Der Archäologe Haus-Joachim Gehrke hält die Behauptungen Raoul Schrotts für anregend; aber unwissenschaftlich.
KÖLNER STADT-ANZEIGER, 5.1.08
Herr Gehrke, der Schriftsteller und habilitierte Komparatist Raoul Schrott glaubt, Homer endlich ein „Zuhause" gegeben zu haben. Was wissen Historiker von der geschichtlichen Person Homer?
HANS-JOACHIM GEHRKE: Wir wissen, dass wir nichts Sicheres wissen, Seit den Zeiten von Christian Gottlob Heyne und Friedrich August Wolf, also seit jetzt über 200 Jahren, können wir nicht einmal sicher sein, ob es sich bei dem Dichter von Iliias und Odyssee überhaupt um eine Person handelte. Eben darin besteht die „Homerische Frage". Es gibt nach wie vor ernstzunehmende Wissensehaftler, die an verschiedene Autoren oder Sänger bzw. Versatzstücke denken (die so genannten Analytiker), an einen oder zwei Autoren der beiden Epen (Unitarier), oder die eine vermittelnde Position einnehmen wie die der Neo-Analyse, so der Freiburger Gräzist Wolfgang Kullmann. Alle haben für ihre Position gewichtige Argumente, die nicht leicht von der Hand zu weisen sind.
Laut Schrott soll Homer, der Dichter von Bias und Odyssee, kein blinder Seher, sondern ein vereidigter Schreiber der Assyrer gewesen sein. Was spricht für diese kühne These?
Gehrke: Nichts. Zunächst müsste man die Argumente der Analytiker schlüssig widerlegen, weil man ja von einem Autor ausgeht. Als Schriftsteller und Übersetzer hat Raoul Schrott wichtige Beobachtungen zur literarischen Struktur der Ilias gemacht, wie sie auch schon seit längerer Zeit von verschiedenen Forschungsrichtungen vorgetragen werden. Greg Nagy aus Harvard beispielsweise, ein exzellenter Philologe, sieht das ganz anders. Vor allem aber ergibt sich aus den Epen selbst, dass sie ganz fest in der frühgriechischen Welt verankert sind und dort einen richtigen „Sitz im Leben" haben: Der Autor bzw. die Sänger waren dort gedanklich-mental zu Hause und bezogen sich eng auf ihr Publikum und dessen Wertehorizont. In diesem wie in den Epen sind auch orientalische Einflüsse wichtig, aber dass diese unmittelbar aus orientalischer Hand stammen, lässt sich nicht nachweisen. Sie sind über allgemeine Kulturkontakte vermittelt, und dabei mag Kilikien eine Rolle gespielt haben, worauf Schrott ja durch meinen Innsbrucker Kollegen Robert Rollinger hingewiesen wurde.
Entbrennt nun in der Wissenschaft ein neuer Kampf um Troja? Oder entpuppt sich Schrotts Homer als historischer Roman, als Fiktion?
GEHRKE: Ich habe zwar in dieser Hinsicht schon vieles erlebt, aber das kann ich mir doch nicht vorstellen. Wenn ich das bisherige Werk Schrotts richtig verstehe, dann geht es ihm nicht zuletzt um gelehrte Literatur, also auch um ein Spiel an der Grenze von Wissenschaft und Dichtung, von Faktizität und Fiktionalität, wenn man so will. Das kann reizvoll sein, überschreitet aber die Grenzen wissenschaftlicher Methodik. Mit dieser ist Schrott als Komparatist und poeta doctus vertraut, aber er liefert eigentlich noch mehr, und das würde ich denn doch eher als anregende Belletristik lesen.
Angenommen, Schrott hätte recht. Müssten wir die Wurzeln unseres Kulturkreises nicht auch anders verorten und uns als Kinder des Orients betrachten?
GEHRKE: Unabhängig von Schrotts Ideen ist in den letzten Jahren dank einer wachsenden Zahl wichtiger Studien das Bewusstsein dafür gewachsen, dass die griechische Kultur sehr stark von den Kulturen des Nahen Orients, einschließlich Ägyptens, geprägt wurde. Insofern gehört auch dieser zu unserem Kulturkreis. Man darf aber dabei nicht übersehen, dass die Griechen die vielfältigen Anregungen nicht einfach weitergereicht, sondern ganz eigenständig umgeformt haben.
Auch gegenwärtige Debatten werden mit Rückgriff auf die Wurzeln Europas geführt. Sind diese, abgesehen von Schrotts These, so präzise anzugeben? Sind wir in unserem Denken Erben der Griechen und ihrer Kultur?
GEHRKE: Selbstverständlich spielt die griechische Kultur -neben anderem - eine große Rolle für die Prägung Europas. Sie wirkte in diesem Sinne aber im wesentlichen durch ihre Texte, Erzählungen und Bilder, die aus ganz verschiedenen Regionen des Mittelmeergebiets stammen. Man kann die Wurzeln also nicht in einer bestimmten Region konkret verorten.
Laut Schrott passen Homers Landschaftsbilder nicht in die Troias. Ist Kilikien kein geeigneter Ort?
GEHRKE: „Homer" passt, wie schon angedeutet, in eine mediterrane Landschaft. Manche Ortsangaben sind realistisch, andere gehören in eine Fabelwelt: Wollte man die Ilias anhand der Landschaftsbilder präzise lokalisieren, müsste man unterstellen, dass ihr Autor bzw. ihre Autoren einen präzisen Bericht liefern wollten. Es handelt sich aber um ein episches Kunstwerk.
Wie ist es mit dem Strand von Besike? Schrott meint, dass sich hier niemals so viele Schiffe an Landziehen ließen, wie Homer es beschreibt.
GEHRKE: Hier gilt dasselbe: Wenn „Homer" ein reales Ereignis konkret beschrieben hätte, könnte man seine Angaben gegebenenfalls an der Realität messen, wie das im Übrigen schon der griechische Historiker Thukydides gemacht hat. Dann muss man aber auch an die übermenschliche Kraft der Helden glauben oder an die Zauberin Kirke usw. „Homer" war weder Berichterstatter noch Geschichtsschreiber, sondern eben Sänger und Dichter.
Schrott behauptet, viele Mosaiksteinchen gesammelt zu haben, die ein Gesamtbild ergeben. Reicht das aus? Welche methodischen Anforderungen stellt die Altertumswissenschaft, bevor sie von Erkenntnis spricht?
GEHRKE: Einzelne Mosaiksteine allein - zumal wenn sie nur in spärlicher Zahl vorliegen - machen noch kein Gesamtbild. Methodisch gesehen müssen alle erreichbaren Daten und Informationen angemessen erfasst und Widersprüche zwischen ihnen ausgeräumt werden. Das ist im Falle „Homers" eine gigantische Aufgabe, die allenfalls in geduldiger interdisziplinärer Arbeit unternommen werden kann. Im Anschluss daran muss man all diese häufig nicht ganz eindeutigen Sachverhalte, gerade auch solche, die den eigenen Hypothesen zu widersprechen scheinen, in ein Gesamtbild zu integrieren versuchen, das diesen Sachverhalten keine Gewalt antut und in sich logisch und historisch stimmig ist, also in einer konkreten Zeit wenigstens denkbar. Insofern bleibt solche synthetische Erkenntnis immer eine Theorie, die freilich nicht von vornherein unstimmig ist. Das gilt im übrigen nicht nur für die Altertumswissenschaft.
Das Gespräch führte Michael Hesse