Ich musste erst meine Aufzeichnungen dazu zusammensammeln, deshalb antworte ich euch allen auf einmal
Ich bin gerade dabei ein Buch über die Geschichte des Londoner "Bethlehem Hospital" besser bekannt als "Bedlam", zu lesen. Bedlam war die Anstalt, oder eher der sichere "Verwahrungsort", in der die Stadt Geisteskranke und vermeintlich Geisteskranke untergebracht hat. Nun frage ich mich wie auf dem europäischen Festland und andernorts mit psychatrischen Patienten verfahren wurde, und bin dabei in erster Linie an den eigentlichen Institutionen und dem wissenschaftlichen Verständnis, also der Entwicklung der modernen Psychatrie, interessiert.
Die Forschung zur Geschichte des Umgangs mit psychischen Erkrankungen steckt quasi noch in den Kinderschuhen und ist sehr deutlich vom jeweiligen Zeitgeist und der Kultur geprägt, da es von der Gesellschaft abhängt, was "normal" und was "nicht normal" ist und v.a. wie mit diesem "nicht normal" umgegangen wird. Während psychisch Kranke im Mittelalter noch größtenteils integriert waren bzw. zumindest im Familienbund versorgt wurden, begann mit der Renaissance sukzessive auch die Ausgrenzung von psychisch Erkrankten aus der Gesellschaft. Entweder wurden ausgewiesen oder wurden in sog. "Narrentürme" oder "Dollhäuser" eingeschlossen. Diese Entwicklung verstärkte sich noch mit der einsetzenden Aufklärung. Psychisch Kranke erfuhren immer mehr eine Gleichsetzung mit "Asozialen", also bspw. Bettlern, Prostituierten, Landstreichern etc. Dementsprechend wurden psychisch Kranke auch oft in Zuchthäuser oder Verwahrhäuser eingeliefert und nicht selten angekettet (traurige Berühmtheit hat hier Pinel, der im revolutionären Frankreich 1793 "die Irren" von den Ketten befreit).
Wie sah es mit dem Verständnis und der Behandlung psychatrischer Fälle aus?
Wirklich "behandelt wurde im hinterfragten Zeitschnitt kaum, meist wurde in der Tat nur weggesperrt. William Battie war der erste, der eine vollwertige psychiatrische Einrichtung gründet (1751 mit dem St. Luke's Hospital in London übrigens als Gegenentwurf zu Bedlam) und auch entsprechend versucht zu behandeln und zwar ohne den Einsatz eher zweifelhafter Methoden, wie Schläge oder gar Folter (allerdings erlebte das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit diversen Stromtherapien nochmal ein kurzes aber erschreckendes Revival). Von Battie stammt auch das erste psychiatrische Lehrbuch im engeren Sinne: "Treatise on Madness".
In London war im genannten Zeitrahmen die Humoralpathologie oder Viersäftelehre Grundlage der Medizin, und so wurde auch Geisteskrankheit als Ungleichgewicht der vier Elemente verstanden, woraus sich auch die entsprechenden Behandlungen erschliessen, wie zum Beispiel Aderlass.
Nicht immer. Dafür muss es sich um psychische Erkrankungen handeln, die erst im Laufe des Lebens auftreten, alles Angeborene fällt damit schon raus. Hinzu kommen zahlreiche Krankheiten, die nicht als psychische Krankheiten erkannt wurden, weil sie zu wenig offensichtlich auftreten, bzw. aufgrund der Symptomatik anderen Krankheitsbildern zugeordnet wurden. Immerhin gab es im 17. und 18. Jahrhundert noch keine Psychologie.
In England hat sich anscheinend im Rahmen der Aufklärung das Verständnis von Geisteskrankheiten langsam verändert und sich wegbewegt von einer Strafe Gottes, oder einem Zeichen für Hexerei, beziehungsweise Bessessenheit durch Dämonen.
Das ist eine Ausprägung des Umgangs mit psychischen Erkankungen, die erst im ausgehenden Mittelalter gehäuft auftritt und in der Tat sehr parallel zur Hexenverfolgung abläuft. Hier waren es auch eher die auffälligen und sich in einem sozialen Sinne negativ äußernden Krankheitsbilder, die zu einer Verfolgung führten, wohingegen während der Aufklärung die Ausgrenzung bzw. das Wegsperren psychisch Kranker deutlich umfassender (bzgl. der Krankheitsbilder, die auch als solche erachtet wurden) war.
Stattdessen hat man sich um eine wissenschaftlich-medizinische Betrachtung bemüht, und nach effektiven Behandlungen gesucht.
Das würde ich erst ab Bettie, also ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ansetzen.
Infolgedessen wurden im Bedlam verstorbene Patienten seziert, auf der Suche nach physischen Erklärungen, und hat langsam von brutaleren "Heilmethoden" begonnen abzusehen - eine Tracht Prügel wurde zeitweise als die beste Behandlung betrachtet.
Ich kenne das Buch nicht, das du aktuell liest, allerdings ist Bedlam bei mir als die "Klapse aus dem Horrorfilm" vorbelegt. Eine Veränderung erfuhr Bedlam doch erst durch das positive Vorleben von St. Luke's, oder täusche ich mich da?
