Irene schrieb:
Und mir fällt im Augenblick keine Institution ein, die auf eine derartige Vergangenheit zurückblicken muss. Aber der eine sieht es als einige Klieschess und ein anderer betrachtet es von der Seite der Menschen und der Jahrhunderte
Keine Institution, die auf eine derartige Vergangenheit zurückblicken muss? Wie wäre es denn ganz einfach mit dem Staat? Vielleicht auch dem Justizwesen? Nur weil die Kirche den Anspruch hegt, eine seit Jahrhunderten ungebrochene Tradition zu pflegen, stimmt das nicht unbedingt. Bei Staaten sind für jeden die Brüche offensichtlich, weil das neue System Legitimität aus der Abgrenzung zum als negativ wahrgenommenen Vorgänger zieht. Bei der Kirche ist das etwas anders, aber solche Dinge wie das erste und das zweite Vatikanum oder auch - um etwas weiter zurückzugehen - das Tridentinum sind Ereignisse, die die Kirche umgekrempelt haben. Die Kirche vor dem zweiten Vatikanum etwa ist doch etwas ziemlich anderes als die Kirche danach. Und nicht nur die Kirche hat ein Grundgerüst an Dogmen, Fundamentalgesetzen, verpflichtenden Ideen o.ä., die sie über die Zeit mit sich trägt und an denen sie festhält - das hat der Staat nämlich mit Friedenssicherung, Ordnungsstiftung, Herrschaftslegitimation u.a. durchaus auch. Würdest du deshalb auf die Idee kommen, den Staat zu kritisieren, weil um 1600 beispielsweise in Mecklenburg Hexen verbrannt wurden? Wohl eher nein, aber die Kirche scheint wegen so etwas durchaus Ziel der Kritik zu werden.
Und ja, ich sehe es durchaus als Klischee an, wenn in puncto Vergangenheit der Kirche das Bild einer skrupellosen machtgierigen Institution gezeichnet wird, die die Gedanken aller Menschen kontrollierte, Abweichler sofort grausamst hinrichtete, sich bisweilen in einen kriegerischen Blutrausch hineinsteigerte und überhaupt alles tat, nur nicht dem Wohl der Menschen zu dienen. Davon ist nämlich wirklich nichts wahr bzw. die Wahrheit ist deutlich komplexer. Und wenn dann mal eben übersehen wird, was für umfassenden kulturelle und soziale Leistungen mit der Kirche verbunden sind (Kassia hat die Caritas erwähnt, ich möchte als einziges Beispiel, gerade vor dem Kontext der hier mal wieder verfemten Kreuzzüge, die hochmittelalterliche Gottesfriedensbewegung (Treuga Dei) nennen), dann wird das Bild der Kirche in der Geschichte bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
Irene schrieb:
Caritas ist kein so gutes Beispiel, Caritas wird von denen, die es in Anspruch nehmen bezahlt, mit der Geschichte kirchlicher Waisenhäuser beschäftigen wir uns in diesem Thema nicht, da gibt es auch sehr umfangreiche Dokumente. Alle anderen kirchlichen Einrichtungen dieser Art - Krankenhäuser, Pflegeheime stehen zwar voll unter kirchlicher Regie und sind auch deren Eigentum, aber 80 % aller Kosten werden vom Steuerzahler bezahlt.
Auch in anderen Religionen ist die Hilfe für Kranke, Arme und Schwache den Gläubigen zur Pflicht gemacht.
Ich denke, Kassia hat nicht die Caritas im Sinne der modernen kirchlichen Hilfsorganisation, den Caritasverband, gemeint, sondern die Idee der Caritas, der tätigen Nächstenliebe. Und diese Idee ist dem Christentum tatsächlich, im Vergleich zu vielen heidnischen Religionen, ganz zentral zu eigen. Vielleicht lohnt an dieser Stelle der Hinweis, dass alles, was wir heute als Sozialfürsorge bezeichnen, in der Vormoderne von der Kirche übernommen wurde.
Cassandra schrieb:
Dabei sollte man aber den Individulisten nicht mit der Institution verwechseln.
Die Inquisition wurde nicht nur gegründet um christliche Dogemen zu verteidigen, sondern auch Dogmen zu definieren, aufzustellen und damit für Allegemeingültig zu erklären.
Damit hatte die Kirche großen Einfluss auf die Sozialisation der Gesellschaft, und somit ist die Hexenverfolgung auch ein kirchlichen Phänomän.
Als Kirchenmitglied konnte man zwar dagegen sein, hatte aber in der Gesamtheit nur eine individuelle, und damit geringe Bedeutung.
Hexenverfolgung war kein kirchliches Dogma! Vielmehr fanden dort, wo die Inquisition eine nennenswerte Rolle spielte, nämlich in Spanien und Italien, kaum Verfolgungswellen statt. Wie oben bereits gesagt spielte die Kirche durchaus ihre Rolle bei der Konstruktion der fatalen Vorstellung einer Hexenverschwörung als teuflischer Sekte und diese Ideen hatten maßgeblichen Anteil an den späteren Verfolgungen, aber die Entwicklung dieser Ideen war ein Wechselspiel verschiedenster gesellschaftlicher Akteure, die sich gegenseitig beeinflussten und befruchteten. Aber das Konzept der Hexe als teuflischer Verschwörerin war nur eines in dem breiten Angebot von Weltdeutung, das die Kirche ihren Gläubigen zur Verfügung stellte. Eine dogmatische Verpflichtung zur Hexenverfolgung gab es nicht. Das soll aber keinesfalls negieren, dass verbreitete kirchliche Meinung nicht auch ohne Dogma Einfluss auf die Gesellschaft ausübte, aber hier hing es letztlich wirklich am Individuum, welchem klerikalen Einfluss der Gläubige ausgesetzt war, eher skeptisch-zurückhaltendem oder eher rigoros-eiferndem.
Die Inquisition wurde nicht nur gegründet um christliche Dogemen zu verteidigen, sondern auch Dogmen zu definieren, aufzustellen und damit für Allegemeingültig zu erklären.
Erst durch die Inquisition kam es zu neuen Definitionen und Festschreibungen, auf deren Grundlage die Massen mobilisiert werden konnten.
Das stimmt so nicht. Die Inquisition war ausführendes Organ, hatte exekutive bzw. judikative Funktionen wahrzunehmen. Sie definierte und dogmatisierte nichts. Allerhöchstens schrieb sie bestimmte Verfahrensnormen ihrer Arbeit fest. Für Festlegungen in puncto Glaubenslehre waren andere kirchliche Institutionen zuständig. Und dass die Inquisition die Massen mobilisieren konnte, bezweifele ich auch.