Die Hausarbeit soll weder ein Tadel sein, noch allzu apologetisch wirken, aber sie soll klar machen, dass es in diesem Fall nicht so einfach ist, das Verhalten der Beteiligten als entweder nur "korrupt" oder nur "patrimonial" zu bezeichnen (so sehe ich das jedenfalls, zum Beispiel würden wir es heutzutage als korrupt empfinden, wenn uns ein Beamter von der Stadtverwaltung sagen würde "Ja, ihren Personalausweis bekommen sie dann in 3 Monaten...es sei denn, sie hätten da was für mich" - was, laut einer Quelle von Leroy-Beaulieu damals in Russland fast schon normal gewesen sein soll - OK, das hat mit Patronage dann auch eher weniger zu tun, eher mit der Frage nach Korruption). Ich finde es besonders interessant, dass es auf die Perspektive ankommt.
In der aktuellen Korruptionsforschung wird das Thema unter verscheidenen Aspekten untersucht:
Zunächst einmal ist es wichtig, zwischen wirklich vorhandener Korruption (engl. "corruption occurence" oder 'payment") und Korruptionsperzeption (engl. "corruption perception") zu unterscheiden. Die effektive Korruptionshäufigkeit ist schwer messbar. Von Schmiergeldempfängern kann man sowieso nur unter extremen Sonderbedingungen zutreffende Aussagen erwarten - selbst bei weitgehender gesellschaftlicher Akzeptanz von Korruption kann eine Angabe, man selbst hätte Schmiergelder empfangen, immer noch dazu führen, dass andere (die "Chefs") daraufhin 'ihren Anteil' einfordern. Schmiergeldgeber neigen ebenfalls dazu, eigene Schmiergeldzahlungen nicht oder nur zum Teil anzugeben, weil sie durch die Schmiergeldzahlung ja häufig einen Wettbewerbsvorteil erhalten haben. Insofern ist bei allen direkten Aussagen zur Korruptionshäufigkeit mit erheblicher Unterschätzung des wirklichen Ausmasses zu rechnen.
Ergänzend benötigt man also indirekte Abschätzungsmöglichkeiten, z.B. über die Analyse von Korruptionsfolgen (siehe u.a. meinen längeren Beitrag weiter oben).
Ein wesentliches indirektes Abschätzungsinstrument ist die Messung der
Korruptionsperzeption. Dies geschieht typischerweise über Fragen wie: "Stimmen sie folgender Aussage zu: In meiner Branche ist es üblich. Schmiergelder für xyz an Institution ABC zu zahlen". Ergänzend dazu wird gerne gefragt: "Sind von Ihnen schon einmal Schmiergelder für xyz von Institution ABC verlangt worden". Analytisch werden dann sowohl die Ergebnisse für jede Einzelfrage, als auch das Antwortverhältnis untersucht. Letzteres gibt einen Eindruck zur
Korruptionsakzeptanz, der durch weitere Fragen (z.B. "Ist Korruption ein wesentliches Problem für ihre wirtschaftliche Tätigkeit?") untermauert werden kann.
Einen guiten Überblcik über verwendete Instrumente, mit vielen Länderbeispielen, bietet die folgende Publikation der Weltbank
WBI Governance & Anti-Corruption - Governance Diagnostic Surveys (Step-by-Step Guide). Kapitel 2.1 enthält auch schöne Beispiele zur Messung / Verbreitung von Postenkauf ("Patronage"?), z.B. 60% beim albanischen Zoll, 48% beim georgischen Zoll (leider fehlt die Angabe des Jahres der entsprechenden Messung).
Vermutlich wird man für das Russland des 19. Jh. keine systematischen Umfragen zum Thema Korruption finden, sondern eher anekdotische Evidenz. Dennoch solltest Du versuchen, analytisch zwischen berichtetem Korruptionsausmaß, Korruptionsperzeption und Korruptionsakzeptanz zu unterscheiden, entsprechende Quellenbefunde sauber den einzelnen Indikatoren zuweisen, und in der Analyse dann auf die Aussagekraft, aber auch die Grenzen der Befunde eingehen.
