Ursprung der Staatlichkeit und die Herkunft der Bulgaren
Seit einigen Jahren wird von den Geschichtswissenschaftlern unseres Landes erneut die Frage nach der Herkunft der Bulgaren stark diskutiert.
Im Folgenden wollen wir Sie in Kürze mit den wichtigsten Theorien vertraut machen und Ihnen die Meinung von Prof. Georgi Bakalow vorstellen, der Prorektor der Sofioter Universität "Hl. Kliment Ochridsky" ist.
Bis heute lesen wir in den bulgarischen Geschichtsbüchern, dass die Urbulgaren in den 60er Jahren des 7. Jh. von Nordosten her kommend die Donau überschritten hätten. Ihr Anführer Khan Asparuch habe die südlich der Donau vorgefundenen sieben slawischen Stämme vereint und einen selbständigen zentralisierten Staat gegründet. Als Gründungsjahr gilt der mit dem Nachbarn Byzanz abgeschlossene Friedensvertrag aus dem Jahre 681. Im Verlaufe einiger Jahrhunderte wäre dann aus den Urbulgaren, den Slawen und den alteingesessenen Thrakern ein einheitliches Volk entstanden. Die staatliche Leitung wäre zuerst einzig in den Händen der Urbulgaren gewesen und das Land selbst nannte sich Bulgarien, nahm aber als offizielle Sprache den hier gesprochenen slawischen Dialekt an.
Diese Theorie wurde in den Jahrzehnten ausgebaut und die Historiker gingen über, nach den Wurzeln der Protobulgaren in ihrer vermeintlichen Urheimat Mittelasien zu suchen. Einige sind sogar der Ansicht, dass der Ursprung der Bulgaren noch weiter im Osten läge, und zwar bis an die Grenzen Koreas, und ziehen als Beweise einige chinesische Chroniken heran. Unsere Vorfahren seien ein nomadisiertes Steppenvolk gewesen, das die nördlichen Grenzen Chinas unsicher machte und aus diesem Grund hätte es in den alten chinesischen Überlieferungen Aufnahme gefunden.
Handfeste Beweise legen aber auch andere Forscher vor, die eine ganz andere These vertreten. Die Bulgaren seien überhaupt keine Nomaden gewesen und wären auch nicht von weit her gekommen. Sie hätten hier schon immer auf dem Balkan gelebt und würden zur Gruppe der indoiranischen Völker gehören, die seit Jahrtausenden um das Schwarze Meer herum siedeln. Ein nicht von der Hand zu weisender Beweis sind einige spätantike Karten, auf denen deutlich der Name "Bulgarien" in seinen verschiedenen altertümlichen Schreibweisen, je nach Sprache der Kartographen, zu lesen ist. So z.B. finden wir auf der Karte des Eusebios aus Cäsarea aus dem 4. Jh. die Bezeichnung "vulgaria" genau dort, wo wir heute leben.
Was die indoiranische Herkunft der Urbulgaren anbelangt, scheint sich die Fachwelt bereits fast einig zu sein. Bislang galten sie als ein Turkvolk. Die Beweise für diese ältere Annahme entpuppten sich als irreführend. Ein sprachlicher Vergleich der angeblich aus dem Urbulgarischen übriggebliebenen Worte deutete auf eine Turksprache hin, denn sie waren auch in diesen Sprachen zu finden. Allerdings stellte sich mit der Zeit heraus, dass ausnahmslos alle diese Wörter im Grunde genommen aus dem Persischen stammen und später als Kulturlexik in die Sprache der Turkvölker Mittelasiens Eingang fanden.
Auch die ersten Bauwerke der Bulgaren auf der Balkanhalbinsel, namentlich in den alten Reichshauptstädten Pliska und Preslaw, deuten auf eine Bevölkerung hin, die durchaus nicht aus herumziehenden Nomaden bestand. Die Städte bezeugen alte urbanistische Traditionen. So z.B. besaßen sie bereits eine Kanalisation, was selbst mehr als 1000 Jahre später für Westeuropa durchaus nicht die Regel war.
"Es gibt einen ganz deutlichen Hinweis im Namensregister der bulgarischen Herrscher, demzufolge in der Mitte des zweiten Jahrhunderts der Anfang der bulgarischen Staatlichkeit mit den legendären Herrschern Avitohol und Irnik gesetzt wird", sagt Prof. Bakalow, Prorektor der Sofioter Universität. "Die Angabe der Zeiträume, in denen sie geherrscht hätten, sind wirklich biblisch, zeigen aber eine Tendenz in der Staatlichkeit und den Anfang der Staatenbildung auf. Leider sind wir nicht in der Lage, Grenzen und Hauptstädte zu bestimmen, aber immerhin sprechen wir von einem bulgarischen Staat seit der Mitte des 2. Jh. n.Chr. Die Periode bis zum Jahre 681 ist noch zu wenig erforscht, auch wenn wir bereits eine Reihe von Dokumenten aus altsyrischen, altiranischen, altindischen und vor allem altarmenischen Chroniken veröffentlicht haben, die für uns von großer Bedeutung sind. Sie verweisen auf einen Ursprung im Gebiet von Pamir und Hindukusch, im Gebirge Imeon, wo sich die Bulgaren mit ihrer Sprache in einem ostiranischen Umfeld geformt haben. Wir weisen also die Behauptungen über eine turkstämmige, oder sibirische Herkunft unserer Vorfahren ab, die sie zu Verwandten der Mongolen machen würde."
