, ihr Wasser darüber abzuschlagen, führen sie darauf mit Gewalt in den Kreuzgang der Kirche und zwingen sie, Namen und Glauben der Heiligen Dreifaltigkeit zu schmähen. Wenn sie das aber nicht wollen, setzen sie sie verschiedenen Strafen aus und töten sie zuletzt. Edle Frauen und deren Töchter rauben sie aus und verhöhnen sie dann, indem sie wie die Tiere sich gegenseitig ablösend mit ihnen Unzucht treiben. Andere aber stellen, während sie schamlos Jungfrauen schänden, deren Mütter vor ihr Angesicht und zwingen sie, ruchlose, unanständige Lieder zu singen, bis sie ihre eigenen Untaten vollenden.
So, lesen wir, sei es in alter Zeit nämlich auch am Volke des Herrn geschehen, zu dem die gottlosen Babylonier nach verschiedenen Verhöhnungen voll Spott sprachen: Singt uns einen Hymnus aus den Liedern Zions. So werden jetzt auch die Mütter gezwungen, während der Schändung ihrer Töchter gottlose Lieder zu singen, ihre Stimmen geben aber keinen Gesang, sondern eher eine Klage wieder, wie über den Tod der Unschuldigen geschrieben steht: Eine Stimme wurde in Rama gehört, Weinen und viel Klagegeheul. Rachel, die ihre Söhne beweint und nicht getröstet werden wollte, da sie nicht mehr am Leben sind. Wenn aber die Mütter der Unschuldigen, die durch Rachel versinnbildlicht werden, nicht in Bezug auf den Tod ihrer Söhne getröstet werden konnten, so konnten sie dennoch in Bezug auf die Rettung der Seelen getröstet werden. Diese hier aber, was schlimmer ist, können auf keine Art getröstet werden, weil sie sowohl mit dem Körper als auch mit der Seele zugrunde gehen.
Was weiter? Kommen wir zum noch Niedrigeren: Männer allen Alters und Standes, d.h. Knaben, Heranwachsende, junge Männer. Greise, Edle, Sklaven und, was schlimmer und schamloser ist, Kleriker und Mönche und - ach welch ein Schmerz - was man vorher weder gesagt noch gehört hat, Bischöfe verhöhnen sie durch die Sünde der Sodomie und einen Bischof zerrissen sie sogar durch diese Sünde. Sie besudeln aber die heiligen Stätten auf unzählige Arten, zerstören sie und drohen ihnen Schlimmeres an. Und wer bricht dabei nicht in Klagen aus? Wer leidet nicht mit? Wer entsetzt sich nicht? Wer betet nicht?
Fast das ganze Gebiet von Jerusalem bis zum griechischen und das ganze griechische Reich mit seinen nördlicheren Regionen, als da sind Klein- und Großkappadozien, Phrygien, Bithynien, Klein-Phrygien, d.h.Troia, Pontus, Galatia, Lydien, Pamphylien, Isaurien, Lykien und die Hauptinseln Chios und Mytilene und viele andere Gebiete und Inseln, die wir hier nicht aufzählen können, sind von ihnen schon bis nach Thrazien vereinnahmt worden und es ist uns beinahe nichts mehr außer Konstantinopel geblieben das sie uns aber auch schleunigst wegzunehmen drohen, wenn nicht die Hilfe Gottes und der lateinischen Christen schnell zu unserer Unterstützung kommen. Denn auch das Marmarameer , das auch Abydus heißt und vom Schwarzen Meer an Konstantinopel vorbei ins Mittelmeer fließt, sind sie mit zweihundert Schiffen eingedrungen, die von ihnen gefangengenommene Griechen konstruiert hatten, und führen sie mit Ruderknechten, ob die wollen oder nicht, heran und drohen zu Lande wie auch über eben dieses Marmarameer wie gesagt Konstantinopel schnell einzunehmen.
Also bitten wir um der Liebe Gottes und der Frömmigkeit aller griechischen Christen willen, dass Du alle gläubigen Streiter Christi -höhergestellte ebenso wie niedere oder mittlere-, die Du in Deinem Lande anwerben kannst, zur Hilfe für mich und die griechischen Christen hierhin führst und dass sie sich bemühen, so wie sie Galizien und die übrigen westlichen Königreihe im vergangenen Jahr vom Joch der Heiden ein wenig befreit haben, so auch jetzt für ihr Seelenheil das griechische Königreich zu befreien, indem ich, obgleich ich Kaiser bin, mir kein Heilmittel und keinen geeigneten Plan zu finden weiß, sondern immer vor dem Anblick der Türken und Petschenegen fliehe und nur solange in einer einzelnen Stadt bleibe, bis ich ihr Kommen nahen fühle, und lieber Euren Lateinern untertan sein will als dem Spott der Heiden.
Ihr sollt also, bevor Konstantinopel von ihnen eingenommen wird, mit ganzer Kraft und besonders tüchtig streiten, damit ihr voll Freude im Himmel ruhmreichen und unaussprechlichen Lohn empfangt. Denn es ist besser, dass Ihr Konstantinopel besitzt als die Heiden, weil in der Stadt überaus kostbare Reliquien des Herrn verwahrt werden, als da sind ... Diese vorgenannten Dinge aber sollen alle eher die Christen als die Heiden haben, und es wird allen Christen eine große Stütze sein, wenn sie dies alles haben, ein großer Schaden aber und eine Verurteilung, wenn sie es verlieren.