Zweitens hat die aktuelle Korruptionsforschung gezeigt, dass es bei Korruption auch innerhalb eines Landes starke Unterschiede zwischen einzelnen Institutionen geben kann. Beispielsweise berichteten im Weltbank/EBRD "Coutries in Transition Survey" für Russland 2006(
http://www.ebrd.com/downloads/research/economics/lits.pdf, S.73) 33% der befragten
Haushalte von Schmiergeldzahlungen an die Verkehrspolizei, aber nur 18% von Schmiergeldzahlungen an Polizisten im Zusammenhang mit anderen, nicht verkehrsbezogenen Aufgaben. Ich selbst habe in einer Untersuchung in einem spezifischen Regierungsbezirk eines Nachfolgestaats der ehemaligen UdSSR Unterschiede in der
Korruptionsperzeption bei
Unternehmen zwischen 49% Schmiergeldannahme (Wirtschaftspolizei - Produktfälschungen, Autoschmuggel etc.) und 22 % (Arbeitsschutz / Lebensmittelhygiene) festgestellt.
Insofern sollte man sich hüten, Aussagen zu Korruption in einzelnen Dienststellen (z.B. Ausweiserstellung) zu verallgemeinern. Erst wenn man eine belastbare Anzahl von Befunden für verschiedene Dienststellen und verschiedene Gruppen ('Normalbevölkerung', Unternehmen, Inländer vs. Ausländer etc.) hat, ist verallgemeinernde Schlussfolgerung sinnvoll und möglich.
Drittens finde ich die Unterscheidung zwischen "systemischer" und "spontaner" Korruption sinnvoll. Systemische Korruption vollzieht sich innerhalb der bereits in Vorbeiträgen beschriebenen Korruptionspyramiden, geht also typischerweise einher mit Patronage und/oder Postenkauf, und beinhaltet ein "Weiterleitungssystem" für Schmiergelder von 'unten' an die Spitze der Pyramide. Bei Korruptionsperzeption in der Größenordnung von 50%, vielleicht auch schon ab 35%, würde ich immer von systemischer Korruption ausgehen. Ein weiteres Anzeichen für systemische Korruption ist weitgehendes Fehlen lokaler/ regionaler Unterschiede in zentralstaatlichen Dienststellen (Zoll, Finanzämter, Polizei, etc.).
Im Gegensatz dazu entsteht spontane Korruption durch einzelne Amtsträger, die sich ein generell korruptionsförderndes Umfeld (hohe Korruptionsakzeptanz der Bevölkerung, schwache Sanktionierung von Korruption) zu Nutze machen, vielleicht auch einfach sich bietende Gelegenheiten ("Können Sie nicht mal ein Auge zudrücken?") ergreifen. Korruptionsperzeption unter/ bei 20%, niedrige Korruptionsapzeptanz für die fragliche Dienststelle, eventuell auch eine relativ hohe "Kundenzufriedenheit" bzw. Verwaltungseffektivität sind typische Anzeichen für spontane Korruption. Zum Beispiel bezeichneten in meiner vorerwähnten Untersuchung 91% der befragten Unternehmen die Mitarbeiter des Hygieneamtes (Arbeitsschutz/ Lebensmittelhygiene) als fachlich kompetent, bei der Wirtschaftspolizei waren dies nur 52%. Ergo: Hygieneamt = spontane Korruption, Wirtschaftspolizei = systemische Korruption. [Die Wirtschaftspolizei wurde übrigens, während die Auswertung meiner Studie noch lief, von der nationalen Regierung weitgehend entmachtet, d.h. sie verlor alle direkten Sanktionsbefugnisse wie Beschlagnahmungen etc., die stattdessen dann Gerichtsbeschluss erforderten.]
Ich hoffe, diese Hinweise sind für deine Arbeit hilfreich.