Es bleibt die Frage nach der Zahlenstärke der Urbulgaren offen, von denen bislang behauptet wurde, dass sie im großen Meer der Slawen untergegangen sind. Eine Erklärung für diese Theorie finden wir im Wunsch der Bulgaren aus der Zeit der Wiedergeburt im 18. und 19. Jh., als sie noch unter türkischer Fremdherrschaft standen und Hilfe vom slawischen Russland erhofften – etwas, das sich auch erfüllen sollte.
"Ich kenne kein anderes Volk, das aus ideologischen Gründen auf fünf Jahrhunderte seiner Geschichte verzichtet hat", setzt Prof. Bakalow fort. "Bei uns trifft genau dieser Fall zu. Wir besitzen eine äußerst alte Geschichte, haben aber als Anfang das Jahr 681 festgenagelt, das eigentlich nur einen Zeitpunkt in unserer staatlichen Entwicklung darstellt. Dieses Datum bringt uns aber mit den Slawen in Verbindung und das raubt uns fünf Jahrhunderte Geschichte."
Prof. Bakalow will sich aber auch nicht auf eine Zahlenstärke der Urbulgaren festlegen, denn das Ganze hat einen Haken. Wenn man sie zu klein wählt, kann man kaum den politischen und kulturellen Einfluss erklären. Sobald man aber die Zahl spürbar erhöht, gerät die These von der allseits angenommenen slawischen Sprache ins Wanken, zumal ja die Staatsführung in den Händen der Protobulgaren lag. Es liegt also der Gedanke nahe, dass sie ihre Sprache, also die urbulgarische und nicht die slawische, durch die Administration und auf Grund ihrer Zahlenstärke hätten durchsetzen können. Dem ist aber anscheinend nicht so, denn unsere Sprache zählt zu den slawischen Sprachen. Fragt sich also, was für eine Sprache die Urbulgaren tatsächlich gesprochen haben und stimmt überhaupt die Theorie über die Verschmelzung mit den Slawen? Die Archäologen haben nämlich bis heute keine einzige slawische Siedlung aus den entsprechenden Jahrhunderten auf ethnisch bulgarischem Territorium freigelegt. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass es sich bei den Slawen im Grunde genommen um Nachfahren der Skythen handelt, die nördlich des Schwarzen Meeres lebten. So könnte man sich nämlich auch die problemlose "Verschmelzung" mit den Thrakern als enge Verwandte der Skythen und der Urbulgaren erklären. Die Vertreter der Theorie über die Alteingesessenheit der Bulgaren auf der Balkanhalbinsel gehen sogar weiter und sagen, dass es sich eigentlich bei Skythen und Bulgaren um ein und dasselbe Volk handelt, zumal in den alten Chroniken die Bulgaren häufig als Skythen bezeichnet werden.
"Wenn wir eine perfekte Untersuchung des Problems anstreben, müssen als erstes Fachleute nach Russland gesandt werden, um die einstigen Wohngebiete der Urbulgaren zu untersuchen", meint Prof. Bakalow und fährt fort: "Ich habe persönlich mit eigenen Augen in einem Museum in der Ukraine typisch bulgarische Gegenstände gesehen, die unter der Bezeichnung "skythisch" ausgestellt sind. Man geht sichtlich einer näheren Zuschreibung aus dem Wege. Des weiteren sollten von unseren Fachleuten die altchinesischen, altindischen und altiranischen Sprachen erlernt werden, damit auch andere Quellen herangezogen werden können."
Es sei gut, die chinesischen Chroniken näher zu studieren, meinen auch jene Geschichtswissenschaftler, die den Ursprung der Bulgaren auf der Balkanhalbinsel sehen. Das ist jedoch durchaus nicht paradox, denn so merkwürdig es auch auf Anhieb klingen mag, würden die in den entsprechenden Chroniken Chinas geschilderten Ereignisse gerade ihre Theorie untermauern.
Die russischen Geschichtswissenschaftler Morosow und Fomenko, die die chinesischen Quellen in der Originalsprache grundlegend analysiert haben, sind nämlich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es sich im Grunde genommen um europäische (wahrscheinlich römische und byzantinische) Chroniken handelt und noch dazu in späten Anschriften des 13. bis 15. Jh., die nach China gelangt sind, dort übersetzt und weitergegeben und mit der Zeit als authentische örtliche Originaldokumente angesehen wurden. Falls diese These auch von anderen Wissenschaftlern unterstützt werden sollte, könnte die Theorie über die Alteingesessenheit der Bulgaren auf der Balkanhalbinsel im Endeffekt bedeutend an Kraft gewinnen. Das Sprachproblem bleibt aber leider weiterhin eine große Hürde vor eingehenden Untersuchungen der alten Chroniken.
http://www.bnr.bg/RadioBulgaria/Emission_German/Theme_Geschichte/Material/gk050331.htm