Wenn sie aber dafür nicht kämpfen wollen und Gold mehr lieben, so werden sie in Konstantinopel mehr finden als auf der ganzen Welt. Denn allein die Kirchenschätze von Konstantinopel quellen über von Silber, Gold, Perlen, kostbaren Steinen, seidenen Tuchen, die für alle Kirchen der Welt aus reichen könnten. Diese ganzen Schätze jedoch übertrifft der unermessliche Schatz der Mutterkirche, nämlich der Hagia Sophia, d.h. der Weisheit Gottes, und er kann ohne Zweifel den Schätzen des Tempels Salomons gleichgestellt werden. Was soll ich noch vom grenzenlosen Schatz der Adeligen reden, wenn schon den Schatz der einfachen Händler niemand schätzen kann?
Von dem, was man in den Schätzen früherer Kaiser findet, sage ich mit Bestimmtheit, dass es keine Zunge gibt, die ihn wiedergeben könnte, da nicht allein der Schatz der Kaiser von Konstantinopel dort aufbewahrt wird, sondern der Schatz aller alten römischen Kaiser dorthin übertragen und in den Palästen versteckt worden ist. Was soll ich noch mehr sagen? Was offen vor Menschen Augen liegt ist nichts im Vergleich zu jenem Verborgenen. Eilt also mit Eurem ganzen Volk und kämpft mit allen Euren Kräften, damit nicht ein solcher Schatz in die Hände der Türken und Petschenegen fällt, weil nämlich, obwohl sie unbegrenzt sind, täglich noch 60.000 erwartet werden und ich fürchte, dass sie durch jenen Schatz unsere gierigen Soldaten allmählich verführen könnten, wie Julius Caesar es einst getan hat, der das Reich der Franken durch Begehrlichkeit vereinnahmte, und wie der Antichrist, bereit, die ganze Welt einzunehmen, am Ende der Welt handeln wird. Handelt also, solange ihr noch Zeit habt, damit ihr nicht das Königreich der Christen und was schlimmer ist, das Grab des Herrn verliert und von daher nicht Gericht, sondern Belohnung im Himmel habt. Amen."
Das klingt ja ganz wie Urban in Clermont ... also ist das Urbans Quelle?
Nur: So soll ein Kaiser von Byzanz bei einem Grafen um Hilfe ersuchen?
Er bietet den Reichtum seines Reiches als Beute (bis hin zu den Altartüchern)?
Alexios, der oströmische Kaiser, argumentiert mit himmlischem Lohn? Wo eine solche Vorstellung im oströmischen Reich doch überhaupt nicht existierte (deshalb war man ja so stark auf Söldner angewiesen, die man bisher immer mit Gold, nicht mit himmlischen Lohn bezahlt hatte ... es gab die Idee des bellum iustum nicht, es war eine Sünde, jemanden zu töten, auch im Krieg ... Waffenhandwerk galt als unchristlich).
Hätte sich ein Kaiser wirklich einem Grafen gegenüber als so hilflos dargestellt?
Auch ist der Brief in dieser Form stilistisch weit von den sonst von der byzantinischen kaiserlichen Kanzlei verfassten Schreiben entfernt.
Zum Vergleich ein (echtes) Schreiben Alexios an Heinrich IV:
"
Edler und wahrhaft christlicher Bruder. Ich hoffe, dass dein mächtiges Reich blüht und weiterhin gedeiht ... deine Entscheidung, sich am Krieg gegen diesen bösartigen Mann (Robert Guiscard) zu beteiligen ... bezeugt die Güte deines Herzens. Obwohl im allgemeinen meine Angelegenheiten zum Besten stehen, werden sie doch geringfügig durch die Unternehmungen Roberts gestört. Die Geschenke, die wir vereinbart haben ..., werden überbracht, nämlich 144.000 Goldstücke und 100 seidene Purpurmäntel. Wenn du den Eid ablegst, werden weitere 216.000 Goldstücke ausbezahlt."
Der Kaiser fordert vom König (der bald auch Kaiser sein wird) einen Eid ... (Welchen? Ihm zu helfen? Oder sogar einen Lehenseid?).
Viele Historiker betrachten den "Hilferuf des Alexios" als Fälschung (und das schon länger, wie Einar Joranson in seinem Aufsatz "The Spurious Letter of Alexius" im: American Historical Review 55 (1949-1950) ... oder hier:
JSTOR ... oder Carol Sweetenham: Robert the Monk's History of the First Crusade, 2006, im Appendix - da das Buch eigentlich eine Übersetzung der Texte Roberts ist). Neuester Stand (meines Wissens nach) ist z.B. Michael Angold, The Byzantine Empire 1025-1204: A Political History. Auch Angold hält den Brief für eine Fälschung, schließt aber nicht aus, dass ein tatsächliches Schreiben - wenn auch völlig anderen Wortlauts - zugrunde liegt.
Allerdings: ein Hilferuf des oströmischen Kaisers wird nicht erwähnt in:
- den Briefen Urbans
- den Aufrufen und Papstreden
- den Aufzeichnungen der Chronisten des Kreuzzugs
- den byzantinischen Quellen
Wenn dieses Schreiben also so nicht von Alexios stammt ... dann existiert meines Wissens kein Schreiben, aus dem der Papst hätte WISSEN können, dass die Muslime die Christen im Osten verfolgen/töten.
Der Ductus des Schreibens spricht sogar noch eher für die päpstliche Kanzlei ... und das würde dann zu interessanten Schlüssen führen.