Gab es auf dem Kontinent vergleichbare Bestrebungen und Entwicklungen? Wie sah es mit dem medizinischen Verständnis aus?
Die Unterschiede sind da nur marginal. Vergleichbar zu Bedlam in London, wäre auf dem Kontinent der Narrenturm in Wien (auch so eine "Klapse aus dem Horrorfilm" :red
Das medizinische Verständnis der psychischen Erkrankungen setzte erst Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts ein und bis es sich durchgesetzt hatte, sind wir längst im 19. Jahrhundert (selbst dann nur als bekannte Disziplin - die Akzeptanzprobleme ziehen sich eigentlich bis heute, aber das steht dann wirklich auf einem anderen Blatt, welches wohl nicht hier im Geschichtsforum abzuheften ist).
Welche Institutionen gab es? Neben dem Bedlam gab es auch noch eine Reihe privater Anstalten, die angeblich zumeist noch schlechter geführt waren als die von der City of London bezahlte und verwaltete, und in dem Ruf standen das dort mit Vorliebe unliebsame Ehefrauen und Verwandte untergebracht wurden, die keineswegs unter psychatrischen Störungen litten.
Genau das ist ja einer der springenden Punkte bei psychischen Erkrankungen, wir sprechen nicht von den Windpocken, man sieht sie nicht, behauptet ist schnell und gerade mit der juristischen Möglichkeit der Entmündigung tut sich da durchaus ein Aktionsfeld auf. Und wenn ich mich recht entsinne gab es die juristische Möglichkeit der Entmündigung Pi mal Daumen ab dem 18. Jahrhundert.
Gab es ähnliche "staatliche" und private Anstalten?
Neben dem bereits genannten Narrenturm in Wien und der grundsätzlichen "Verwahrmöglichkeit" in Zuchthäusern hatte jede größere Stadt ein "Tollhaus", auch wenn man hier von einer wirklichen Behandlung noch weit entfernt war. Oft fehlte es gar an grundlegender Versorgung.
Wurden in reichen Familien die Kranken ebenfalls eher privat im eigenen Heim versorgt? Spielten in katholischen Ländern verschiedene Orden eine Rolle in der Sorge um psychatrische Patienten?
Psychisch Erkrankte aus wohlhabenderen Kreisen wurden zwar nicht in die sädtischen Tollhäuser gesteckt und waren daher in aller Regel besser versorgt, allerdings stand hier auch mehr das Wegsperren und damit auch Verstecken im Vordergrund als eine Behandlung. Die Unterteilung in "Heilbar" und "Unheilbar" die in ihren Anfängen fast schon willkürlich war, kam auch erst Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts auf, so dass zumindest versucht wurde in irgendeiner Form zu therapieren. Von bestimmten Orden wäre mir jetzt nichts präsent, ich schau aber nochmal nach.
Bei den Quellen habe ich manchmal ein Problem damit zwischen geisteskranken und geistig behinderten Menschen die zeitgenössische Differenzierung auszumachen. Oder gab es die nicht?
Die gab es nicht. Wie bereits gesagt, konnten aufgrund der damaligen Entwicklung der Medizin (die Psychologie gab es damals noch nicht als Disziplin) nur ein Bruchteil der psychischen Erkankungen überhaupt diagnostiziert werden, einige psychische Erkrankungen waren auch gesellschaftlich anerkannt (man beachte nur einen Werther, der eindeutig manisch-depressive Züge trägt), so dass eine Behandlung gar nicht indiziert war, bzw. wurden auf andere Ursachen zurückgeführt.
Wobei gerade das Sonderbare oder Abwegige m.E. anhand von Hogarths Werken schon immer eine Faszination für ihn bedeutete.
Nicht nur Hogarths auch Goya hat die "Casa de Locos" gemalt, was ähnlich bedrückend wirkt:
Ich weiß nicht ob er Bedlam je besucht hat, kann es mir aber durchaus vorstellen, da der Besuch der Anstalt als Freizeitvergnügen galt, und Hogarth selbst stellt in dem Stich, weiter hinten zwei weibliche Besucherinnen dar. Einlass kostete einen penny oder zwei, also sicher durchaus für ihn erschwinglich.
Das ist auch kein Alleinstellungsmerkmal für Bedlam, die Narrentürme unt Tollhäuser waren durchaus Ausflugsziele für den Sonntag Nachmittag, fat vergleichbar zu einem stationären Kuriositätenkabinett.
Meines Wissens maß Mesmer seiner Behandlungsmethode des "animalischen Magnetismus" sozusagen eine allumfassende Wirkung bei.
Mesmer ist eine ganz eigene Baustelle, die fast mal einen eigenen Thread lohnen würde. Ich möchte ihn auch nicht zu 100% in die Scharlatanschublade stecken, immerhin beeinflusste er mit seinem animalischen Magnetismus doch die ein oder andere Teildisziplin der Psychologie.
Zum Lesen habe ich auch noch ein bisschen was:
Als bedeutenster deutschsprachiger Autor zur Geschichte der psychischen Erkrankungen gilt
Klaus Dörner, von ihm kann ich "Bürger und Irre" sowie "Krieg gegen die psychisch Kranken" empfehlen. Konkret zum 17. und 18. Jahrhundert passt auch Michel Foucault mit "Wahnsinn und Gesellschaft - eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft".